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Fachgruppe Pädagogische Psychologie. Gute Forschung – bereits im Psychologiestudium!

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000571

Fachgruppe Pädagogische Psychologie

Gute Forschung – bereits im Psychologiestudium!

Dass eine studentische Initiative Aspekte der Qualität studentischer Forschungsprojekte im Psychologiestudium – inklusive der Verbreitung sogenannter fragwürdiger Forschungspraktiken – differenziert in den Blick nimmt und mit entsprechenden Inhalten in der Psychologielehre in Beziehung setzt, ist beeindruckend und verdient zweifellos besondere Anerkennung. Anknüpfend an die Diskussion um die sogenannte Replikationskrise steht im Beitrag von Brachem et al. (2022) eine Umfrage unter Psychologiestudierenden im Zentrum; berichtet werden Ergebnisse zur teils deutlichen Verbreitung von neun fragwürdigen sowie zwei positiven Forschungspraktiken in unterschiedlichen Projekten im Psychologiestudium (u. a. Empirie- / Experimentalpraktikum, Bachelorarbeit, Masterarbeit). Wir danken den Mitgliedern der „Open Science“-Arbeitsgruppe der Psychologie-Fachschaften-Konferenz für ihr Engagement sowie dem Autorenteam für ihren Beitrag, der viele interessante Befunde und Überlegungen zur weiteren Verbesserung des Psychologiestudiums enthält. Im Folgenden kommentieren wir ausgewählte Befunde sowie Schlussfolgerungen des Autorenteams mit Blick auf die Psychologie im Allgemeinen sowie die Pädagogische Psychologie im Besonderen.

Gute Forschung und gutes wissenschaftliches Arbeiten – auch im Studium. In den Psychologiehauptfachstudiengängen sollen neben inhaltlich-psychologischen und berufspraktischen Handlungskompetenzen auch forschungsmethodische Kompetenzen erworben werden. Entsprechend wird im DGPs-Qualitätssiegel für psychologische Bachelorstudiengänge der Aspekt der „Wissenschaftlichkeit / Forschungsorientierung des Studiengangs“ genannt (vgl. DGPs, 2021). Psychologiestudierende sollten zunehmend in der Lage sein, Forschungsarbeiten kritisch-würdigend zu rezipieren und darüber zu kommunizieren sowie eigene (kleinere, angeleitete) Forschungsarbeiten lege artis durchzuführen. Idealerweise sollten die in den Methodenveranstaltungen behandelten Inhalte in den Grundlagen- und Anwendungsfächern aufgegriffen werden, um die jeweiligen Studien und Befunde aus inhaltlicher und methodischer Perspektive zu würdigen. Zweifelsohne sollten die Prinzipien guter Forschung in sämtlichen Psychologielehrveranstaltungen (nicht nur der Methodenlehre) regelmäßig thematisiert werden. In diesem Zusammenhang sind die in der Umfrage angesprochenen Forschungspraktiken – neben weiteren Aspekten guter Forschung – hochbedeutsam. Methodologische und methodische Aspekte guter Forschung sollten dabei stets mit-gedacht und mit-behandelt werden – inklusive der Themenfelder „Forschungstransparenz“ und „fragwürdige Forschungspraktiken“ sowie deren Bedeutung für psychologische Befunde und die Psychologie als Fach. Dasselbe gilt für studentische Forschungsarbeiten. Die von Brachem et al. (2022) genannte (aus normativer Perspektive deutlich zu hohe) Verbreitung fragwürdiger Forschungspraktiken in studentischen Projekten deutet auf die Notwendigkeit weiterer gemeinsamer Anstrengungen, um dies zu verbessern; dies sollte gemeinsames Anliegen aller Psychologielehrenden und -studierenden sein – ein wertvoller Ausgangspunkt des Beitrags.

Gute studentische Forschung – ein gemeinsames Ziel. Überrascht hat uns vor diesem Hintergrund die Interpretation, die Replikationskrise würde schwerpunktmäßig in Veranstaltungen der Methodenlehre thematisiert. In der Befragung der Masterstudierenden wurden die Empirie- und Experimentalpraktika der Methodenlehre zugeordnet, obwohl diese häufig von anderen Fächern angeboten werden. Nichtsdestotrotz sehen wir die gemeinsame Aufgabe einer verstärkten Thematisierung in Lehrveranstaltungen – auch der Pädagogischen Psychologie.

Besonderheiten angeleiteter Arbeiten. Häufig sind studentische Arbeiten (sinnvollerweise) in größere Projektvorhaben eingebunden bzw. mehrere studentische Arbeiten werden beispielsweise in gemeinsamen Datenerhebungen verbunden, sodass der Gesamtdatensatz vielversprechende und womöglich in eine Publikation mündende Erkenntnisse erlaubt. Ein solches Ressourcen-Pooling ist in Empiriepraktika, aber auch Bachelor- und Masterarbeiten verbreitet. In der eigenen Masterarbeit werden dann beispielsweise ausgewählte Variablen ausgewertet oder Gruppen miteinander verglichen. Studierende könnten so – z. B. im Zuge der Beantwortung des Fragebogens zu fragwürdigen Forschungspraktiken – vermuten, dass sie beispielsweise selektiv „ihre“ experimentellen Bedingungen vergleichen oder Variablen betrachten. Zudem erfolgen die Stichprobenplanung und die Planung des Forschungs- und Auswertungsdesigns in den genannten Fällen für das Gesamtprojekt, was bei Studierenden den Eindruck entstehen lassen könnte, entsprechende Power-Analysen zur Planung des benötigten Stichprobenumfangs hätten nicht a priori stattgefunden. Spricht man diese und weitere Überlegungen im Rahmen der Betreuung explizit an, könnte bei Studierenden das Bewusstsein für adäquate Forschungspraktiken gestärkt werden.

Fragen an den Beitrag. Vor dem Hintergrund der Bedeutung der Befragungsergebnisse und der Schlussfolgerungen des Autorenteams möchten wir einige wenige, für die Interpretation besonders relevante Fragen formulieren: (1) Einerseits ist die Teilnehmendenzahl von 1397 Psychologiestudierenden aus dem deutschen Sprachraum, die in den Analysen berücksichtigt wurden, beachtlich. Vergleicht man dies allerdings mit z. B. im Jahr 2018 ca. 85.000 allein in Deutschland immatrikulierten Psychologiestudierenden (vgl. Spinath, 2021), gewinnt die von Brachem et al. angesprochene Gefahr von (Selbst–)‌Selektionseffekten an Relevanz. (2) Im Beitrag von Brachem et al. wird zu Recht auf die hohe Bedeutung einer a priori-Planung der Stichprobengröße hingewiesen (bzw. deren Unterlassen als verbreitete fragwürdige Forschungspraxis). Vor diesem Hintergrund hätten wir uns eine solche gleichermaßen für die vorliegende Studie gewünscht. Im Beitrag deutet unter anderem die Bonferroni-Adjustierung darauf hin, dass der Gefahr eines α-Fehlers besondere Bedeutung beigemessen wird (mit u. a. einem Signifikanzniveau von bis zu p < .00005). Weiterhin hätten wir uns explizitere Forschungsfragen als Ausgangspunkt insbesondere der inferenzstatistischen Prüfungen gewünscht (die zu Recht teils als explorativ charakterisiert wurden). (3) In Bezug auf das Erhebungsinstrument zu fragwürdigen Forschungspraktiken werden vom Autorenteam Verständnisunsicherheiten der Teilnehmenden formuliert. Auch in Bezug auf die Summenbildung der Ja- / ‌Nein-Antworten pro Forschungspraktik hätten wir uns eine inhaltliche und psychometrische Begründung gewünscht, wie auch z. B. überzeugende Reliabilitäts- und Validitätshinweise der Messungen. Die teils deutlichen Differenzen zwischen den neun fragwürdigen Forschungspraktiken hätten möglicherweise auch für die Zusammenhangsanalysen eine differenzierte Betrachtung fruchtbar erscheinen lassen. (4) Im Sinne einer besseren Interpretierbarkeit der Umfrageergebnisse hätten wir uns gelegentlich einen Vergleichs- bzw. Referenzwert gewünscht. So hätte ein Vergleich der Einschätzungen zu „Wichtigkeit“, „Interesse“ und „Eindruck von Informiertheit“ mit beispielsweise inhaltlichen Themen eine Einordnung erleichtert. Je nach Perspektive mag der Anteil an Studierenden, die von einer Thematisierung der Replikationskrise in universitären Lehrveranstaltungen berichten konnte (ca. 76 %), von „erfreulich hoch“ bis „viel zu niedrig“ beurteilt werden. Bemerkenswert ist, dass rund 200 der hier insgesamt rund 1400 Befragten im ersten oder zweiten Semester (vermutlich zumeist gegen Ende des ersten Semesters) studierten. Es besteht die Hoffnung, dass – im Einklang mit geringeren berichteten Häufigkeiten der fragwürdigen Forschungspraktiken in Masterarbeiten verglichen mit Bachelorarbeiten sowie Empiriepraktika – im Studienverlauf ein Kompetenzaufbau und eine zunehmend geringere Verbreitung fragwürdiger Forschungspraktiken stattfinden.

Zur Situation in der Pädagogischen Psychologie. Neben empirischen (oder experimentellen) studentischen Arbeiten, in denen eigens Daten zur Beantwortung der Forschungsfragen erhoben werden, basieren studentische Qualifikationsarbeiten der Pädagogischen Psychologie häufig auf existierenden Daten (z. B. im Rahmen von Sekundärdatenanalysen, teils unter Nutzung wissenschaftsöffentlich zugänglicher Daten). Bei der Lektüre des Beitrags von Brachem et al. entstand der Eindruck, dass die berichteten Befunde insbesondere auf studentische Arbeiten mit eigens erhobenen Daten bezogen sind. Entsprechende Übergeneralisierungen sollten vermieden werden. Neben vielen Gemeinsamkeiten der Prinzipien guter und offener Forschung sind bei Sekundärdatenanalysen manche Spezifika zu beachten – beispielsweise kann die Stichprobengröße naheliegenderweise nicht verändert werden; nichtsdestotrotz sollte im Vorfeld der statistischen Analysen u. a. eine adäquate Abschätzung der Konsequenzen von α- und β-Fehler erfolgen. Hinzu kommt, dass für eine ganze Reihe statistischer Verfahren, die standardmäßig und erfolgreich eingesetzt werden (z. B. komplexere konfirmatorische Faktorenanalysen oder Strukturgleichungsmodelle mit hierarchisch strukturierten Daten), nicht so einfach wie für einen t-Test, eine Varianzanalyse oder Korrelationsvergleiche die a priori erforderliche Stichprobengröße berechnet werden kann; aufgrund verfügbarer Simulationsstudien lassen sich zudem teils nur allgemeinere Daumenregeln ableiten. Ungeachtet dieser Komplikationen stimmen wir mit dem Autorenteam darin überein, dass eine solide Stichprobenplanung in allen empirischen Untersuchungen eine Selbstverständlichkeit sein sollte.

Die Replikationskrise sowie die Open Science-Prinzipien sollten in Lehrveranstaltungen auch der Pädagogischen Psychologie regelmäßig diskutiert sowie in pädagogisch-psychologischen Qualifikationsarbeiten regelmäßig mit-bedacht werden – hier sehen wir Optimierungspotenzial und -bedarfe. Dies gilt selbstverständlich auch für einschlägige Lehrwerke und Hand‍(wörter)‌bücher. Diese Lehrinhalte sollten in die Lehre von Prinzipien guter Forschung und wissenschaftlichen Arbeitens eingebettet sein – eine Daueraufgabe, die lange vor der sog. Replikationskrise virulent war sowie weit über die derzeit diskutierten Open Science-Prinzipien hinausgeht. Alle Psychologiestudierenden sollten mit Erreichen des Bachelor- und erst recht des Masterabschlusses damit vertraut sein.

Immer wieder wurde die Bedeutung von Replikationen für den wissenschaftlichen Erkenntnisfortschritt der Psychologie insgesamt (Zwaan et al., 2018) und der Pädagogischen Psychologie im Besonderen betont (z. B. Rost & Bienefeld, 2019; s. auch Richter et al., 2019). Gute Replikationen verdienen eine deutlich höhere wissenschaftliche Wertschätzung bei Autorinnen und Autoren, Gutachterinnen und Gutachtern sowie Herausgeberinnen und Herausgebern – und selbstredend auch Forschungsförderinstitutionen. Erst durch den Nachweis seiner Replizierbarkeit wird ein empirischer Befund zu einer wissenschaftlichen Erkenntnis. Darüber hinaus sind Replikationen wichtig, um Kontextfaktoren zu identifizieren, die die Gültigkeit theoretischer Annahmen einschränken.

Was bleibt? Wir hoffen, dass der Beitrag von Brachem et al. der Diskussion um die wissenschaftliche Qualität studentischer Arbeiten in der Psychologie neuen Schwung verleiht. Auch wenn Open Science vermutlich nicht die alleinige „Wunderwaffe“ auf dem Weg zu besserer Forschung sein dürfte, explizieren die im Open Science-Umfeld formulierten Ansätze substanzielle Schritte auf dem Weg dahin; eine Reihe an Praktiken, die mit nicht reproduzierbaren und replizierten Effekten einhergehen, dürften sich damit vermeiden lassen. Möge die Diskussion um die Qualität studentischer Forschung weiter Eingang in die Lehre finden und zu besserer Forschung führen – zum Wohl der studentischen Forschungsarbeiten sowie der gesamten Psychologie.

Literatur