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10 Jahre Lernen und Lernstörungen: Ein Blick „zurück in die Zukunft“

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000359

Liebe Leserinnen und Leser!

Im Januar 2012 erschien die erste Ausgabe dieser Zeitschrift. Im selben Monat titelte damals „Der Spiegel“ „Optimismus: Ab wann wird Zuversicht gefährlich“! Dieser Artikel widmete sich den Thesen des gerade neu erschienenen Buchs des Psychologen Daniel Kahneman „Thinking, fast and slow“ (Kahneman, 2011). In diesem Buch fasst er die Ergebnisse seiner Forschungen zu den Merkmalen der menschlichen Urteilsbildung und Entscheidungsfindung zusammen, für die er im Jahr 2002 den Nobelpreis für Wirtschaft erhalten hatte. Gegenstand der Kahneman'schen Forschung war die Untersuchung des schnellen, intuitiven und optimistischen Denkens (System 1) und seiner gelegentlichen Neigung zu gefährlich selbstüberschätzenden kognitiven Verzerrungen (optimism bias), sowie die Untersuchung seines Gegenspielers, des langsamen, reflektierenden und prüfenden Denkens (System 2), das dann hoffentlich rechtzeitig an zu optimistischen, auf intuitiver Basis getroffenen Entscheidungen und Urteilen zweifelt. Auch wenn ein Großteil dessen, was wir falsch machen, dem System 1 angelastet werden könne, so sei doch, gemäß Kahneman, System 1 gleichzeitig auch der Ursprung für all das, was wir allermeistens richtig machen. Deshalb solle man, wenn man einen Wunsch für seine Kinder frei hätte, für Optimismus plädieren. Dies freilich ist wohl ein frommer Wunsch, denn Optimismus kann nur ausreichend entwickeln, wer in frühen Jahren die Erfahrung gefestigt hat, selbstwirksam erfolgreich sein zu können. Bei Kindern und Jugendlichen, die chronisch in der Schule scheitern, wird daraus nichts, wie wir heute wissen: Sie werden pessimistisch und entwickeln selbstunterschätzende kognitive Verzerrungen (pessimism bias). Sie verlieren Zuversicht, Antrieb, Lebensmut und benötigen schließlich oft auch psycho- oder lerntherapeutische Unterstützung, die, um in der Kahneman'schen Begrifflichkeit zu bleiben, die korrigierenden Kräfte von System 2 zu stärken versucht.

Die Pandemie hat erneut ein grelles Licht auf die seit Langem bekannten Probleme unseres Bildungssystems und seine fehlende Chancengerechtigkeit geworfen: Die Benachteiligung jener Kinder und Jugendlichen, die einen besonderen sozialen oder pädagogischen Unterstützungsbedarf haben, wuchs weiter an. Mit der über Wochen und Monate aufrecht erhaltenen Praxis des Homeschoolings waren diese Schüler schlichtweg überfordert. Sie hatten weniger Zugang und Hilfestellung und fielen infolgedessen weiter zurück (z.B. Steinmayr, Lazarides, Weidinger & Christiansen, 2020). Die negativen Auswirkungen waren dabei nicht nur auf die kognitiven Leistungen der betroffenen Menschen beschränkt, sondern sie betrafen auch deren psychische Gesundheit (siehe z.B. Vindegaard & Benros, 2020; Thorell et al., 2021). Die monatelangen, sich wiederholenden Lockdown-Phasen gingen für viele Menschen einher mit sozialer Isolierung, wirtschaftlichen Einschränkungen und sich daraus sekundär entwickelnden psychischen Problemen. Wenig überraschend sind Befunde, denen zufolge die negativen Auswirkungen der sozialen Isolation vor allem die Gruppe der Jugendlichen betraf, da in dieser Altersgruppe die Interaktionen mit Gleichaltrigen besonders wichtig für die Entwicklung sind (Orben, Tomova & Blakemore, 2020). Dies alles hat die Nachfrage nach psychologischen und psychiatrischen Therapien vielerorts massiv ansteigen lassen. Neben all diesen negativen Auswirkungen wurden allerdings auch positive Effekte des so genannten distance- bzw. E-Learnings berichtet, und zwar auch bei Schülern mit diagnostizierten Lernstörungen. Petretto et al. (2021) werteten dazu 30 relevante Studien aus und gelangten zu der Schlussfolgerung, dass die interdisziplinäre Entwicklung, Überprüfung und Implementierung von flexiblen E-Learning Umwelten zukünftig eine der größten und gleichzeitig vielversprechendsten Herausforderungen für das schulische Bildungsumfeld darstellen.

Gewissermaßen wie gerufen zum 10-jährigen Jubiläum unserer Zeitschrift erschien soeben zum Thema der Entwicklung digitaler Kompetenz das neueste Buch von Gerd Gigerenzer „Klick. Wie wir in einer digitalen Welt die Kontrolle behalten und die richtigen Entscheidungen treffen“ (Gigerenzer, 2021). Auch dieses sehr empfehlenswerte Buch dürfte wohl der Aufmerksamkeit des „Spiegel“ und hoffentlich auch einer breiteren Öffentlichkeit kaum entgehen. Auch Gigerenzer ist, wie Kahneman, Psychologe, forschte in derselben wissenschaftlichen Domäne ähnlich erfolgreich wie dieser und erlangte als ehemaliger Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung in Berlin insbesondere in den Bildungswissenschaften große Bekanntheit (siehe auch Gigerenzer & Martignon, 2015; Martignon & Hoffrage, 2019). Sein Buch „Bauchentscheidungen. Über die Intelligenz des Unbewussten und die Macht der Intuition“ (Gigerenzer, 2007) erschien übrigens bereits wenige Jahre vor jenem von Kahneman und befasste sich ebenfalls mit der Dynamik von intuitiver und analytischer Entscheidungsbildung in Situationen der Unsicherheit.

Unsicherheit ist das, was in unserer Zeit ein mehr und mehr vorherrschendes Gefühl zu werden scheint: Die Unsicherheit in der Einschätzung der Gefahren durch ein unsichtbares Virus für die eigene Gesundheit und die der Anderen, aber auch der Risiken, die die Maßnahmen der Gefahrenabwehr mit sich bringen, siehe Impfung, Homeschooling u.a.m. Die Unsicherheit in der Einschätzung von Nutzen und Gefahren der digitalen Medien, wie z.B. Reizüberflutung, Sucht, Fake News, aber auch adaptives, KI-basiertes E-Learning. Die Unsicherheit in der Frage des Klimawandels, die schon heute junge Menschen daran zweifeln lässt, ob es wohl eine gute Idee ist, später einmal eigene Kinder in die Welt zu setzen. Unsicherheit erzeugt Ängste, und die verlangen nach Beruhigung. Diese Beruhigung kann nur kurzfristig durch Ablenkung, Verdrängung oder andere Formen der Angstabwehr (z.B. Leugnung) erreicht werden. Langfristig wird es wohl wesentlich auf eine gute, allen zugängliche und soziale Nachteile ausgleichende Bildung ankommen, die Wissen und Fähigkeiten vermittelt, indem sie inspiriert und Neugier wachhält, kritisches und kreatives Denken fördert, zu sicherer Urteilsbildung befähigt und, last but not least, den optimistischen Antrieb nicht durch Misserfolgslernen stranguliert.

Dazu wollen wir mit unserer Zeitschrift auch in den nächsten 10 Jahren nach besten Kräften beitragen. Dabei verfolgen wir auch weiterhin das Ziel, im inhaltlichen Fokus unserer Zeitschrift ein Bindeglied zwischen interdisziplinärer Forschung und Anwendung zu sein und vermehrt auch mit Schwerpunkt- und Themenheften zu aktuellen und in die Zukunft reichenden Fragen Impulse zu setzen. Zu den Themenbereichen, mit denen wir uns im Jubiläumsjahr 2022 beschäftigen werden, gehören beispielsweise „Digitalisierung und Lernen“ sowie „Inklusion und Lehrerbildung“. Mit diesem kurzen inhaltlichen Ausblick auf das kommende Jahr wünschen wir unseren Leserinnen und Lesern eine spannende und anregende Lektüre und bedanken uns für das entgegengebrachte Interesse und Vertrauen.

Inhalte der aktuellen Ausgabe

Die aktuelle Ausgabe beinhaltet zwei Interventionsstudien. Während Herzog und Fritz-Stratmann (2022) die Effekte der spielbasierten Förderung früher arithmetischer Konzepte untersuchen, evaluieren Lenhard, Ege, Joßberger und Ebert (2022) die technologiegestützte Förderung der Leseflüssigkeit im Erwachsenenalter. Die Ergebnisse von Herzog und Fritz-Stratmann (2022) zeigen, dass auch kurze (d.h. über einen Zeitraum von 6–8 Wochen angebotene) spielbasierte Interventionen bei Kindergartenkindern und Erstklässlern effektiv und diese Effekte teilweise auch noch nach drei Monaten nachweisbar sind. Im Vergleich zu Kindern mit geringem numerisch-rechnerischen Vorwissen waren die Lernzuwächse bei Kindern mit größerem Vorwissen stärker ausgeprägt. Die Autoren interpretieren ihre Ergebnisse dahingehend, dass Kinder mit Lernschwierigkeiten intensivere und spezifischere Interventionsansätze benötigen. Demgegenüber untersuchten Lenhard und KollegInnen (2022) die Wirksamkeit eines multimodal dargebotenen Leseförderprogramms („reading-while-listening“/RWL) im Berufsschulkontext bei jungen Erwachsenen mit geringer Alphabetisierung. Im Vergleich zu einer Wartekontrollgruppe zeigten die TeilnehmerInnen der Interventionsgruppe deutliche Verbesserungen der Leseflüssigkeit, die auch bei der Follow-Up Untersuchung nach neun Monaten noch messbar waren. Wie die Autoren betonen, ist ein weiterer Vorteil dieser praktikablen und effektiven Lesefördermethode, dass sie auch im E-Learning Kontext einsetzbar ist.

Im dritten und vierten Beitrag dieser Ausgabe werden diagnostische Fragestellungen untersucht. Napiany, Weber und Huber (2022) gehen der Frage nach, ob Selbstbeurteilungen des Lernverhaltens von Schülern valide sind und ob sich diese direkten Verhaltensselbstbeurteilungen im Verlauf verändern. Zu diesem Zwecke beurteilten Viertklässler über vier Wochen bis zu vier Mal täglich ihre Teilnahme am Unterricht. Die Ergebnisse weisen laut den Autoren darauf hin, dass die direkte (d.h. von den Schülern selbst durchgeführte) Verhaltensselbstbeobachtung eine adäquate Methode zur verlaufsdiagnostischen Erfassung des Lernverhaltens sein kann. Im vierten Beitrag wird untersucht, ob Elternbeurteilungen der Exekutiven Funktionen (wie z.B. Inhibition, Arbeitsgedächtnis, kognitive Flexibilität) einen Beitrag zur Vorhersage der Lese- und Rechenleistungen bei Erst- und Zweitklässlern leisten können (Michel, Söll & Molitor, 2022). Die Resultate dieser Arbeit zeigen, dass Elternbeurteilungen durchaus zur Schulleistungsprognose beitragen können, wobei die höchsten Prädiktionswerte (also die besten Vorhersagen) der schulischen Leistungen in Bezug auf das Lesen und Rechnen durch eine kombinierte Anwendung von Elternbeurteilungen der Exekutiven Funktionen und spezifischen Leistungstests erzielt werden.

im Namen des Herausgebergremiums

Literatur

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