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Open AccessOriginalartikel

Lessons Learned – Beobachtungsstudie nach einem Jahr Sprechstunde «Häusliche Gewalt» am Universitären Notfallzentrum Bern

Published Online:https://doi.org/10.1024/1661-8157/a003727

Abstract

Zusammenfassung. Die Zahl der Gewaltdelikte im Bereich häuslicher Gewalt steigt seit 2011 in der Schweiz kontinuierlich an. Das Universitäre Notfallzentrum Bern UNZ etablierte im November 2018 eine standardisierte Betreuung von Betroffenen von häuslicher Gewalt mit einer integrierten Nachkontrolle. In der vorliegenden retrospektiven Studie sind die Resultate sowie Herausforderungen ein Jahr nach der Einrichtung der Spezialsprechstunde zusammengetragen. Von den 53 primär im Notfallzentrum aufgrund HG behandelten Personen wurde 69,8 % (n = 37) ein Nachkontrolltermin angeboten. Spezifischen Subgruppen wurden weniger oft Nachkontrolltermine angeboten. Es zeigte sich, dass trotz Handlungsanleitung und Schulungen nicht alle Betroffenen gleich wahrgenommen werden.

Lessons Learned – Observational Study After One Year of ’Domestic Violence Consultation’ at the University Emergency Department Bern

Abstract. The number of violent crimes in domestic violence has been steadily increasing in Switzerland since 2011. In November 2018, the University Emergency Department Bern established standardized care for victims of domestic violence with an integrated follow-up. In this retrospective study, the results one year after the establishment of the special consultation hour as well as the challenges are presented. Of the 53 individuals primarily treated at the emergency department for domestic violence, 69.8 % (n = 37) were offered a follow-up appointment. Specific subgroups were less likely to be offered follow-up appointments. It became apparent that despite instructions for action and training, not all affected groups were perceived in the same way.

Résumé. Le nombre de crimes violents dans le domaine de la violence domestique est en constante augmentation en Suisse depuis 2011. En novembre 2018, le service universitaire des urgences de Berne a mis en place un système de soins standardisés avec un suivi intégré pour les victimes de violence domestique. Les résultats ainsi que les défis un an après la mise en place de la consultation spéciale sont résumés dans la présente étude rétrospective. Sur les 53 personnes traitées essentiellement au service universitaire des urgences pour violence domestique, 69,8 % (n = 37) se sont vues proposé un rendez-vous de suivi. Certains sous-groupes spécifiques étaient moins susceptibles de se voir proposé des rendez-vous de suivi. Il en découle que, malgré les instructions d’action et la formation, toutes les personnes concernées ne sont pas perçues de la même manière.

Im Artikel verwendete Abkürzungen

HG Häusliche Gewalt

IQR Interquartiler Range

KIS Klinikinformationssystem

PKS Polizeiliche Kriminalstatistik

PolG Polizeigesetz des Kantons Bern

UNZ Universitäres Notfallzentrum, Inselspital Bern

VMU Violence Medical Unit

Hintergrund und Fragestellung

Die Inzidenz der Gewaltdelikte im Bereich der Häuslichen Gewalt (HG) stieg in der Schweiz zwischen 2011 und 2019 um 22 % an (2011: 187 vs. 2019: 229/100 000 Einwohnende) [1, 2, 3]. Alle zwei Wochen stirbt eine Person als Folge von HG [1]. Neben dem persönlichen Leid der Betroffenen führt HG zu hohen volkswirtschaftlichen Kosten. Eine vom Eidgenössischen Büro für Gleichstellung von Mann und Frau in Auftrag gegebene Studie schätzte 2013 die durch HG verursachten direkten Kosten auf jährlich 164–280 Millionen CHF, wobei 21 % (35 Millionen) auf das Gesundheitswesen entfallen [3]. Gemäss des Jahresberichts 2018 der Kantonspolizei Bern waren bei 22 % der jährlichen Interventionen bei HG medizinische Massnahmen notwendig [4]. Studien aus dem medizinischen Betreuungsfeld von HG sind rar. Es ist davon auszugehen, dass somatisch tätige Ärztinnen und Ärzte jährlich durchschnittlich eine bis drei Betroffene von HG betreuen [5, 6]. Hostettler-Blunier et al. veröffentlichten 2018 die schweizweit erste retrospektive Studie, die medizinische Daten zu HG einer universitären Notaufnahme über zehn Jahre aufarbeitete. Diese zeigte, dass etwa 1 von 1000 Notfallkonsultation am UNZ aufgrund von HG stattfanden [7]. Zusammenfassend unterstreicht dies die Notwendigkeit geschulter Primärversorger_innen im Gesundheitswesen in der Betreuung der von HG Betroffenen. Aufgrund dessen wurde im November 2018 im UNZ die Sprechstunde für Betroffene von HG eingerichtet. Die Betroffenen werden im UNZ nach dem Übergriff nach standardisiertem Vorgehen primär notfallmedizinisch betreut (Abb. 1). In der Spezialsprechstunde werden anschliessend die physischen Folgen nachkontrolliert und sowohl aktuelle als auch zurückliegende Taten nach einem standardisierten Dokumentationsbogen dokumentiert. Zusätzlich werden in Anlehnung an das Hague-Protokoll [8] Kindesschutzmassnahmen eingeleitet. Das Ziel dieser Studie ist es, den Bedarf einer spezialisierten Sprechstunde sowie Herausforderungen bei der Einführung einer solchen aufzuzeigen. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob sich Unterschiede in verschiedenen Subgruppen bezüglich Frage nach einem Sprechstundentermin sowie Annahme des Angebots aufzeigen lassen, was wiederum einen Einfluss auf die Schulung und gegebenenfalls Anpassung der Handlungsanleitung haben könnte.

Abbildung 1 Flow-Chart Betreuung Betroffener von HG am UNZ.

Methodik und Analyse

Studiendesign

Die vorliegende Studie ist eine retrospektive Kohortenstudie von Notfallpatient_innen, die sich nach einem Vorfall von HG zwischen dem 1. November 2018 und dem 31. Oktober 2019 im UNZ vorgestellt haben.

Such-/Ein- und Ausschlusskriterien

Alle Akten von Patient_innen, die während des Studienzeitraums am UNZ behandelt wurden, wurden auf die Stichworte «Häusliche» und «Gewalt» durchsucht. Die erhaltenen Krankenakten wurden manuell gescreent. Eingeschlossen wurden volljährige Patient_innen des UNZ mit einem Vermerk von HG im Klinikinformationssystem (KIS) von E.care (E.care bvba, Turnhout, Belgien). Als Definition der HG wurde die Definition der polizeilichen Kriminalstatistik (PKS) gewählt: «Unter häuslicher Gewalt wird die Anwendung oder Androhung von Gewalt unter Paaren in bestehender oder aufgelöster ehelicher oder partnerschaftlicher Beziehung, zwischen Eltern (auch Stief-/Pflegeeltern) und Kind oder zwischen weiteren Verwandten verstanden» [1]. Es wurde nur die Primärkonsultation eingeschlossen. Betroffene, die von extern via UNZ an eine Fremdklinik zugewiesen wurden, wurden ausgeschlossen. Ausgeschlossen wurden auch Konsultationen, die sich aufgrund psychischer Belastung nach HG direkt auf der psychiatrischen Notfallstation vorstellten, sowie bei vorliegendem Widerspruch gegen den General Consent.

Datensammlung

Aus dem primären Notfallbericht sowie, falls vorhanden, aus dem Nachkontrollbericht aller identifizierten Konsultationen wurden soziodemografische Daten (Alter, Geschlecht, Obhut Minderjähriger), klinische Daten (Zuweisung, Tag und Zeitpunkt der Konsultation, Entlassungsart und ggf. Nachkontrolle), Konsultationscharakter sowie Angaben zur Tat (u.a. Täter/in-Opfer-Beziehung, wobei eine Mehrfachnennung von Täter_innen möglich war) extrahiert und in eine Datentabelle eingetragen.

Statistik

Die Datenanalyse wurde mittels Microsoft Office Excel, Redmond WA, USA, Version 16.16.12 durchgeführt. Die Häufigkeiten kategorialer Variablen werden mit Prozent und absoluter Zahl angegeben. Die Verteilungen von kontinuierlichen Variablen wird durch den Median sowie den Interquartilsbereich (IQR) beschrieben.

Ethik

Die Studie wurde von der Ethikkommission des Kantons Bern als Qualitätssicherungsstudie eingestuft und es wurde auf die informierte Zustimmung verzichtet (KEK-2020–01727).

Resultate

Im Studienzeitraum wurden im UNZ insgesamt 49 348 Konsultationen registriert. 81 Konsultationen erschienen im KIS nach der Stichwortsuche. 28 mussten ausgeschlossen werden (Abb. 2). Es verblieben 53 Konsultationen, was einer Inzidenz von 1,1 Fällen von HG pro 1000 Notfallkonsultationen entspricht.

Abbildung 2 Consort.

Zwei Betroffene stellten sich während der Studienzeit je zweimal nach einem Übergriff vor. Das mediane Alter lag bei 34,5 Jahren (IQR 26–43). Mit 84,9 % (n = 45) war der Grossteil der Betroffenen weiblich. In 71,7 % der Fälle (n = 38) war die gewaltausübende Person der_die aktuelle Lebenspartner_in. Innerfamiliäre Gewalt fand in 13,2 % (n = 7) der Fälle statt, wobei in 5,7 % (n = 3) Gewalt von Seiten der Eltern ausgeübt wurde, in 7,5 % (n = 4) durch den Bruder oder Onkel (Tabelle 1).

Tabelle 1 Charakteristika der Betroffenen

Zuweisungen/Zeitpunkt der Vorstellung

Von den Betroffenen meldeten sich 54,7 % (n = 29) selbstständig nach erlebter HG auf der Notfallstation (Tabelle 2). Während der Spätschicht (14:30–22:30) fanden mit 49,1 % die meisten Konsultationen statt (n = 26). Die mediane Aufenthaltsdauer im UNZ während der Erstkonsultation lag bei 290 Minuten (IQR 161–437), die der Nachkontrolle bei 110 Minuten (IQR 65–153).

Tabelle 2 Befragungsanteil aufgeteilt nach Subgruppen

Behandlung/Nachbetreuung

Eine ambulante Betreuung konnte bei 83,1 % (n = 44) der Konsultationen eingeleitet werden. Stationär aufgenommen wurden 16,9 % (n = 9) der Fälle, wobei 9,4 % (n = 5) eine operative Intervention benötigten (Frakturen Mittelgesicht/Kiefer n = 2, Clavicula-Fraktur n = 1, Stichverletzung abdominal n = 1, Stichverletzung thorakal n = 1). Gemäss standardisiertem Vorgehen wurde 69,8 % (n = 37) der Primärkonsultationen ein Termin in der Spezialsprechstunde angeboten (Tabelle 2), wobei sich der Anteil der Nicht-Gefragten innerhalb der ersten zwei Monate um 50 % reduzierte (Abb. 3). Von den 37 Gefragten wünschten 21,6 % (n = 8) keinen Termin. Den restlichen Betroffenen (54,7 %, n = 29) wurde ein Termin gegeben, dieser wurde in 58,6 % (n = 17) der Fälle wahrgenommen (Tabelle 2). Bezogen auf die Anzahl der Primärkonsultationen ergab dies eine Nachkontrollrate von 32,1 %. Zwischen 50 und 88,9 % der verschiedenen Opfergruppen wurden systematisch auf die Spezialsprechstunde hingewiesen und nach einem Termin gefragt, ausgenommen die Betroffenengruppe der Männer, sowie Betroffene von Eltern-Kind-Gewalt, anderer innerfamiliärer Gewalt oder Zugewiesene von Hausärzt_innen oder Krankenhäusern. In den Subgruppen der «Selbstzuweisenden» wünschten 10,3 % (n = 3) der Befragten keine Zuweisung in die Nachkontrolle, bei der Subgruppe der «Zuweisung durch Dritte» 20,8 % (n = 5) der Konsultationen. Die Gruppe der «Selbstzuweisenden» nahm zudem in 70,6 % (n = 12) der Konsultationen die vereinbarten Nachkontrolltermine wahr. In der Subgruppe der «Zuweisung durch Dritte» wurde der Termin 41,7 % (n = 5) der Konsultationen eingehalten (Tabelle 2). In der Durchsicht der Patientdossiers der Nachkontrollen konnten keine Hinweise auf sprachliche Schwierigkeiten gefunden werden.

Abbildung 3 Entwicklung des Befragungs-/Annahmeanteils.

Diskussion

Das Ziel dieser Studie ist es, die Nachfrage für eine spezialisierte Sprechstunde für Opfer von HG sowie Herausforderungen bei deren Einführung aufzuzeigen. Darüber hinaus soll untersucht werden, ob sich Unterschiede in verschiedenen Subgruppen bezüglich Frage nach einem Sprechstundentermin sowie Annahme des Angebots aufzeigen lassen, was wiederum einen Einfluss auf die Schulung und gegebenenfalls Anpassung der Handlungsanleitung haben könnte.

Im Studienzeitraum stellten sich 53 Personen nach HG im UNZ vor, was 1,1 auf 1000 Konsultation nach HG im UNZ ergab. Zwei Betroffene wurden zweimal Opfer eines gewaltsamen Übergriffs. Bei den Primärkonsultationen war der grösste Teil der Betroffenen weiblich und in einer festen Partnerschaft. Eine selbständige Vorstellung auf der Notfallstation erfolgte in der Hälfte der Konsultationen.

Nachkontrollen in der Spezialsprechstunde

Nach standardisierter Handlungsanleitung wurde 70 % der Konsultationen ein Nachkontrolltermin in der Spezialsprechstunde angeboten, wobei in drei Viertel der Fälle ein Termin vereinbart wurde. Von der Hälfte der Befragten wurde der initial vereinbarte Nachkontrolltermin eingehalten. Auf das Gesamtkollektiv der Primärkonsultationen ergab dies eine Nachkontrollrate von circa einem Drittel. Das «Sexual Assault And Partner Abuse Care Program/SAPACP» in Ottawa wies ebenfalls einen «Loss to follow-up» von 53,9 % auf, wobei die Kontrollen bei Zuweisungen durch Dritte, nach einer Wiederholungstat oder nach Substanzgebrauch seltener wahrgenommen wurden [9]. Der Grund für die tiefe Rate an Nachkontrollen in der Spezialsprechstunde ist unklar. Eine mögliche Erklärung ist das bestehende Abhängigkeitsverhältnis der Gewaltbetroffenen zur gewaltausübenden Person, was den Kontakt zu Hilfseinrichtungen zu erschweren scheint. Die «Violence Medical Unit (VMU)» des Universitätsspitals Lausanne beschrieb 2011 ein ähnliches Problem, als sich in einer telefonischen Befragung zur Qualität der VMU mit den Betroffenen von HG eine deutlich geringere Kontaktaufnahme möglich war. Die Autor_innen äusserten die Hypothese, dass dies durch die komplexen Verhältnisse bei HG im Vergleich zur öffentlichen Gewalt bedingt sein könnte [10]. Dieser Hypothese widerspricht die äusserst hohe Konsultationsrate der Fachstelle HG der Stadt Bern, bei der lediglich 10 % der polizeilich proaktiv zugewiesenen Betroffenen keinen Termin wahrnahmen [11].

Nachkontrollen nach Zuweisergruppen

Aufgeteilt nach Zuweisergruppen zeigten sich deutliche Unterschiede im Befragungsanteil. Die Subgruppen der «Selbstzuweisenden» sowie «Zuweisung durch Dritte» waren bezüglich Grösse praktisch identisch, das mediane Alter lag bei der Subgruppe der «Zuweisung durch Dritte» etwas höher. Der Anteil männlicher Betroffener war ebenfalls identisch. Betroffene, die sich selbstständig nach einem Übergriff Hilfe holen, scheinen somit zugänglicher für Hilfsangebote als Zugewiesene durch Dritte [9] (verminderter Anteil an nicht gewünschten Terminen sowie nicht wahrgenommener Nachkontrolltermine). Ausserdem verfügt der Kanton Bern über ein etabliertes, interdisziplinäres Betreuungssystem für alle Betroffenen nach einer polizeilichen Intervention nach HG. So werden Opfer von HG gemäss Art. 50 Abs 3 PolG proaktiv Fachstellen gemeldet, die innerhalb kurzer Zeit mit den Betroffenen in Kontakt treten und bei Bedarf einen Beratungstermin vereinbaren [12]. Dies könnte dazu führen, dass Betroffene, die durch die Polizei oder Ambulanz (Zuweisung per Ambulanz nach polizeilicher Intervention) zugewiesen werden, eine Nachkontrolle als überflüssig empfinden, da sie bereits über die folgende Kontaktaufnahme durch die Fachstelle informiert wurden. Wichtig ist, dass zukünftig darauf hingewiesen wird, dass im Zuge der Nachkontrollen gerichtsverwertbare Dokumentationen der Verletzungen angefertigt werden, die in einem späteren straf-/zivil- oder ausländerrechtliche Verfahren von Bedeutung sein können.

Nachkontrollen nach Täter/in-Opfer-Beziehung

In den Subgruppen der «Täter/in-Opfer-Beziehung» war eine Aussage bezüglich der verschiedenen Gruppen aufgrund der kleinen Gruppengrössen limitiert. Erfreulicherweise wurde in der Gruppe «Aufgelöste Partnerschaft» am häufigsten nach einem Nachkontrolltermin gefragt, ebenso wurde dieser immer wahrgenommen. Dies ist insofern wichtig, als das Trennungssituationen ein erhöhtes Risiko für Gewalt, auch erstmalige Gewalt, in Partnerschaften darstellen [13, 14]. In den kleinsten Subgruppen «Andere innerfamiliäre Gewalt», «Eltern-Kind-Gewalt» sowie «Gewalt an Männern» fiel der Befragungsanteil deutlich geringer aus. Gerade bei diesen sich in der Minderzahl befindenden Betroffenengruppen wäre es wichtig, sich an die Handlungsleitlinie zu halten und die entsprechenden Hilfsangebote zu unterbreiten.

Es ist unklar, ob von Ärztinnen und Ärzten HG primär mit ehelicher Gewalt assoziiert wird oder ob die entsprechenden Betreuenden sich gehemmt fühlten, die aussergewöhnliche Täter/in-Opfer-Konstellation anzusprechen. Bekannt ist, dass Mediziner_innen vor allem mit fehlender Zeit [6, 15] sowie Problemen beim Ansprechen und Erkennen von HG [5] konfrontiert sind, weshalb eine enge Zusammenarbeit mit weiterbetreuenden Stellen (z.B. Sozialdiensten) zu empfehlen ist [16].

Herausforderungen

Die Sprechstunden wurden durch Oberärzt_innen des UNZ während Bürotagen oder zum Teil ausserhalb der regulären Dienste angeboten. Aufgrund betrieblicher Umstände konnte keine konstante personelle Abdeckung oder ein regelmässiger Sprechstundentag initiiert werden. Die Erzählungen der Betroffenen erforderten eine hohe Resilienz der einzelnen Teammitglieder sowie Strategien, mit belastenden Situationen umzugehen (Team-Debriefing/anonyme Fallbesprechungen bei Opferhilfe oder Polizei). Wissensverlust betreffend der Sprechstunde aufgrund hoher ärztlicher Personalfluktuation am UNZ mit monatlich neu eintretenden Assistenzärzt_innen konnte mittels Schulung sowie mit der Schaffung der Handlungsanleitung abgefangen werden. Die Problematik der Fremdsprachigkeit wurde antizipiert und konnte mit physisch anwesenden Dolmetschenden in den Nachkontrollen, die nach den Primärkontrollen aufgeboten wurden, umgangen werden.

Zusammenfassung

Mit der Einführung der Spezialsprechstunde für Betroffene von HG im Universitären Notfallzentrum des Inselspitals Bern wurde versucht, eine Lücke im Betreuungsangebot für Gewaltbetroffene zu schliessen. In der vorliegenden Studie zeigt sich, dass das Angebot der Nachkontrolle einerseits nicht allen Betroffenengruppen gleich unterbreitet, andererseits nicht von allen Betroffenengruppen gleich wahrgenommen wurde. Um weitere Schlussfolgerungen ziehen zu können, bedarf es Studien mit grösseren Fallzahlen. Wie schwierig eine optimale medizinische Betreuung von Opfern von HG ist, wurde vom Bundesrat erkannt. So empfiehlt er den Kantonen, ein umfassendes Konzept zur Sicherung der Qualität der medizinischen Versorgung der Opfer von HG einzuführen [17].

Limitationen

Die Studie weist einige Limitationen auf. Die Stichwortsuche könnte zu unentdeckten Fällen im Klinikinformationssystem führen. Sie beschränkte sich auf die Stichwörter «Häusliche» und «Gewalt», wobei HG oder Verdacht auf HG im UNZ immer als solche dokumentiert wird. Ein Selektionsbias angesichts einer unbekannten Dunkelziffer von Betroffenen von HG auf der Notfallstation kann hingegen nicht ausgeschlossen werden. Studien zeigen, dass Gesundheitsfachpersonen es häufig vermeiden, Betroffene von HG auf die Gewalterfahrung direkt anzusprechen [6, 18]. Der persönliche Umgang des/der erstbetreuenden Arztes/Ärztin mit dem Thema «Häusliche Gewalt» ist sehr individuell und kann zu einem Informations- und Interviewbias führen. Zudem ist gemäss PKS die Androhung von Gewalt ebenfalls eine Form von psychischer HG. In den Nachkontrollen zeigte sich, dass Betroffene von HG sich nie aufgrund von Androhungen von HG im UNZ vorstellten, das gleiche gilt bei weiteren Formen der psychischen Gewalt. Eine direkte Vorstellung bei den Kolleg_innen der Psychiatrie fand meist erst nach einer polizeilichen Intervention oder einer psychischen Dekompensation statt. Des Weiteren sind die in der PKS aufgelisteten Zahlen zur HG nicht Fallzahlen, sondern die Anzahl von Straftaten, was dazu führt, dass pro Fall mehrere Straftaten erfasst werden können. Ein expliziter Vergleich der Zahlen ist somit nicht möglich. Zusätzlich werden in der PKS Straftatbestände erfasst, die zu keiner Vorstellung in einem Notfallzentrum führen würden, was zu überhöhten Gesamtzahlen im Vergleich zum UNZ führt.

Angesichts der geringen Stichprobengrösse und bei geringer Power verzichteten wir auf eine Signifikanztestung und beschränkten uns auf die deskriptive Beschreibung.

Key messages

Handlungsanleitungen und regelmässige Teamschulungen sollten als Basis im Umgang mit Betroffenen von HG benutzt werden.

Eine Sensibilisierung des Gesundheitspersonals auf spezielle Betroffenengruppen ist unumgänglich, damit auch diese von den entsprechenden Angeboten profitieren können.

Weitere Studien im medizinischen Setting sind eine Grundvoraussetzung, um zusätzliche Aspekte im Spannungsfeld Medizin/HG (Schwangerschaft, Psychiatrie, etc.) darzustellen.

Bibliografie