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Free AccessKommentar

Fachgruppe Sozialpsychologie

Kommentar zu Lindner, M. A. et al. (2021)

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000529

Kommentar zum Positionspapier „Lindner, M. A. et al. (2021). Ein Plädoyer zur Qualitätssicherung schriftlicher Prüfungen im Psychologiestudium

Wir danken Lindner et al. (2021) für die Möglichkeit, uns an der außerordentlich wichtigen und zeitgemäßen Diskussion um die Qualität und Qualitätssicherung von Prüfungen im Psychologiestudium zu beteiligen. Die Autorinnen und Autoren haben aus unserer Sicht einen in mehrfacher Hinsicht ausgezeichneten Diskussionsbeitrag vorgelegt: er benennt klar die Kriterien und Herausforderungen guter Prüfungen im Psychologiestudium, problematisiert die an vielen Standorten gängige Praxis einer rein deklarativen Wissensabfrage im Multiple Choice-Format (MC), macht zu Recht darauf aufmerksam, dass solche MC-Prüfungen nur scheinbar ökonomisch sind, da sie zwar leicht und automatisiert auszuwerten, aber aufwändig zu konstruieren sind, und fordert – ebenfalls zu Recht – ein nachhaltiges, effizientes Qualitätsmanagementsystem für universitäre Prüfungen. Man kann fast allem, was die Autorinnen und Autoren diskutieren und fordern, nur zustimmen und hoffen, dass dieser Beitrag einen Diskussionsprozess innerhalb der Institute in Gang setzt, dessen Ziel es sein muss, ein prüfungsbezogenes Qualitätsmanagementsystem lokal zu installieren. Lediglich den Vorschlag der Autorinnen und Autoren, die Entwicklung eines gemeinsam gepflegten Aufgabenpools voranzutreiben, um damit „…eine Angleichung von basalen psychologischen Curricula über Studienstandorte hinweg sowie die Vergleichbarkeit von Prüfungsleistungen“ sicherzustellen, möchten wir in unserem Kommentar herausgreifen und problematisieren.

Obwohl eine größere Vergleichbarkeit von Prüfungsleistungen etwa im Zuge der Bewerbung um einen Masterstudienplatz sicherlich Vorteile hätte – sie hätte auch ihren Preis. Vergleichbare Prüfungsleistungen setzen vergleichbare Inhalte im entsprechenden Prüfungsfach voraus: ein „Kerncurriculum“ oder einen gemeinsam definierten „Kanon“ von Lehrinhalten, welcher dann entsprechend in Veranstaltungen zu vermitteln wäre. Das mag in bestimmten Fächern (etwa den Methodenfächern) besser funktionieren als in anderen Fächern (wie der Sozialpsychologie), wie die folgenden drei Argumente zeigen sollen. Erstens hat die Debatte um die Replizierbarkeit psychologischer Befunde dazu geführt, dass in den vergangenen Jahren sicher geglaubtes Wissen auf den empirischen Prüfstand gestellt werden musste, was viele Fachvertreterinnen und Fachvertreter (etwa in der Sozialpsychologie, aber nicht nur dort) dazu bewogen hat, ihre Einführungsvorlesungen inhaltlich und strukturell zu überarbeiten und die Fragilität und Vorläufigkeit wissenschaftlicher Erkenntnisse in ihren Veranstaltungen explizit zu thematisieren und reflektieren (vgl. Chopik, Bremner, Defever & Keller, 2018). Zweitens hat die Restrukturierung der psychologischen Studiengänge im Zuge der Bologna-Reform und die damit einhergehende Kürzung des curricularen Anteils der psychologischen Grundlagenfächer in den meisten Bachelor- und Masterstudiengängen (typischerweise auf eine einsemestrige Vorlesung plus ein einsemestriges Vertiefungsseminar, zuvor: zweisemestrige Vorlesung plus Vertiefungsseminare; siehe Deutsche Gesellschaft für Psychologie, 2005) die Entscheidung darüber, welche Themen man in einer Einführungsvorlesung behandeln muss und welche nicht, noch einmal erschwert und dementsprechend die Varianz bezüglich des behandelten Stoffes über die Institute hinweg vergrößert. Und drittens nehmen viele Fachvertreterinnen und Fachvertreter das Humboldtsche Ideal einer engen Verknüpfung zwischen Forschung und Lehre ernst und geben jenen Themen, die sie selbst beforschen, in ihren Veranstaltungen mehr Raum und Gewicht als anderen. Dies trägt im Idealfall zu einer Verbesserung der Qualität der Lehre bei, denn Expertise und Interesse am Thema auf Seiten der Lehrenden sind – u. a. vermittelt über ein so gewecktes Interesse auf Seiten der Studierenden – wichtige Prädiktoren für den studentischen Lernerfolg und die Lernmotivation (vgl. Fondel, Lischetzke, Weis & Gollwitzer, 2015; Green, Hood, & Neumann, 2015).

Die Schwierigkeit oder gar Unmöglichkeit, einen gemeinsamen „Kanon“ von Lehrinhalten zu definieren, manifestiert sich jedenfalls in der Sozialpsychologie allzu augenfällig bei einem Vergleich der Inhaltsverzeichnisse bekannter sozialpsychologischer Lehrbücher: Ganze Forschungsbereiche, die man zu Klassikern der Sozialpsychologie zählen kann (wie die Soziale Identitätstheorie, Rollentheorien oder Gerechtigkeitstheorien), werden in manchen Lehrbüchern in eigenen Kapiteln behandelt, in anderen jedoch nur randständig oder gar nicht erwähnt. Diese Variationsbreite ist nicht problematisch: sie spiegelt lediglich wider, wie breit ein Fach wie die Sozialpsychologie ist und wie unterschiedlich man dieses vermitteln kann. Außerdem sollte es uns doch eigentlich gar nicht ‒ oder nur in begrenztem Maße ‒ um die Vermittlung von deklarativem Wissen gehen: unser eigentliches Lernziel sollte es vielmehr sein, Studierende zu befähigen, (methoden)‌kritisch zu denken, Probleme und Fragestellungen aus der Perspektive eines scientist practitioners anzugehen, sich und sein Handeln zu reflektieren, zu evaluieren und zu optimieren und dabei stets evidenzbasiert vorzugehen. Immerhin qualifiziert das polyvalente Psychologiestudium für einen sehr breiten und sich stetig wandelnden Arbeitsmarkt (Bundesverband Deutscher Psychologinnen und Psychologen, 2020); diese Bandbreite erfordert im Studium ein entsprechendes constructive alignment hinsichtlich späterer beruflicher Anforderungen. Jede Prüfung, die in der Lage ist, solche scientist practitioner-Fertigkeiten valide abzuprüfen, sollte uns willkommen sein. Prüfungsformate, die etwas abprüfen, was wir gar nicht vermitteln wollen (z. B. die Aneignung von Test-wiseness-Strategien, s. Lindner et al., 2021), sind hoch problematisch. Natürlich sollten Prüfungen auch ökonomisch zu konstruieren und auszuwerten sein, aber die Inhaltsvalidität der Prüfung sollte stets das vorrangige Kriterium sein.

Um dies sicherzustellen, bedarf es nicht unbedingt eines zentral kuratierten Qualitätsmanagementsystems, so wie Lindner et al. (2021) es vorschlagen. Das könnten die Institute im Prinzip auch lokal in Eigenverantwortung organisieren, sofern ihre Hochschulleitungen sie dabei infrastrukturell und personell angemessen unterstützen. Lokale Lösungen würden es auch nicht erforderlich machen, für jedes Fach einen (deutschlandweit? europaweit? weltweit?) gültigen „Kanon“ zentral abzuprüfender Lehrinhalte zu definieren ‒ die Chancen, im Fach Konsens über einen solchen Kanon herzustellen, dürften ohnehin sehr gering sein.

Literatur

Prof. Dr. Mario Gollwitzer, Department Psychologie, Ludwig-Maximilians-Universität München, Leopoldstraße 13, 80802 München,