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Open AccessÜbersichtsarbeit

Das pharmakologische Management kinder- und jugendpsychiatrischer Notfälle

Evidenz und Qualitätssicherung

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000833

Abstract

Zusammenfassung. Kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle sind häufig und stellen die beteiligten Ärztinnen und Ärzte vor besondere Herausforderungen, da eine erhebliche Gefahr für die Patient_innen oder Dritte unter Anwendung möglichst wenig invasiver Mittel abzuwenden ist. In diesem Kontext werden neben haltgebenden, deeskalierenden und psychotherapeutischen Optionen häufig auch pharmakologische Interventionen eingesetzt. Da ein Mangel an systematisch erhobenen Daten besteht, findet die pharmakologische Notfallbehandlung in der Kinder- und Jugendpsychiatrie regelhaft im off-label-Bereich statt. Vor dem Hintergrund der komplexen klinischen und rechtlichen Anforderungen an die Ärztinnen und Ärzte werden im vorliegenden Artikel praxisrelevante Hinweise insbesondere zum pharmakologischen Management von in der Praxis häufig auftretenden kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen wie akuter Suizidalität, akut psychotischem Erleben, Delir und Bewusstseinsstörungen sowie akuter Intoxikation und Alkoholentzugssyndrom gegeben. Weiterhin werden Maßnahmen zur Qualitätssicherung und Arzneimittelsicherheit diskutiert.

The Pharmacological Management of Emergencies in Child and Adolescent Psychiatry

Abstract. Emergencies in child and adolescent psychiatry are highly prevalent and often pose significant challenges to physicians, since substantial danger to the patient or others must be avoided through the application of largely moderate interventions. Besides using de-escalating strategies and exploiting psychotherapeutic options, the physician frequently employs psychopharmacological interventions. because of a lack of systematically assessed data, however, in emergencies in child and adolescent psychiatry most administrations of psychotropic drugs occur “off label.“ This review deduces practice-relevant recommendations for the pharmacological management of occurring child and adolescent emergencies such as acute suicidality, acute psychotic episodes, delirium, disorders of consciousness, acute intoxication, and alcohol withdrawal syndrome. We discuss the issue of quality and safety in pharmacological emergency strategies.

Einleitung

Die Häufigkeit kinder- und jugendpsychiatrischer Notfallvorstellungen im Rahmen von Krisensituationen hat in den letzten Jahren rasant zugenommen. Zahlen dazu liegen zumindest aus Nordamerika vor, wonach beinahe eine Verdoppelung zwischen 2001 und 2011 zu konstatieren ist (Carubia et al., 2016). Es stellt insbesondere in der ambulanten Vorstellung akut erkrankter unbekannter Patient_innen, aber auch bei krisenhaften Exazerbationen einer Symptomatik, z. B. auf kinder- und jugendpsychiatrischen Akut- und Aufnahmestationen, eine klinische Herausforderung dar, eine rationale und angemessene kinder- und jugendpsychiatrische Versorgung sicherzustellen (Newton et al., 2017). Im Rahmen solcher Notfälle und Krisensituationen gilt es insbesondere, Risiken für Patient_innen sowie für Mitarbeiter_innen oder Andere unter Anwendung möglichst wenig invasiver Mittel abzuwenden und gleichzeitig die Gefahr einer iatrogenen Schädigung der Patient_innen weitgehend zu minimieren (Kasper et al., 2013).

Typische Krisensituationen sind Erregungszustände mit ausgeprägtem aggressivem Verhalten, akute Suizidalität, ausgeprägte Formen der Anorexia nervosa oder auch akute Exazerbationen psychotischer Erkrankungen. Neben deeskalierenden verhaltensorientierten Maßnahmen, die zuvorderst die Sicherheit der Patient_innen und des Behandlungsteams gewährleisten sollen, spielen auch medikamentöse Behandlungsstrategien oft eine zentrale Rolle. Dabei befinden sich Ärztinnen und Ärzte, speziell auch bei einer Medikation gegen den Willen der Patient_innen, in einer besonders schwierigen Situation, wenn diese bei geringem Evidenzgrad für eine Notfallbehandlung außerhalb des Zulassungsbereichs (off-label) angewendet wird. Neben Fragen zur Patientensicherheit stellen sich für Ärztinnen und Ärzte auch Fragen zur rechtlichen Zulässigkeit der Behandlung, Fragen zu haftungsrechtlichen Aspekten sowie zum praktischen Vorgehen in Bezug auf Aufklärung und Dokumentation.

Der vorliegende Überblick gibt praxisrelevante Informationen zum Einsatz medikamentöser Behandlungsoptionen im kinder- und jugendpsychiatrischen Notfall. Speziell werden akute Suizidalität, akut psychotisches Erleben, Delir und Bewusstseinsstörungen sowie akute Intoxikation und Alkoholentzugssyndrom behandelt.

Die vorliegenden Empfehlungen beruhen auf einer selektiven Literaturrecherche und den klinischen Erfahrungen der Autoren (TV, MR) (vergl. auch Renner et al., 2016). Eine Evidenz zur Wirksamkeit der verschiedenen Behandlungsansätze aus kontrollierten Studien liegt aufgrund methodischer und ethischer Limitierungen weder bei Erwachsenen noch bei Kindern und Jugendlichen vor. Es existiert zwar eine S2k-Leitlinie im Erwachsenenalter (Messer et al., 2018), auf diese wird hier aber aus den folgenden Gründen nicht Bezug genommen: Zum einen unterscheiden sich die notfallmedizinisch relevanten psychiatrischen Erkrankungen und Störungsbilder. Zum anderen können Empfehlungen aus dem Erwachsenenbereich nicht pauschal übertragen werden, da sowohl die Symptomatik als auch die Angemessenheit und Wirksamkeit der Behandlungsansätze von Alter und Entwicklungsstand abhängen.

Jede therapeutische Intervention, insbesondere im off-label-Bereich, muss jedoch individuell entschieden und verantwortet werden. Die genannten Beispiele entbinden die ärztlichen Therapeut_innen nicht, etwaige Angaben über Dosierungsanweisungen und Applikationsformen im Einzelfall anhand anderer Literaturstellen sowie der aktuellen Fachinformationen auf ihre Richtigkeit zu überprüfen.

Grundsätzliche Aspekte bei kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen

In kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen besteht typischerweise eine unmittelbare Gefährdung für die Patient_innen selbst oder Dritte. Oft liegen diesen Notfällen Einschränkungen der Handlungskontrolle sowie der Einsichtsfähigkeit oder auch eine körperliche Unruhe oder Getriebenheit zugrunde. Insbesondere ausgeprägte Anspannungszustände können zu fremd- bzw. eigenaggressivem Verhalten (in Form von Selbstverletzung bzw. Suizidalität) führen. Bei Kindern und Jugendlichen treten Erregungszustände im Rahmen von Notfällen bei verschiedensten psychiatrischen Grunderkrankungen wie z. B. hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens, emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen, Intoxikationen mit Alkohol und auch psychotischen Episoden auf. Daneben finden sich krisenhaft verlaufende auto- und fremdaggressive Verhaltensweisen vielfach auch bei Patient_innen mit Intelligenzminderung.

Unabhängig vom vorliegenden Störungsbild wird die zuständige Ärztin bzw. der zuständige Arzt – anders als z. B. in einem „Regeltermin“– mit der betroffenen Patientin oder dem Patient sehr viel schneller in Kontakt treten, um sich möglichst rasch einen Überblick über die derzeitige Situation bzw. die Krankheitsgeschichte des Betroffenen zu machen. Zentral sollte dabei in solchen Krisensituationen die Erhebung der Beschwerden der Patient_in und eine aufmerksame Verhaltensbeobachtung sein. Sehr wünschenswert ist auch die Erhebung einer Fremdanamnese, wenn dies möglich ist. Es ist als wesentlich für den Erfolg einer Notfallbehandlung anzusehen, dass die Ärtin bzw. der Arzt der Patientin oder dem Patient in dieser kritischen Situation grundsätzlich respektvoll und verstehend gegenübertritt und damit die Wahrscheinlichkeit eines erfolgreichen weiteren Notfallmanagements deutlich erhöht. Das therapeutische Gespräch in den ersten Minuten der Erstbegegnung kann wesentlich die Behandlungseinsicht und die Bereitschaft der Patient_innen zur Kooperation verbessern. Anforderungen an Patient_innen sollten eindeutig, nachvollziehbar, empathisch und zielgerichtet erfolgen (vgl. auch Mavrogiorgou et al., 2011). Im Rahmen akuter Krisen ist es aufgrund der Notwendigkeit, schnell zu handeln, vielfach nur eingeschränkt möglich, im Sinne einer Verhaltensanalyse kausale Erklärungsmodelle für die Aggression oder der Verhaltensänderung zu generieren. Ist die Kausalität offensichtlich, beispielsweise zeitlich zusammenhängende äußere destabilisierende Faktoren, auslösende soziale Interaktionen oder körperliche Schmerzen, gilt es neben der unmittelbaren Gefahrenabwehr, diese Faktoren zu identifizieren und soweit möglich zu reduzieren.

Da Patient_innen in kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen naturgemäß häufig nur begrenzt krankheitseinsichtig und kooperationsbereit sind, kann es in Ausnahmesituationen auch notwendig sein, freiheitsentziehende Maßnahmen zum Wohl der Patient_innen einzusetzen. Dies gilt zum Beispiel, wenn eine unmittelbar notwendige Medikation wiederholt abgelehnt wird oder Patient_innen dieser nicht zustimmen können und dann eine medikamentöse Behandlung gegen den Willen der Patient_innen stattfindet.

Eine ganz besondere Herausforderung stellen in diesem Kontext im Umgang mit Kindern und Jugendlichen Sprachbarrieren dar (z. B. Migrationshintergrund). Dies bezieht sich sowohl auf die Schwierigkeit, z. B. anamnestische Daten und einen psychopathologischen Befund zu erheben, als auch auf die grundsätzlichen Möglichkeiten der Kontaktaufnahme (siehe oben) bzw. den Einsatz von psychoedukativen Elementen. Auch können Sprachbarrieren selbstredend ein Grund für eine fehlende Einwilligungsfähigkeit sein (siehe dazu bitte auch Akkaya-Kalayci et al., 2017; Möhler et al., 2015).

Typischerweise werden dabei sedierende Medikamente meist intravenös (i. v.) oder intramuskulär (i. m.) verabreicht. Bei der wiederholten Anwendung von freiheitsentziehenden Maßnahmen (z. B. in Form von Festhalten oder Fixierungen zur Gabe von Medikation gegen den Willen der Patientin bzw. des Patienten oder auch der Gabe einer primär auf eine Sedierung abzielende Medikation) sind die rechtlichen Vorgaben – insbesondere die des § 1631b BGB – zu beachten. Dabei besteht im Vergleich zur Rechtsgrundlage des PsychKG beim § 1631b BGB im Kindes- und Jugendbereich insbesondere der Vorteil, dass die Inhaber_innen der Personensorge Antragsteller einer freiheitsentziehenden Maßnahme sind und damit eine aktive Rolle in diesem Prozess spielen. Zudem werden die Rechte der Patient_innen durch die obligate Einbindung eines Verfahrensbeistandes und des Jugendamtes gestärkt. Aus diesem Grund sollte auch bei psychiatrischen Notfällen der § 1631b BGB bevorzugt werden, bzw. eine freiheitsentziehende Maßnahme auf Basis des PsychKG möglichst unmittelbar in den § 1631b BGB umgewandelt werden (für Details siehe auch https://www.kinderpsychiater.org/fileadmin/downloads/​bag/1631b-2017-BAGOAE-Internet.pdf). Da gemäß § 1631b BGB freiheitsentziehende Maßnahmen so definiert sind, dass diese an und für sich „über einen längeren Zeitraum oder regelmäßig“ angewendet werden, kann strenggenommen bei einer einzelnen freiheitsentziehenden Maßnahme auch auf einen entsprechenden Antrag auf Genehmigung beim Familiengericht verzichtet werden. Im klinischen Alltag hat es sich nach Ansicht der Autoren aber im Sinne von Transparenz und Rechtsicherheit bewährt, auch eine einmalige oder kurze Freiheitsentziehung (zum Beispiel im Rahmen einer Notfallbehandlung) dem Gericht zumindest anzuzeigen.

Allgemeine Hinweise zur psychopharmakologischen Notfallbehandlung

Auch wenn im Management von psychiatrischen Notfallsituationen die medikamentöse Intervention häufig im Vordergrund steht, sind die therapeutischen Elemente der Psychoedukation und Psychotherapie dennoch integrale Bestandteile des Gesamtkonzeptes der Behandlung (Gerson et al., 2019; Renner et al., 2016). Im Moment der Akutsituation und -medikation findet eine Begegnung mit einem unmittelbar hilfsbedürftigen Menschen statt. Im Management von eigen- und fremdaggressiven Situationen sind die Behandlungsmaßnahmen daher in keiner Weise gegen den Menschen gerichtet, sondern haben als Behandlungsziel Schutz sicherzustellen, die Symptomatik zu lindern sowie anschließend die Situation zu stabilisieren. Die medikamentöse Intervention ersetzt nicht die therapeutische und pflegerische haltgebende Zuwendung. Sie setzt im Gegenteil voraus, dass ausreichend Zeit für die Betreuung der Patient_innen vorhanden ist.

Insbesondere aggressive Erregungszustände von Patient_innen und Hilflosigkeit von Angehörigen bedingen oft einen hohen Erwartungsdruck gegenüber der Ärztin oder dem Arzt, eine rasche Entlastung in einer Krisensituation herbeizuführen. Zum Teil kann dann auch die starke Forderung gerade nach einer pharmakologischen Intervention durch die Angehörigen oder Mitglieder des Behandlungsteams entstehen. Andererseits kann aber ebenso - abhängig von persönlichen Überzeugungen und ggf. negativen Vorerfahrungen – insbesondere eine notfallmässige Medikation von Patient_innen und Sorgeberechtigten grundsätzlich abgelehnt werden. Dies gilt oft gerade dann, wenn im Vorfeld bei Patient_innen bereits unerwünschte Arzneimittelwirkungen (UAWs) aufgetreten sind oder sich eine pharmakologische Intervention als nicht erfolgreich erwiesen hat. Oft besteht dann auch bei den Angehörigen des Betroffenen eine skeptische Grundhaltung.

Die Grundlage für die Indikationsstellung hinsichtlich einer medikamentösen Behandlung ist generell eine sorgfältige Diagnosestellung, die sich aus ausführlicher psychiatrischer, pädiatrisch-internistischer und neurologischer Untersuchung zu ergeben hat. Dazu gehört die Erhebung eines psychopathologischen Befundes und – wenn möglich – einer (Fremd-)Anamnese. Insbesondere, wenn die Patientin oder der Patient nicht sprechen kann oder will, sind Angaben von Bezugspersonen für die Behandlungsentscheidung naturgemäß hilfreich. Jedoch ist die ausführliche Anamneseerhebung in Notfällen, insbesondere in Extremfällen mit stark fremdaggressivem Verhalten oder akuter psychotischer Symptomatik, aufgrund des hohen Handlungsdrucks nicht immer realisierbar.

Kann in der Notfallsituation aufgrund fehlender Krankheitseinsicht, eines akuten Erregungszustandes oder auch akuter Suizidalität eine Einwilligung der Patientin bzw. des Patienten nicht erreicht werden, und ist auch eine regelrechte Aufklärung zur Medikation nicht möglich, so ist die Überwachung der Befindlichkeit der Patientin bzw. des Patienten, insbesondere hinsichtlich der Wirkung und bezüglich UAWs, von besonderer Bedeutung.

Rechtliche Aspekte

Sind in einer Notfallsituation eine mutmaßliche Einwilligung* 1 oder der rechtfertigende Notstand (§ 34StGB* 2) gegeben, so ist eine indizierte ärztliche Behandlungsmaßnahme wie eine Medikation ohne Aufklärung und explizite Einwilligung straffrei möglich. In diesem Fall ist das Behandlungsvorgehen besonders sorgfältig zu dokumentieren. Nach einer Medikation im Notfall müssen baldmöglichst die Einwilligung und Aufklärung nachgeholt werden.

Die medikamentöse Behandlung psychischer Erkrankungen von Kindern und Jugendlichen erfolgt generell, also schon ohne Vorliegen eines Notfalls, vielfach ohne alters- oder indikationsbezogene Zulassung (Gerlach & Warnke, 2016; siehe auch Tabelle 2). Oft kann trotz dringender Indikation eine Behandlung daher nur off-label erfolgen. Daten aus dem angloamerikanischen Raum zeigen, dass insbesondere auch in kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen Neuro-/Psychopharmaka (oft z. B. Antipsychotika der zweiten Generation) fast durchgängig außerhalb des Zulassungsbereichs eingesetzt werden (Carubia et al., 2016). Auch in Deutschland werden sogenannte typische wie atypische Antipsychotika bei Kindern und Jugendlichen bei etwa 50 bis 70 % im off-label-Bereich verordnet.

Die Verordnung eines Medikamentes außerhalb eines Zulassungsbereiches kann aus ethischen Gründen erforderlich sein, wenn das Nutzen-Risiko-Verhältnis einer zugelassenen Medikation im Vergleich zu einer nicht zugelassenen verschlechtert ist. Entsprechend eines Urteils des Bundessozialgerichtes vom 19.03.2002 (Az.: B1 KR 37/00 R) ist die Verschreibung von Medikamenten auch außerhalb ihrer zugelassenen Indikation unter folgender Voraussetzung möglich: (1.) Eine schwerwiegende, lebensbedrohliche oder die Lebensqualität auf Dauer nachhaltig beeinträchtigende Erkrankung, für die keine andere Therapie verfügbar ist, liegt vor und (2.) aufgrund der Datenlage besteht die begründete Aussicht, dass ein kurativer oder palliativer Behandlungserfolg erzielt werden kann. Im Hinblick auf den letzten Punkt ist es günstig, wenn sich die behandelnde Ärztin bzw. der behandelnde Arzt auf Empfehlungen von Fachgesellschaften oder auf Ergebnisse von Konsensuskonferenzen berufen kann (Gerlach & Warnke, 2016; Kölch, 2016).

Oft gibt es auch Unsicherheiten bezüglich des Haftungsrechtes. Nach juristischer Auffassung ist davon auszugehen, dass der Hersteller für alle Schäden, die bei bestimmungsgemäßem Gebrauch eines Arzneimittels entstehen, haftet (Wartensleben, 2002). Der Begriff „bestimmungsgemäß“ umfasst demnach sowohl Indikationsangaben im Beipackzettel bzw. in Fachinformationen als auch wissenschaftlich allgemein anerkannte Therapiegewohnheiten, die nicht als Kontraindikationen ausgeschlossen werden (siehe dazu auch Gerlach & Warnke, 2016). Hinsichtlich wichtiger rechtlicher und ethischer Fragen, die bei der off-label-Verordnung von Neuro-/Psychopharmaka im Kindes- und Jugendalter zu beachten sind, sei auch auf die Arbeit von Kölch (2016) hingewiesen.

Psychopharmakologische Behandlungsstrategien

In der notfallpsychiatrischen Behandlung genügt es in der Regel, je ein Neuro-/Psychopharmakon folgender Substanzklassen zur Verfügung zu haben:

  • hochpotentes Antipsychotikum
  • niederpotentes Antipsychotikum
  • Benzodiazepin

Bei der individuellen Auswahl eines Medikamentes sind folgende Kriterien hilfreich:

  • Die Ärztin bzw. der Arzt ist mit dem Medikament hinsichtlich Dosierung, Applikationsart, Wirkung, UAWs und Wechselwirkungen vertraut,
  • die Medikation kann sowohl oral als auch parenteral verabreicht werden und
  • die Medikation sichert eine rasche Wirkung.

Hinsichtlich der Form der Applikation ist grundsätzlich eine orale Gabe den parenteralen vorzuziehen. Jedoch darf diese nicht zu einer Gefährdung des Personals durch nicht einsichtsfähige Patient_innen führen (hier: insbesondere durch Beißen). Bzgl. der parenteralen Anwendung sind unterschiedliche Aspekte abzuwägen. Während die i. v.-Gabe eine bessere Steuerung erlaubt, ist sie potenziell mit höheren Risiken durch die stärkere Anflutung verbunden (z. B. Atemdepression bei Benzodiazepinen, QTc-Zeit Verlängerung bei Antipsychotika). Die gluteale i. m.-Gabe hingegen kann als stärker stigmatisierend wahrgenommen werden und die „Steuerungsfähigkeit“ ist insgesamt schlecht. Es erscheint auch hier sinnvoll, nicht erst in der Krisensituation die Entscheidung über die Auswahl der parenteralen Applikationsform zu entscheiden, sondern dies z. B. im jeweiligen Behandlungssetting zu standardisieren (siehe auch unten).

In der klinischen Praxis kommen insbesondere Benzodiazepinen wie z. B. Lorazepam oder Antipsychotika zur Anwendung (Wilson et al., 2012). Benzodiazepine besitzen den Vorteil, dass sie sehr schnell ihre Wirkung entfalten und auch bei Vorerkrankungen und Polypharmazie in der Regel in der Kurzzeittherapie gut verträglich sind. Dabei ist zu beachten, dass sie insbesondere bei hoher Dosierung und intravenöser Gabe zur Atemdepression führen können. Deshalb sollten bei einer unklaren Intoxikation bzw. einer multiplen Intoxikation (bspw. Alkohol und andere Drogen) zur Sedierung niederpotente Antipsychotika vorgezogen werden (siehe auch unten). Hinsichtlich der in Deutschland verfügbaren Wirkstoffe, die neben Alkohol und Drogen psychiatrische Notfälle auslösen können, sei auf Botts und Ryan (2010) sowie Gören (2010) verwiesen.

Benzodiazepine sind aufgrund des hohen Abhängigkeitspotenzials im Wesentlichen nur kurzfristigen Kriseninterventionen vorbehalten.

Bei Kindern und Jugendlichen können Erregungszustände bei verschiedenen psychiatrischen Grunderkrankungen wie hyperkinetischen Störungen des Sozialverhaltens, emotional-instabilen Persönlichkeitsstörungen, Intoxikationen mit Alkohol und anderen Drogen sowie bei psychotischen Episoden auftreten. Im klinischen Alltag kommt es dabei nicht selten vor, dass eine sichere ätiologische Zuordnung zunächst nicht möglich ist. In diesen Fällen kann die Erstbehandlung nicht diagnosespezifisch, sondern lediglich symptomgeleitet erfolgen. Die in der Notfallsituation angewandte Medikation ist daher häufig als sogenannte “Übergangsmedikation“ anzusehen, deren primäres Ziel es ist, eine rasche Besserung bzw. Stabilisierung herbeizuführen, so dass im Anschluss die umfassende diagnostische Einschätzung erfolgen kann. Wichtig ist dabei, in der Verordnung und Dokumentation der eingesetzten Medikation eine Angabe zum weiteren Vorgehen zu treffen, in welcher Weise und wann diese Notfallmedikation überprüft bzw. verändert oder abgesetzt werden sollte oder ob sie als Bestandteil eines mittelfristigen therapeutischen Vorgehens geeignet erscheint. Gerade im Rahmen kinder- und jugendpsychiatrischer Notfälle kommt dabei auch der Dokumentation ärztlicher Maßnahmen eine zentrale Bedeutung zu (Tabelle 1).

Tabelle 1 Wichtige Inhalte der Dokumentation bei kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen

Bei akuten Erregungszuständen mit unklarer Anamnese wird ein Alkohol- und Drogenschnelltest empfohlen, da abhängig von einer eventuellen Intoxikation Kontraindikationen zu einem Medikament beachtet werden müssen (Holloman & Zeller, 2012; Wilson et al., 2012, siehe auch unten). In der Behandlung haben sich niederpotente Antipsychotika wie Pipamperon oder Levomepromazin bewährt. Dabei sind kardiovaskuläre sowie kreislaufbezogene UAWs mit orthostatischer Dysregulation mit Kollapsneigung zu beachten. Aufgrund der kardialen Wirkungen sind vor der Erstanwendung Blutdruck- und Pulswerte zu erheben und nach Medikation im weiteren Verlauf in regelmäßigen Abständen zu kontrollieren. Ergänzend sei auch auf den Expertenkonsens zur psychomotorischen Agitation bei Erwachsenen hingewiesen (Messer et al., 2017).

Eine Übersicht über mögliche pharmakologische Optionen im kinder- und jugendpsychiatrischen Notfall gibt Tabelle 2 (angelehnt an Gerlach et al., 2009).

Tabelle 2 Auswahl pharmakologischer Optionen im kinder- und jugendpsychiatrischen Notfall

Spezifische kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle

Akute Suizidalität stellt grundsätzlich einen Notfall dar und muss immer unmittelbar behandelt werden. Bei Kindern und Jugendlichen ist akute Suizidalität in vielen Fällen meist weniger Ausdruck eines expliziten Todeswunsches als vielmehr einer als subjektiv ausweglos empfundenen Situation. Oft kann gerade im Kindes- und Jugendalter eine Entlastung der Patient_innen auch ohne den Einsatz medikamentöser Strategien erreicht werden (vgl. Deutsche Gesellschaft für Kinder- und Jugendmedizin e. V., 2016; Jans et al., 2017). So erwies sich die „brief intervention“ der WHO in einer Metaanalyse als effektiv zur Reduktion von Suizidalität, wohingegen einige wenige randomisiert-kontrollierte Studien zu Lithium keinen signifikanten Effekt erbrachten (Riblet et al., 2017). Allerdings bezogen sich diese Daten auf Studien an Erwachsenen. Wichtigstes Ziel der Intervention ist dabei grundsätzlich, eine vorliegende hohe Eigengefährdung rasch zu verringern und eine Entlastung und Stabilisierung der Patient_innen zu erreichen (Plener et al., 2017). In schweren Fällen sind auch neuro-/psychopharmakologische Interventionsmöglichkeiten zu erwägen.

Für eine medikamentöse Unterstützung und Entlastung in der ungeklärten akuten Situation sind zur Anxiolyse Benzodiazepine (z. B. Lorazepam) und zur Sedierung niederpotente Antipsychotika (z. B. Melperon, Pipamperon oder Chlorprothixen) einsetzbar (Allen et al., 2005). Vor einer Medikation ist unbedingt zu überprüfen, ob eine Alkohol-, Drogen- oder Medikamentenintoxikation vorliegt, da in diesen Fällen die Gabe von Benzodiazepinen kontraindiziert ist (u. a. Gefahr der Atemdepression). Unter Medikation müssen in regelmäßigen Abständen die Vitalparameter (Puls/RR) erhoben, überwacht und dokumentiert werden (Gerlach et al., 2009).

Bei Erwachsenen mit Suizidgedanken führte der Einsatz von Ketamin nach einem systematischen Review, in dem neun Publikationen mit insgesamt 137 Patienten ausgewertet wurden, zu einer Reduktion der Suizidgedanken (Reinstatler & Youssef, 2015). Für die Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit Ketamin liegen jedoch keine Daten oder Erfahrungen vor, so dass eine Empfehlung daher zum aktuellen Zeitpunkt nicht gegeben werden kann. Die Langzeitbehandlung von Suizidalität ist auf die zugrundeliegende Erkrankung ausgerichtet. In der weiteren Behandlung ist bei der Verschreibung eines Präparates darauf zu achten, dass die verordnete Menge nicht für einen erneuten Suizidversuch ausreicht.

Akut psychotisches Erleben mit Halluzinationen und Wahnvorstellungen kann für die Patientin bzw. den Patienten, insbesondere bei paranoiden Inhalten, zu einem ausgeprägten Leidensdruck mit quälenden Wahrnehmungen und Todesangst führen. Nicht selten treten dabei auch suizidale Krisen und erhebliche Erregungszustände auf. Eine möglichst rasche psychopharmakologische Entlastung und anschließende Stabilisierung sind bei diesen Patient_innen indiziert und können oft zunächst nur pharmakologisch erreicht werden.

In der Akutbehandlung von krisenhaften Exazerbationen paranoid-halluzinatorischer Schizophrenie finden hochpotente Antipsychotika Anwendung, jedoch sind bei Jugendlichen Antipsychotika der zweiten Generation (z. B. Risperidon, Olanzapin, Quetiapin, Ziprasidon) zu bevorzugen. Es steht auch Aripiprazol als Antipsychotikum der dritten Generation zur Verfügung. Da Clozapin erst dann verordnet werden kann, wenn zuvor zwei andere Antipsychotika nicht ausreichend wirksam waren oder wegen schwerwiegender UAWs abgesetzt werden mussten, hat es im Rahmen der Notfallpsychiatrie keine große Bedeutung.

Tritt ein akuter Erregungszustand im Rahmen einer psychotischen Episode auf, ist die Gabe von hochpotenten Antipsychotika (z. B. Haloperidol) wirksam (Holloman & Zeller, 2012; Wilson et al., 2012) jedoch ist dabei zu berücksichtigen, dass bei Kindern und Jugendlichen unter Gabe von Antipsychotika der ersten Generation häufiger und in stärkerem Ausmaß als bei Erwachsenen extrapyramidal-motorische UAWs auftreten. Selten kann sich unter der Gabe von Antipsychotika auch das potenziell lebensbedrohliche maligne neuroleptische Syndrom entwickeln. Auch können Antipsychotika wie Haloperidol die Krampfschwelle senken. Hinsichtlich der Anwendung von Haloperidol ist insbesondere zu beachten, dass nach aktueller Fachinformation eine i. v.-Gabe nicht mehr erfolgen soll, und wenn, dann nur unter kontinuierlicher EKG- und Blutdruck-Kontrolle. Dies hat den Einsatz von Haloperidol weiter eingeschränkt und praktisch auf die orale sowie die i. m.-Gabe limitiert. Nach Experten-Konsensus ist aber unter Berücksichtigung von eventuellen Kontraindikationen ein Einsatz von Haloperidol in Kombination mit einem Benzodiazepin zur raschen Entlastung zur Behandlung von agitierten Erwachsenen zu empfehlen (Allen et al., 2005). Diese Kombination findet auch in der klinischen Praxis bei Jugendlichen Anwendung (siehe auch Tabelle 2). Neben der anxiolytischen Wirkung der Benzodiazepine ist hierbei auch die protektive Wirkung gegenüber epileptischen Anfällen von Vorteil. Grundsätzlich kann durch nahezu alle Antipsychotika eine Verlängerung der QTc-Zeit hervorgerufen werden, die eine EKG-Kontrolle erfordert. Kritisch können in Notfallsituationen daher insbesondere eine kardiale Vorbelastung oder seltene spezifische Dispositionen (z. B. long-QT-Syndrom) sein.

Alternativ stehen Antipsychotika der zweiten Generation (z. B. Olanzapin, Risperidon) zur Verfügung (Allen et al., 2005). In der Regel sind die leichter zu handhabbaren Arzneimittelformen wie Schmelztabletten (z. B. bei Olanzapin und Risperidon) oder parenteral zu verabreichende Formulierungen in Akutsituationen zu empfehlen. Eine häufig beobachtbare UAW ist eine Bradykardie mit und ohne Hypotonie, die eine regelmäßige Überwachung der Vitalparameter erforderlich macht.

Delir und Bewusstseinsstörungen können lebensbedrohlich sein und sich im klinischen Bild als Verwirrung, Somnolenz, Stupor oder Koma zeigen. Hierbei ist nach einer Notfallbehandlung eine ätiologische Klärung von höchster Wichtigkeit, um ggf. eine geeignete kausale Behandlung einzuleiten (z. B. Bewusstseinsstörung nach erstmalig aufgetretenen Grand-mal-Anfall und Initiierung einer antiepileptischen Medikation).

Aufgrund der Komplexität und Heterogenität des Krankheitsbilds liegen kaum systematisch erhobene Daten zur medikamentösen Behandlung des Delirs vor. Derzeit ist auch im Erwachsenenbereich kein Arzneistoff ausdrücklich zur Behandlung eines Delirs zugelassen. In einer der wenigen vorliegenden Studien konnten Breitbart und Kollegen (1996) zeigen, dass sowohl Haloperidol als auch Chlorpromazin ein Delirium effektiv lindern können, während dies mit dem Benzodiazepin Lorazepam nicht gelang. Unter den Antipsychotika scheinen Haloperidol, Risperidon, Olanzapin und Quetiapin vergleichbar wirksam und sicher zu sein (Übersicht bei Turkel & Hanft, 2014). Verhältnismäßig viele Studien liegen derzeit zum Haloperidol vor. Es wird zudem oft bevorzugt eingesetzt, da es relativ geringe anticholinerge und hypotensive Wirkungen hat, verhältnismäßig wenig sediert und nur eine geringe Anzahl von aktiven Metaboliten hat. Beim Vorliegen von ausgeprägter Erregung oder Verwirrtheitszuständen im Kindes- und Jugendalter kann daher die Anwendung Haloperidol indiziert sein.

Auch mittelpotente Antipsychotika werden adjuvant bei leichten Bewusstseinsstörungen eingesetzt. Speziell beim Alkoholdelir mit hohen Blutalkoholspiegeln werden ebenfalls hochpotente Antipsychotika der ersten Generation wie Haloperidol empfohlen. Im Kindes- und Jugendalter können dazu Dosen von 5–10 mg verabreicht werden. Wenn möglich sollte eine orale oder i. m. Gabe bevorzugt werden (siehe oben). Aufgrund der kardialen UAWs von Haloperidol werden im Kindes- und Jugendalter zunehmend die zuvor genannten Antipsychotika der zweiten Generation eingesetzt (Übersicht bei Turkel & Hanft, 2014). Benzodiazepine sollten nur bei unzureichender Wirkung von Antipsychotika oder aber beim Alkoholdelir eingesetzt werden, da zum einen die Evidenz für ihre Wirksamkeit fehlt und sie zudem selbst ein Delir – insbesondere bei Kindern auslösen können (Shaw, 1995; Schieveld et al., 2010; Trojan, 2014). Speziell beim Delir sind daher, abgesehen von der initialen Notfallmedikation, weitere psychopharmakologische Interventionen in der Regel sekundär. Im Erwachsenenalter werden nach den britischen Leitlinien des National Institute of Excellence (NICE) Benzodiazepine nur bei einem Delir aufgrund eines Substanzentzuges empfohlen, nicht aber bei anderer Genese (NICE, 2010).

Akute Intoxikationen sind oft durch Enthemmung, Stimmungslabilität sowie auch Aggressivität gekennzeichnet und werden typischerweise von Konzentrationsstörungen, einer eingeschränkten Urteilsfähigkeit sowie Bewegungs- und Bewusstseinsstörungen begleitet. Ein grundsätzlich wichtiger Aspekt ist die Klärung, welche Substanz(en) in welchen Mengen eingenommen worden sind. Häufig bietet es sich dabei an, frühzeitig auch Körperflüssigkeiten (Blut, Urin, Speichel) (z. B. bei Verdacht auf eine Intoxikation mit Gammahydroxybuttersäure [GHB]) zu asservieren. Aufgrund der Vielzahl potenziell toxischer Stoffe sei für weitere Details speziell hinsichtlich Diagnose und Behandlung von Intoxikationen mit psychoaktiven Substanzen auch auf die Arbeit von Pianca und Kollegen (2017) verwiesen.

Gerade Alkoholintoxikationen haben in den letzten Jahren im Kindes- und Jugendalter („Komasaufen“, „Kampftrinken“) deutlich zugenommen (Pianca et al., 2017; Stolle et al., 2009). Im Rahmen der ersten Untersuchung der Patientin bzw. des Patienten sollte versucht werden, Daten bezüglich der konsumierten Menge Alkohol und dem Zeitpunkt der Einnahme zu erheben, um abschätzen zu können, ob die Symptome der Intoxikation in den nächsten Stunden eher zu- oder abnehmen werden. Auch der Atem- oder Blutalkoholgehalts sollte erhoben werden.

Bei der Behandlung von Ruhelosigkeit, Agitation und psychomotorischer Erregung durch eine Alkoholintoxikation hat sich vor allem Haloperidol i. m. oder p. o. bewährt, da es eine verhältnismäßig niedrige Interaktion mit Alkohol zeigt (siehe auch oben). Problematisch ist allerdings die erhöhte Gefahr für epileptische Anfälle, wenn durch eine Medikation mit Antipsychotika die Krampfschwelle weiter gesenkt wird. Der Einsatz von Benzodiazepinen sollte aufgrund der Gefahr einer Atemdepression vermieden werden.

Alkoholentzugssyndrom

Allgemein tritt ein Entzugssyndrom in der Regel nach der Unterbrechung bzw. Reduzierung eines Drogenkonsums auf und ist unter anderem durch Übelkeit, Schweißausbrüche, Unruhe, Schlafstörungen, eine erhöhte Herzrate und Fieber charakterisiert. In schweren Fällen können auch Halluzinationen und Krampfanfälle auftreten. Aufgrund der Vielzahl an Substanzen können sich die Symptome einer spezifischen akuten Intoxikation zum Teil erheblich voneinander unterscheiden.

Die Schwere der Symptomatik eines Alkoholentzugssyndroms ist im Jugendalter aufgrund der typischerweise kürzeren Krankheitsdauer zumeist milder als bei Erwachsenen. Andererseits reagieren Jugendliche oft viel ängstlicher auf Symptome eines Entzugssyndroms, was wiederum zu einer Aggravation der Symptomatik und sogar suizidalen Krisen führen kann (Stohler et al., 2014).

Da Benzodiazepine im Erwachsenenalter typischerweise eingesetzt werden, um die Symptome eines Alkoholentzuges effektiv zu mindern, wird diese Substanzgruppe auch bei betroffenen Jugendlichen eingesetzt, auch wenn systematisch erhobene Daten zur Wirksamkeit hier fehlen (Chang & Steinberg, 2001). Zudem reduzieren sie das Risiko eines Deliriums und erhöhen die Krampfschwelle. Vor allem Benzodiazepine mit kurzer Halbwertszeit wie Oxazepam und Lorazepam sind zu bevorzugen, da sie weniger akkumulieren und typischerweise zu einer geringeren Sedierung führen.

Clonidin und Carbamazepin werden oft bei mäßig starken Alkoholentzugssyndrom eingesetzt, da vor allem Clonidin vegetative Symptome abschwächt, während Carbamazepin die Gefahr von epileptischen Anfällen reduziert. Insofern sollte insbesondere Carbamazepin bei betroffenen Patient_innen mit einer epileptischen Vorgeschichte eingesetzt werden. Sowohl Clonidin als auch Carbamazepin wirken sich negativ auf ein Delirium aus und können mit Benzodiazepinen kombiniert werden (Stohler et al., 2014).

Schließlich werden bei adulten Patienten auch Opioidantagonisten eingesetzt, um z. B. das „Craving“ (hier: starkes Verlangen nach Alkohol) zu reduzieren. Es liegen dazu zwar vereinzelte Beschreibungen zum Einsatz bei Jugendlichen vor, generell ist die Wirksamkeit von Opioidantagonisten allerdings bei ihnen bisher nicht systematisch untersucht worden (Clark et al., 2002; Renner et al., 2016).

Das Vorgehen bei kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen mit primär pharmakologischer Indikation ist zusammenfassend in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1 Flussdiagramm zum Vorgehen bei kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen. Abkürzungen: QTC = corrected; QT-interval

Qualitätssicherung

Im Dilemma zwischen der störungsimmanenten Gefährdung der Patientin oder des Patienten selbst bzw. anderer, dem niedrigen Evidenzgrad für eine notfallmäßige Verordnung von Neuro-/Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychiatrie und der Abwägung komplexer rechtlicher Bedingungen stellt sich auch die Frage, welche Möglichkeiten bestehen, Maßnahmen der Qualitätssicherung zu etablieren. Grundsätzlich empfiehlt es sich, für den jeweiligen Zuständigkeitsbereich ein detailliertes Konzept über den Ablauf des Notfallmanagements für die Versorgung betroffener Patient_innen (z. B. Standard Operating Procedures „SOPs“) zu erarbeiten, um der Komplexität kinder- und jugendpsychiatrischer Notfälle und dem damit einhergehenden zeitlichen Handlungsdruck begegnen zu können. Auch sollten die Mitarbeiter_innen aller Erfahrungsstufen bezüglich der organisatorischen Abläufe und der konkreten Verhaltensweisen im Umgang mit dem Patient_innen und den Angehörigen in Notfallsituationen geschult werden, z. B. hinsichtlich des Einsatzes eines Stufenschemas, welches bei Eskalationen zunächst niederschwellige Maßnahmen vorsieht, bevor es bis zu Freiheitsentzug und Zwangsmedikation kommt. Im Nachgang kritischer Situationen ist es erforderlich, im Sinne der Qualitätssicherung die Krisensituation und die Reaktion des Behandlungsteams nachzubesprechen und kritisch zu bewerten. In besonderen Situationen kann es erforderlich sein, eine externe Supervision beizuziehen. Die aus der Somatik entlehnten Morbiditäts- und Mortalitätskonferenzen stellen eine nützliche Struktur dar, um in einem festgelegten Prozedere potenzielle Fehler zu detektieren, offen zu besprechen, in der Folge Abläufe zu optimieren und die Qualität der Notfallversorgung stetig zu verbessern (vgl. auch https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/QS/M_Mk.pdf). Wesentlich ist hierbei eine Kommunikationskultur zu entwickeln, die es ermöglicht, mit Fehlern offen umzugehen.

Die Formalisierung des Vorgehens in Notfallsituationen kann allerdings die grundsätzlichen Defizite der psychopharmakologischen Behandlung nicht kompensieren. Im Hinblick auf die angesprochenen pharmakologischen Interventionen fehlen grundsätzlich standardisiert und systematisch erhobene Daten bezüglich Wirksamkeit und Sicherheit. Da keine Daten aus klinischen bzw. Zulassungs-Studien für die Anwendung in Notfallsituationen vorliegen, sind systematisch erhobene Daten aus der klinischen Praxis für die Entwicklung von Standards im Fach wichtig. Andererseits sind auch individualisierte Strategien erforderlich, um die Sicherheit der Patientin bzw. des Patienten zu gewährleisten.

Eine sinnvolle Strategie, um proaktiv die Arzneimittelsicherheit (Pharmakovigilanz) bei der Verordnung von Neuro-/Psychopharmaka in der Kinder- und Jugendpsychiatrie zu gewährleisten, ist die Anwendung von therapeutischem Drug-Monitoring (TDM) (Gerlach et al., 2016). Grundsätzlich versteht man unter TDM die Messung und Interpretation von Arzneistoffkonzentrationen im Blut unter gleichzeitiger systematischer Beobachtung der klinischen positiven wie negativen Therapieeffekte (Hiemke et al., 2018). Mittels TDM wird eine Maximierung der therapeutischen Response durch Anpassung der Arzneistoffkonzentration innerhalb eines therapeutischen Bereichs und gleichzeitig eine Minimierung von UAW und Toxizitätsrisiko durch Vermeidung von Konzentrationen über dem therapeutischen Bereich angestrebt (Unterecker et al., 2019). Zusätzlich können pharmakokinetische Abweichungen durch Interaktionen, Adhärenzmangel oder Verstoffwechselungsprobleme aufgedeckt werden (dosisbezogener Referenzbereich) (Fekete et al., 2019). Allerdings fehlen bis heute therapeutische Referenzbereiche für Minderjährige, so dass sich an den Referenzbereichen für Erwachsene orientiert werden muss. Informationen zur praktischen Durchführung und zur deutschlandweiten Einsendung von Proben sind über die Homepage des TDM-Speziallabors der Univ. Klinik Würzburg jederzeit abrufbar (Arbeitsgruppe TDM Würzburg [2021], https://www.ukw.de/psychiatrie/schwerpunkte/therapeutisches-drug-monitoring-tdm/) .

In speziellen klinischen Fragestellungen kann eine Blutabnahme in der Notfallsituation zur Bestimmung des Medikamentenspiegels (TDM) im Nachhinein dazu genutzt werden, die Ätiologie der Notfallsituation aufzuklären oder Daten zur Wirksamkeit der Behandlung und Entwicklung von Standards zu erheben. Beispielsweise bei den Fragestellungen:

  • Führte ein Adhärenzmangel zur Notfallsituation?
  • Führte eine Überdosierung eines Neuro-/Psychopharmakons zur Notfallsituation?
  • Führte eine Wechselwirkung oder eine pharmakokinetische Besonderheit zur Notfallsituation?

So kann TDM beispielsweise zur Klärung beitragen, ob ein Patient mit Schizophrenie und akuten psychotischen Symptomen die Dauermedikation mit einem Antipsychotikum nicht regelmäßig oder gar nicht eingenommen hat oder es sich, trotz guter Adhärenz, um eine Exazerbation der Grunderkrankung handelt. Die Beantwortung dieser Frage beeinflusst dann im weiteren Verlauf maßgeblich die weiteren Therapieschritte insbesondere bezüglich des pharmakologischen Vorgehens.

Zur besseren Veranschaulichung und zur Interpretation der Ergebnisse wird in der klinischen Praxis die 9-Felder-Tafel angewendet (siehe Abbildung 2).

Abbildung 2 Anwendung von TDM in der Praxis: die 9-Felder-Tafel (modifiziert nach Greiner,a 2010).

Zusammenfassung und Ausblick

Kinder- und jugendpsychiatrische Notfälle sind für die Betroffenen ebenso wie Angehörigen erheblich belastend. Für das Personal in den Abteilungen stellen sie zudem oft große Hausforderungen dar, wenn es Gefährdungen von Patient_innen und Dritten schnell einschätzen, Therapieoptionen abwägen und rechtliche Vorschriften berücksichtigen muss. In diesem Kontext ist insbesondere der geringe Evidenzgrad für pharmakologische Interventionen einhergehend mit der Verordnung einer notfallmäßigen Pharmakotherapie im off-label Bereich bei der Behandlung von Kindern und Jugendlichen als kritisch anzusehen. Insgesamt ist die Evidenzlage hinsichtlich des Vorgehens in kinder- und jugendpsychiatrischen Notfällen ungenügend (Carubia et al., 2016; Janssens et al., 2013). Probleme bestehen dabei bereits bezüglich der Erhebung verlässlicher Daten, da der „kinder- und jugendpsychiatrischen Notfall“ per se in der Literatur nicht klar definiert ist. Randomisiert-placebokontrollierte Studien sind in akuten Krisensituationen ethisch nicht vorstellbar, zumal die Einwilligungsfähigkeit der Patient_innen oftmals nicht gegeben und ein Vorenthalten von Hilfe nicht vertretbar ist. Gegebenenfalls könnten vergleichende Studien durchgeführt werden, allerdings sind auch dann die ethischen und praktischen Hürden hoch und die Aussagekraft fraglich.

Vor diesem Hintergrund ist eine psychopharmakologische Medikation im Notfall einerseits kritisch zu hinterfragen, andererseits darf Kindern und Jugendlichen in schweren Krisensituationen mit oft erheblicher emotionaler Belastung eine wirksame und indizierte Hilfe nicht vorenthalten werden. In gestuften Interventionsschemata sollte stets deeskalierenden und haltgebenden Interventionen der Vorrang gegenüber anderen intensiveren und invasiveren Maßnahmen gegeben werden. Grundsätzlich ist zu fordern, dass in der Niederlassung wie in klinischen Strukturen standardisierte Behandlungsabläufe für krisenhafte Akutsituationen definiert und geschult werden. Für die pharmakologische Notfallbehandlung ist es nicht erforderlich, detaillierte Kenntnis über viele verschiedene Substanzen jederzeit abrufbar zu halten, sondern vielmehr eine bewusste und rationale Fokussierung auf einzelne Präparate vorzunehmen und deren Indikation, Dosierung, Applikation und Sicherheitsmanagement im jeweiligen Setting zuverlässig zu kennen und zu beherrschen. Die im Rahmen dieses Artikels genannten Substanzen sind insofern als mögliche Vorschläge für die Erstellung einer SOP zu betrachten. Angesichts der insuffizienten Datenlage ist es wesentlich, sich auf die Präparate zu beschränken, mit deren Anwendung die jeweilige Therapeutin bzw. der jeweilige Therapeut vertraut ist. Um die Risiken für die uns anvertrauten jungen Menschen zu minimieren ist jede Vermeidung einer Medikationsgabe durch vorausschauende deeskalative Maßnahmen anzustreben. Ist die Gabe indiziert und muss diese im Sinne der Patient_innen erfolgen, so muss neben den erforderlichen Dokumentations- und Aufklärungspflichten insbesondere der Vermeidung iatrogener Beeinträchtigungen durch UAW mittels genauer Monitorierung sowie Maßnahmen der Pharmakovigilanz begegnet werden.

Die Anwendung von TDM stellt auch in kinder- und jugendpsychiatrischen Notfallsituationen ein wichtiges Instrument der Arzneimittelsicherheit bei einer Therapie mit Psychopharmaka dar. Gerade bei der off-label-Behandlung der jungen Patient_innen in diesen kritischen Situationen sollten alle zur Verfügung stehenden Möglichkeiten der Pharmakovigilanz ausgeschöpft werden, um die größtmögliche Arzneimittelsicherheit zu gewährleisten.

Literatur

1 Für Details zu rechtlichen Aspekten der Einwilligung siehe auch http://rechtskunde-online.de/inhalte/themen-strafrecht/einwilligung/

2§ 34 Rechtfertigender Notstand: „Wer in einer gegenwärtigen, nicht anders abwendbaren Gefahr für Leben, Leib, Freiheit, Ehre, Eigentum oder ein anderes Rechtsgut eine Tat begeht, um die Gefahr von sich oder einem anderen abzuwenden, handelt nicht rechtswidrig, wenn bei Abwägung der widerstreitenden Interessen, namentlich der betroffenen Rechtsgüter und des Grades der ihnen drohenden Gefahren, das geschützte Interesse das beeinträchtigte wesentlich überwiegt. Dies gilt jedoch nur, soweit die Tat ein angemessenes Mittel ist, die Gefahr abzuwenden.“