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Wissenschaftsgeschichte, Forscher_innengenerationen und die Vertrauenskrise in der Psychologie

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000573

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Wissenschaftsgeschichte, Forscher_innengenerationen und die Vertrauenskrise in der Psychologie

Ich halte es für sehr bemerkenswert, dass die jüngere Generation der Forscher_innen sich in die Diskussion um die Replikations-, besser Vertrauenskrise in der Psychologie einschaltet. Für mich ist die Psychologie die zentrale Wissenschaft der Aufklärung, die menschliches Handeln verstehen, erklären, vorhersagen und ggf. gezielt verändern möchte.

Wenn ich das Positionspapier genauer betrachte, so bin ich über die Anpassungsbereitschaft der jüngeren Generation sehr erstaunt:

„Trotz der Kritik, die in der Wissenschaftsgemeinschaft an der Praxis des NHST bereits geäußert worden ist, ist es weiterhin das am weitesten verbreitete Verfahren zur Erkenntnisgewinnung in der Psychologie. So werden mögliche Ursachen und darauf aufbauende Lösungsansätze für die Replikationskrise vor allem im Rahmen dieses Paradigmas diskutiert.“ (Positionspapier, S. 2).

Ferner wird als zentraler Punkt für diese Replikationskrise die Verwendung von fragwürdigen Forschungstechniken ausgemacht. Wenn diese Techniken wegfielen, dann gäbe es auch keine Replikationskrise, könnte man daraus schließen (Witte & Zenker, 2018). Hier hilft die Wissenschaftsgeschichte (Witte, 1980, S. 6 – 21). Die Vertrauenswürdigkeit der psychologischen Ergebnisse ist über die Jahrzehnte der Verwendung von Signifikanztests leider nicht gewachsen und neue Argumente tauchen auch nicht auf (Morrison & Henkel, 1970). Bei Berücksichtigung dieses Umstandes hätte ich mir eine eher „revolutionäre“ Haltung gewünscht nach dem Diktum von Max Planck zur Quantenmechanik (Planck, 1948, 22): „Eine neue wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass die heranwachsende Generation von vorherein mit der Wahrheit vertraut gemacht wird.“ Wenn man sich mit der Wahrheit vertraut macht, dann kann man nicht mit der unsachgemäßen Verwendung von Methoden als Hauptursache ausgehen, es ist der höchst unzulängliche Ansatz, um wenig vertrauenswürdige Ergebnisse zu erhalten (Witte & Zenker, 2017; Krefeld-Schwalb, Witte & Zenker, 2018). Man plant selten die Stichprobengröße und vermeidet kaum eine power-Analyse (siehe Abb. 2). Wenn die Inferenzstatistik solche Vorgehensweisen zulässt, dann muss die Methode grundlegend mangelhaft sein, um Replikationen als Erwartung zu generieren. Sie ist nicht durch die Reduktion fragwürdiger Methodenverwendung zu verbessern, sondern diese Methode konzentriert sich nur auf den ersten Schritt eines Forschungsprogramms und hat eine Replikation nicht als methodisches Ziel (Gigerenzer, 2018; Witte & Zenker, 2018).

Es bedarf schon einer größeren methodischen „Revolution“, um die mangelnde Replikation von grundlegenden Effekten in den Lehrbüchern zu überwinden, wobei die Replikation ja nur ein Oberflächenkriterium darstellt, dahinter verbirgt sich die eingeschränkte Glaubwürdigkeit der berichteten Erkenntnisse. In einem gewissen Umfang steht das Vertrauen in die Psychologie auf dem Spiel. Das gilt auch für die Klinische Psychologie und Psychotherapie als angewandte Disziplin. Es dürfen nicht nur Verfahren sein, die signifikant besser sind als Kontrollgruppen, sondern auch Verfahren, die in ihrer Funktionsweise erklärt und in ihrem Effekt vorhergesagt werden können. Sie müssen sich empirischen Überprüfungsverfahren stellen, die diese theoretische Fundierung ermöglichen. Hierfür reichen die üblichen Verfahren nicht, auch wenn man die bekannten fragwürdigen Forschungspraktiken vermeidet.

Die Ursache für die Replikationskrise besteht aus einer Trias von Problemstellungen: 1. Fehlende präzise Theorienbildung, die eine Power-Analyse zulassen würde (Punkt- oder Intervall-Hypothesen); 2. Die Messung von Effekten, die groß genug, homogen und stabil sind, um Theorien entwickeln zu können; 3. Eine Inferenzstatistik, die wirklich Hypothesen prüft und nicht nur die Abweichung vom Zufall beschreibt.

Diese „revolutionäre“ Forderung hätte ich mir von der jungen Forschergeneration gewünscht und nicht nur die Vermeidung fragwürdiger Techniken aus dem Blickwinkel einer sehr eingeschränkten Methodik. Vielleicht ist die junge Generation noch nicht ausreichend mit der neuen Wahrheit vertraut gemacht worden (s. o. Max Planck und die Ergebnisse in Abb. 2 des Positionspapiers).

Möglicherweise ist es sinnvoll, wenn junge Wissenschaftler_innen, die sich mit dieser Trias auseinandersetzen wollen, zu einer Arbeitsgruppe zusammenfänden, über das eigene Institut hinaus. Die Beschäftigung mit diesem Thema hilft aber nicht bei der Karriere. Hier sind andere Kriterien gefragt. Man sollte vielleicht als ersten Schritt sich mit mir in Verbindung setzen: , um letztlich eine Adressenliste zu erstellen. Mitglieder sollten sich dann arbeitsteilig mit unterschiedlichen Fragen aus dem Themenbereich beschäftigen, jenseits der am weitesten verbreiteten Verfahren.

Literatur

  • Gigerenzer, G. (2018). Statistical rituals: The replication delusion and how we got there. Advances in Methods and Practices in Psychological Science, 1, 198 – 218. https://doi.org/10.1177/2515245918771329 First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

  • Krefeld-Schwalb, A., Witte, E. H. & Zenker, F. (2018). Hypothesis-testing demands trustworthy data—a simulation approach to statistical inference advocating the research program strategy. Frontiers in Psychology, 9, 460. First citation in articleGoogle Scholar

  • Morrison, D. E. & Henkel, R. E. (Eds.). (1970). The significance test controversy. New York: Routledge. https://doi.org/10.4324/9781315134918 First citation in articleGoogle Scholar

  • Planck, M. (1948). Wissenschaftliche Selbstbiographie. Leipzig: A.B. First citation in articleGoogle Scholar

  • Witte, E.H. (1980). Signifikanztest und statistische Inferenz. Stuttgart: Enke. First citation in articleGoogle Scholar

  • Witte, E. H. & Zenker, F. (2017). From discovery to justification: Outline of an ideal research program in empirical psychology. Frontiers in Psychology, 8, 1847. https://doi.org/10.3389/fpsyg.2017.01847 First citation in articleGoogle Scholar

  • Witte, E. H. & Zenker, F. (2018). Data replication matters, replicated hypothesis-corroboration counts. (Commentary on “Making Replication Mainstream” by Rolf A. Zwaan, Alexander Etz, Richard E., Lucas, and M. Brent Donnellan.) Behavioral and Brain Sciences, 41., e120. First citation in articleGoogle Scholar