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Free AccessEditorial

Schulische Inklusion

Ideal und Wirklichkeit

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000857

Einleitung

Die Corona-Pandemie hat die Schule aus dem Gleichgewicht gebracht. Wie sich der Unterricht unter massiven Einschränkungen aufrechterhalten und gestalten lässt, welcher psychische und soziale Preis dafür zu entrichten ist, wann endlich wieder eine Normalität eintritt – das sind zentrale Themen geworden, hinter denen viel andere verblassen.

So auch die schulische Inklusion, die jedoch als Aufgabe fortwährt. Seit 2009, dem Jahr der Ratifizierung der UN-Behindertenrechtskonvention, wird die gemeinsame Beschulung in den einzelnen Bundesländern ausgebaut und damit eine Entwicklung fortgesetzt, die die Kultursministerkonferenz bereits 1993 eingeleitet hatte. Sofern pädagogisch vertretbar, sollte eine gemeinsame Beschulung den Vorrang haben, damals noch im Namen der Integration.

Die Vorteile einer gemeinsamen Beschulung lassen sich leicht beschreiben. Kinder mit und ohne Behinderung kommen miteinander in Kontakt, sie lernen sich intensiv kennen und verlieren an Fremdheit, was für beide Seiten gewinnbringend sein kann. Eine gegenseitige Anerkennung wird möglich, der Toleranzrahmen erweitert sich. Doch nicht nur im Sozialen, auch auf der Leistungsebene kann sich ein positiver Ertrag einstellen, indem sich unterschiedliche Kinder gegenseitig unterstützen und die Leistungsschwächeren von den Stärkeren profitieren. Zugleich besteht die Hoffnung und Erwartung, dass auch eine behinderungsspezifische Förderung im inklusiven Rahmen besser gelingt.

Ebenso wie jede andere Beschulungsform muss sich auch die inklusive Beschulung nach ihren Erfolgen fragen lassen. Nach dem, was sie leistet, und danach, was sie nicht vermag. Davor können keine noch so hehren Ideale schützen und keine moralischen Postulate, die sie für alternativlos erklären. Die häufig aufgestellte Behauptung, die inklusive Beschulung habe ihre Überlegenheit längst bewiesen, steht auf schwachen Füßen. Die empirische Forschungslage ist alles andere als eindeutig. Zwar finden sich zahlreiche Ergebnisse, die die Vorteile einer gemeinsamen Beschulung bestätigen. Aber eben auch solche, die das Gegenteil belegen. Viele Kinder profitieren von einer gemeinsamen Beschulung, andere aber nicht und für einige kann sie sogar schädlich sein. Marion Felder, eine deutsch-amerikanische Inklusionsforscherin, beklagt, dass kritische anglo-amerikanische Befunde hierzulande kaum zur Kenntnis genommen werden (Felder & Schneiders, 2016).

Die einzelnen Bundesländer unterscheiden sich in der „inklusiven Umsteuerung“ erheblich in der Geschwindigkeit, mit der schulstrukturelle Veränderungen erfolgen und – was noch wichtiger ist – in den sie leitenden Zielsetzungen. Das Land Bremen strebt eine nahezu vollständige Auflösung von Sonderschulen an, mit der bundesweit höchsten Inklusionsquote von 86 %. Bayern und Sachsen/Baden-Württemberg favorisieren hingegen ein „dual inklusives Schulsystem“ (Speck, 2019, S. 122), das Sonderschulen mit einschließt. Dementsprechend geringer fallen die Inklusionswerte aus. Sie liegen bei 28 und 35 % (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2020).

Dem liegen unterschiedliche Interpretationen der UN-Behindertenrechtskonvention zugrunde, aber auch divergierende Auffassungen zum Stellenwert empirischer Forschung. Für die einen steht unverrückbar fest: Eine Auflösung aller speziellen Einrichtungen wie Sonderschulen und -klassen sei zwingend erforderlich, nur das erlaube die Konvention, nur so könne das Menschenrecht auf Bildung durchgesetzt werden. Andere setzen einen anderen Schwerpunkt: Auch sie befürworten eine stärkere gemeinsame Beschulung, sehen aber in der bestmöglichen Förderung des einzelnen (behinderten) Kindes das oberste Gebot. Dazu müsste eine Angebotsvielfalt existieren. Auf spezielle Einrichtungen könne im Sinne des Kindeswohl nicht verzichtet werden.

Auch international wird über die richtige Interpretation der UN-Behindertenrechtskonvention gestritten, häufig mit hohem emotionalen Einsatz (Ahrbeck, Badar, Felder, Kauffman & Schneiders, 2018; Hornby & Kauffman, 2020; Kauffman, Badar, Felder, Ahrbeck & Schneiders, 2018). Deutschland ist für die Umsetzung der Behindertenrechtskonvention harsch kritisiert worden, vom UN-Fachausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen (2015) ebenso wie in nationalen Stellungnahmen (Committee on the Rights of Persons with Disabilities, 2016; Schumann, 2018). Die inklusive Umsteuerung erfolge hierzulande nur zögerlich, so lautet der Vorwurf, widerrechtlich werde an speziellen Einrichtungen festgehalten und der Inklusionsgedanke dadurch unterlaufen.

In einer gemeinsamen Stellungnahme (German Statement, 2015) von Bund und Ländern unter Federführung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales und unter Mitwirkung der Bundeskultusministerkonferenz wird dem entschieden widersprochen. Auch zukünftig soll ein Weg beschritten werden, der institutionelle Differenzierungen vorsieht und Sonderschulen erhält. Eine „Menschenrechtsverletzung“ wird darin ausdrücklich nicht gesehen. Im „German Statement“ (Absatz 11) heißt es: „Der Begriff ‚Segregation‘ hat eine starke negative Konnotation. Als Vertragsstaat ist Deutschland mit einer solchen Ansicht nicht einverstanden. Das Bildungssystem in Deutschland baut auf das natürliche Recht der Eltern auf, die Erziehung und Bildung ihrer Kinder zu bestimmen, das in Artikel 6 (2) des Grundgesetzes gewährleistet ist. Ein Bildungssystem, das den Eltern erlaubt, zwischen Inklusion in Regelschulen und Sonderschulen zu wählen, hält sich an diese Verfassungsgrundsätze.“ Auch wird auf die hohe Qualität der sonderpädagogischen Ausbildung verwiesen, die man in anderen Ländern vergeblich sucht (vgl. Lang, 2017).

Die Berliner Inklusionsstudie: AiBe

Nach wie vor fehlt es an soliden Langzeitstudien, die Entwicklungsverläufe kontinuierlich begleiten, kognitive, emotionale und soziale Effekte der Beschulung analysieren und sich mit der Frage beschäftigen, unter welchen Bedingungen eine inklusive Beschulung gelingen und woran sie scheitern kann.

Nunmehr liegen die Ergebnisse einer solchen Langzeituntersuchung vor, die von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie des Landes Berlin in Auftrag gegeben wurde („Anfangserfahrungen mit der Entwicklung der Inklusiven Schule in Berlin […] (AiBe)“, Ahrbeck, Fickler-Stang, Lehmann & Weiland, 2021). Diese Studie ist deshalb bemerkenswert, weil zwischen 2011 und 2017 fast 1300 Schülerinnen und Schüler aus 23 Grundschulklassen (in Berlin: Klasse 1 bis 6) und fünf Sekundarschulklassen der Stufen 7 bis 10 in jährlichen Erhebungen erfasst wurden. Die quantitative Datenerhebung bezog sich auf die kognitive Leistungsentwicklung, schulbezogene Einstellungen und Erfahrungen, die qualitative umfasste über 2000 leitfragengestützte Interviews. Befragt wurden Schülerinnen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Schulleitungen und Eltern. Durch die besondere Beachtung persönlicher Erfahrungen und Bewertungen sowie sozialer und emotionaler Prozesse unterscheidet sich die AiBe-Studie von anderen Untersuchungen. Die Freigabe zur Veröffentlichung erfolgte 2021.

Ein gelungenes soziales Miteinander ist ein zentrales Ziel der gemeinsamen Beschulung. In diesem Bereich stellen sich die besten Ergebnisse ein. Unterschiede zwischen Schülerinnen und Schülern werden in der Grundschule von den Kindern als weitgehend unproblematisch erlebt, Kinder mit Behinderungen nehmen keine Sonderrolle ein. Doch das gilt nicht einschränkungslos: Wer massive Verhaltensprobleme hat, gerät schnell an den Rand der Klasse, wird zum Außenseiter, erfährt kaum Anerkennung und wenig Verständnis. Die meisten Kinder berichten, dass sie insgesamt gern zur Schule gehen. Nur für eine kleine oft hochbelastete Gruppe von etwa 8 % trifft das zeitübergreifend nicht zu. Sie hat das Gefühl, in der Schule überhaupt nicht zurechtzukommen.

Im Sekundarbereich, der in Berlin mit der 6. Klasse beginnt, berichten die meisten Schülerinnen und Schüler ebenfalls von einem erfreulichen Klassenklima. Im Allgemeinen verfügen sie über ein positives Selbstkonzept und sie erleben sich als persönlich anerkannt. Für Kinder mit einem speziellen Förderbedarf, der in Berlin erst in der Sekundarstufe vergeben wird, gilt das weniger. Sie verspüren weniger Anerkennung, ihr Selbstkonzept ist geringer. Insbesondere in der 7. und 8. Klasse fallen ihre sozialen Integrationswerte deutlich ab, obgleich sie kein besorgniserregendes Ausmaß annehmen. Damit korrespondiert im außerschulischen Bereich, dass stärker beeinträchtigte Schülerinnen und Schüler nur schwer Anschluss finden. Private Einladungen für Kinder mit einer geistigen Behinderung finden sich kaum noch, auch wenn sich Lehrerinnen und Lehrer sowie Eltern nach besten Kräften darum bemühen. Das ist ein bedauerliches, aber nicht sonderlich überraschendes Resultat. Von einem gewissen Lebensalter an entwickeln sich Kinder und Jugendliche auseinander. Der Schule wird man dafür keinen Vorwurf machen können.

Testspezifische Vergleichsdaten zeigen, dass die kognitive Leistungsentwicklung im Grundschulbereich überwiegend im Durchschnittsbereich verläuft. Die zu Schulbeginn leistungsstärkeren Schülerinnen und Schüler halten ihr hohes Niveau, bei den anfangs leistungsschwächeren ändert sich der Status über die Zeit ebenfalls nicht. Die leistungsstärkeren fallen also nicht zurück, wie mitunter befürchtet wird. Die inklusive Beschulung erweist sich für sie insofern nicht als nachteilig, wobei offenbleibt, wie sie sich anderenorts entwickelt hätten. Eine andere große Hoffnung wird jedoch enttäuscht. Die schwächeren Schülerinnen und Schüler, die unteren 8 % der Leistungsskala, nähern sich nicht der Leistungsmitte an, sie verharren auf ihrem niedrigen Niveau. Die inklusive Beschulung führt zu keiner wesentlichen Leistungssteigerung. Das reichlich optimistische Versprechen, bisher gehemmte, anderenorts systemisch gefesselte Potenziale würden nunmehr inklusiv freigesetzt, läuft ins Leere. Dieser Befund deckt sich mit denen anderer Untersuchungen.

Ein überraschendes Ergebnis stellt sich zu Klassenwiederholungen ein. Konzeptgemäß können Kinder, die aus unterschiedlichen Gründen Entwicklungsrückstände aufweisen, in der Schuleingangsphase (Klassenstufe 1 und 2) ein Jahr wiederholen, ohne dass diese Zeit auf die gesamte Schulbesuchsdauer angerechnet wird. Diese Möglichkeit wurde immerhin bei 18 % der Schülerinnen und Schüler genutzt. Die erhoffte nachhaltige Entwicklungsverbesserung trat jedoch nicht ein. Weder auf der Leistungs- noch auf der sozial-emotionalen Ebene ließen sich zeitstabile Erfolge feststellen.

Für viele Lehrkräfte stellt die inklusive Beschulung eine große Herausforderung dar. Die Inklusionsidee wird zwar mehrheitlich befürwortet und grundsätzlich bejaht, gleichwohl sind viele Probleme absehbar, die sich vor Ort einstellen können. In der Berliner Studie hat sich im Untersuchungsverlauf eine immer stärkere Ernüchterung eingestellt. Das gilt ausdrücklich auch für diejenigen, die anfangs besonders überzeugt und zuversichtlich waren. Unter den gegebenen Bedingungen würde die große Mehrzahl der beteiligten Lehrkräfte den inklusiven Weg nicht noch einmal beschreiten. Nur zwei der insgesamt 28 Schulen, die in die Studie eingingen, wären freiwillig dazu bereit. Das ist ein dramatisches Ergebnis.

Als alles überragendes Thema erweist sich die unzureichende Rahmung der pädagogischen Arbeit. Es fehle an allzu vielem: An sonderpädagogischer Unterstützung, an Unterrichtsmaterialien, an Räumlichkeiten und an Zeit, um sich bei hoher Lehrverpflichtung den neuen Aufgaben zu stellen. Das führt zu der Sorge, dass die Lehrkräfte weder den behinderten noch den nichtbehinderten Schülerinnen und Schülern wirklich gerecht werden. Vor allem blieben diejenigen auf der Strecke, die besonders beeinträchtigt und auf eine intensive Förderung angewiesen sind. Die anstehenden Aufgaben lassen sich aus der Sicht der Berliner Lehrkräfte nur bewältigen, wenn die Ausstattung stimmt und sich die persönlichen Belastungen in vertretbaren Grenzen halten.

In anderen Bundesländern dürften sich die Verhältnisse günstiger darstellen und eine inklusive Umsteuerung leichter fallen. Das sollte nicht übersehen werden: Die gemeinsame Beschulung gelingt bereits jetzt vielerorts, auch wenn der Kräfteeinsatz oft hoch ist und die Grenzen des Möglichen anerkannt werden müssen, wie der eindrucksvolle Dokumentarfilm „Ich. Du. Inklusion“ von Thomas Binn (2017) zeigt.

Als Gelingensbedingungen werden in der AiBe-Studie genannt: ein gemeinsames Leitbild für die inklusive Arbeit, eine besonders engagierte Schulleitung, eine hohe persönliche Identifikation des Kollegiums mit der Inklusionsidee und langjährige pädagogische Vorerfahrungen, am besten in „integrativen“ Klassen. Wenn diese Voraussetzungen erfüllt sind, verläuft die Arbeit in einigen Klassen/Schulen erfolgreicher, obgleich auch hier Ausstattungsfragen vordringlich bleiben.

Problemfeld Verhaltensstörungen

Die größten Inklusionsprobleme bereiten Kinder und Jugendliche mit massiven Verhaltensstörungen, die in der Schule unter den Förderdarf emotional-soziale Entwicklung fallen. Das belegen zahlreiche nationale und internationale Untersuchungen, die AiBe-Studie stellt hierzu keine Ausnahme dar. Aufgrund ihres Störpotenzials stellen sie Lehrkräfte oft vor kaum lösbare Aufgaben, vor allem wenn sie in großen Klassen unterrichtet werden. Die üblichen pädagogischen Mittel versagen: In ihrem Verhalten sind diese Kinder schwer zu steuern und die tieferen Gründe ihres Erlebens lassen sich nur mühsam aufdecken. Oft bedarf es einer intensiven persönlichen Zuwendung, die viel Zeit erfordert, damit eine tragfähige pädagogische Beziehung entstehen kann. Der Leidensdruck, dem diese Kinder ausgesetzt sind, ist zumeist ganz erheblich, weil sie sich nirgends richtig verständlich machen können und überall auf Ablehnung stoßen.

Aufgrund des aktuellen Forschungsstands ist davon auszugehen, dass diese Gruppe von Kindern nicht durchgängig von einer gemeinsamen Unterrichtung profitiert. Gleichermaßen muss anerkannt werden, dass Mitschülerinnen und Mitschüler sowie Lehrkräfte nicht unbegrenzt belastbar sind. Mit Erträglichkeitsgrenzen ist zu rechnen. Eine zeitweise Unterbringung in speziellen Einrichtungen wird von den untersuchten Berliner Lehrerinnen und Lehrern für unerlässlich gehalten. Sie gilt geradezu als eine Bedingung dafür, dass die inklusive Beschulung nicht scheitert.

Eine für das Inklusionsgeschehen äußerst wichtige Frage betrifft die Diagnostik. Eine oft geäußerte große Befürchtung besteht darin, dass Kinder klassifiziert, etikettiert und dadurch letztlich stigmatisiert werden. Die inklusive Schule solle deshalb auf jede Art personenbezogener diagnostischer Festlegung verzichten, so lautet eine von prominenter Seite vorgebrachte inklusionspädagogische Forderung (Hinz, 2009). Das ist in gewisser Hinsicht nachvollziehbar. Niemand möchte auf einen Behinderungsstatus festgelegt und nur unter dieser Perspektive betrachtet werden. Auch gut gemeinte Sätze wie „Es ist normal, verschieden zu sein“, „Wir sind alle behindert“ oder „Geistigbehinderte gibt es nicht“ sollen diesem Zweck dienen. Sie wollen Behinderung in ein neues Licht stellen und dazu beitragen, dass Menschen mit Behinderung in die Mitte der Gesellschaft aufgenommen werden.

Gleichwohl sind diese Formeln problematischer als sie zunächst erscheinen. Sie können dazu führen, dass behinderte Kinder mit ihren speziellen Bedürfnissen und Nöten aus dem Blick geraten. Wenn nur noch die soziale Akzeptanz bedeutsam ist, geraten spezielle Förderbedürfnisse in den Hintergrund. Oder sie lösen sich ganz in der wohlgefälligen Formel auf, jedes Kind habe einen Förderbedarf. Behinderung wird dadurch versteckt, sie tritt dann nur noch als eine von vielen Diversitätsdimensionen in Erscheinung. Dederich (2013) befürchtet deshalb ein „Verschwinden der Menschen“ in der Inklusion.

Insofern ist die Auflösung der sonderpädagogischen Förderkategorien des Lernens, der sprachlichen und der emotional-sozialen Entwicklung kritisch zu sehen. Sie erfolgt inzwischen in vielen Bundesländern, unter anderem mit der Begründung, dass personenbezogene Kategorisierungen unterbleiben sollen. Stattdessen werden die Mittel systemisch vergeben, was verwaltungstechnisch Vorteile bringt, aber von dem einzelnen Kind abstrahiert.

An diesem Punkt sehen die befragten Berliner Lehrerinnen und Lehrer einen dringenden Veränderungsbedarf, der sich im Laufe der Untersuchung noch verstärkt hat. Dabei geht es ihnen um weit mehr als nur eine diagnostische Grobeinteilung. Sie wollen genau wissen, wie sich individuelle Problemlagen im schulischen Raum darstellen, unter welchen inneren Problemen Kinder mit einer Verhaltensstörung leiden, was ihnen strukturell fehlen könnte, ob Traumatisierungen vorliegen und wie sich ihre Beziehungsgestaltung infolgedessen verstehen lässt. Ein entsprechendes Fachvokabular halten sie – aus der jeweils präferierten Theorieperspektive – für unentbehrlich. Erst dann lasse sich zielgerichtet pädagogisch handeln. Damit können auch die Stillen, die Zurückgezogenen, die Ängstlichen stärker in den Fokus geraten, die ebenfalls hoch belastet sein können, aber oft wenig Aufmerksamkeit erfahren, weil sie sich nicht störend in den Vordergrund drängen.

Wichtige diagnostische Klärungen sind häufig nur mit kinder- und jugendlichentherapeutischer und -psychiatrischer Hilfe möglich. Zwischen psychischer Krankheit und schulischer Förderungsbedürftigkeit bestehen veritable Überschneidungen. Deckungsgleich sind beide Gruppen aber nicht, sodass differenzialdiagnostische Klärungen notwendig werden. Der sonderpädagogische Förderbedarf emotional-soziale Entwicklung zeichnet sich seit vielen Jahren durch den höchsten Zuwachs aller Förderschwerpunkte aus (Sekretariat der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland, 2020). Seelische Erkrankungen steigen nicht im gleichen Maße, wenn überhaupt. Nach Dornes (2012) bleibt ihr Anteil über die Jahrzehnte weitgehend konstant, wechselnde Erziehungsphilosophien und -praktiken ändern kaum etwas daran.

Es muss also andere Gründe dafür geben: Ein Faktor dürfte sein, dass heute offener zutage tritt, was früher stärker zurückgehalten und sozial kontrolliert wurde. Kinder treten mit ihren Besonderheiten deutlicher hervor, sie agieren ihre Probleme stärker aus. Zudem sind die pädagogischen Verhältnisse komplizierter geworden. Ursprüngliche Selbstverständlichkeiten sind ins Wanken geraten, sichernde und haltende Orientierungspunkte verloren gegangen. Individualisierung und Selbstentfaltung als leitende Schlagworte haben dazu geführt, dass Anpassungsleistungen eher zögerlich eingefordert werden. Mitunter scheint es fast so, als sei Erziehung zu einem Fremdwort geworden. Weitere überdauernde und zeittypische Erschwernisse für die kindliche Entwicklung kommen hinzu, aus dem häuslichen und sozialen Umfeld, zuletzt besonders in Folge der Corona-Pandemie. Das Gesamtbild stellt sich als hoch komplex, teilweise auch recht unübersichtlich dar (Ahrbeck, 2020).

Diese Ausführungen zeigen, dass die Schwierigkeiten, die bei einer inklusiven Umsteuerung entstehen, nicht nur auf die vielerorts unzureichenden Ausstattungen zurückzuführen sind. Es bestehen erhebliche konzeptionelle Unklarheiten hinsichtlich des Inklusionsbegriffs und der daraus abzuleitenden Ziele, des Behinderungsbegriffs und des hier nicht weiter diskutierten Umgangs mit der Leistungsdimension. Eines ist jedoch sicher: Inklusionsquoten allein geben noch keine Auskunft darüber, ob Inklusionsziele wirklich erreicht werden, indem sie zu einer umfassenden Verbesserung der Lebens- und Lernsituation von Kindern mit und ohne Behinderung führen. Und auch bei guter Ausstattung müssen die Grenzen des Möglichen und Sinnvollen gesehen werden, darauf verweisen nicht zuletzt die Kinder und Jugendlichen, die in ihrer emotionalen und sozialen Entwicklung besonders bedroht sind.

Literatur