Risiken und Chancen der Digitalisierung
Abstract
Zusammenfassung. Durch die Digitalisierung ist innerhalb von kurzer Zeit eine zusätzliche Lebenswelt für Kinder und Jugendliche entstanden. Aus kinderpsychologischer Sicht stellt sich deshalb die Fragen, welche Risiken und Chancen die Digitalisierung sowohl für die Kindesentwicklung als auch für die psychotherapeutische Versorgung birgt. Risiken der Digitalisierung, sogenannte online harms („Online-Schäden“), zeigen sich durch Aggravation oder Veränderung bereits bekannter Störungsbilder (z. B. Essstörungen, selbstverletzendes oder suizidales Verhalten, Hypochondrie) oder die Entstehung neuer Störungsbilder (z. B. Online-Verhaltenssüchte wie die Computerspielstörung). Ausschlaggebend erscheint dabei nicht die Zeit, die mit digitalen Medien verbracht wird, sondern das Nutzungsmuster und die Funktionalität der Nutzung. Gleichzeitig bieten digitale Diagnostik, Monitoring- und Feedbacksysteme sowie digitale Interventionen neue Chancen zur Verbesserung der psychotheapeutischen Versorgung. Beispielsweise können Jugendliche durch App-basierte Interventionen im Alltag besser erreicht werden, und auch für unterversorgte Populationen wie beispielsweise Angehörige bieten digitale Angebote einen niederschwelligen Zugang. Die Digitalisierung stellt somit Wissenschaft und Psychotherapie vor große Herausforderungen und neue Aufgaben.
Abstract. Digitalization has created an additional living environment for children and young people within a short period of time. From the perspective of child psychology, the question arises of which risks and opportunities digitalization holds for child development and psychotherapeutic care. The risks of digitalization, so-called online harms, are manifested in the aggravation or modification of pre-existing disorders (e. g., eating disorders, self-harming or suicidal behavior, hypochondria) or the emergence of new disorders (e. g., online behavioral addictions such as gaming disorder). The crucial factors seem to be the pattern of use and its functionality rather than the amount of time spent with digital media. At the same time, digital diagnostics, monitoring and feedback systems, and digital interventions offer new opportunities to improve mental health care. For example, it is possible to better reach adolescents through app-based interventions during everyday life, and digital services also provide low-threshold access for underserved populations such as caregivers. Digitalization thus poses major challenges and new tasks for science and psychotherapy.
Für Kinder und Jugendliche ist durch die Digitalisierung ist innerhalb von kurzer Zeit eine zusätzliche Lebenswelt entstanden, die aus ihrem dem Alltag nicht mehr wegzudenken ist. Zur Erfassung des Medienverhaltens führt der Medienpädagogische Forschungsverbund Südwest seit 1998 jährlich eine repräsentative Basisstudie zum Mediengebrauch von Jugendlichen im Alter von 12 – 19 Jahren durch. In der ersten Ausgabe (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest [mpfs], 1998) wurden knapp drei Viertel der Jugendlichen als „PC-Nutzer_innen“ bezeichnet, definiert durch die Frage „Ich sitze mindestens einmal im Monat an der Tastatur“. Neben dem eigenen Zuhause, bei Freunden oder Bekannten wurde der PC an öffentlichen Nutzungsstätten (z. B. in der Schule, in Jugend-/Freizeiteinrichtungen, Internetcafés oder in Bibliotheken) aufgesucht. Das Internet wurde von insgesamt 18 % der befragten genutzt, von 9 % mindestens einmal pro Woche. Als „Heavy User“ wurden diejenigen Jugendlichen bezeichnet, bei denen die Beschäftigung mit dem Internet oder Online-Dienstag zwei Stunden oder mehr dauerte (mpfs, 1998).
Die heutige Generation zeigt ein völlig anderes Mediennutzungsverhalten. In der aktuellsten Ausgabe der JIM-Studie, 23 Jahre später, liegt der Besitz eines eigenen Handys oder Smartphones der 12 – 19 Jährigen bei 94 %, und diese nutzen es täglich. Im Durchschnitt verbringen Jugendliche zurzeit mehr als 4 Stunden täglich online, 2021 lag der Durchschnitt bei 241 Minuten täglich (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2021). Neben einem kontinuierlichen Anstieg über die Jahre ist die Onlinezeit zuletzt durch die Pandemie noch einmal sprunghaft angestiegen (siehe Abbildung 1) und verzeichnete einen täglichen Zuwachs von 53 Minuten zwischen 2019 und 2020 (Medienpädagogischer Forschungsverbund Südwest, 2020).
In der Dynamik über die Zeit lassen sich Wechselwirkungen zwischen der neuen, digitalen Lebenswelt mit den Lebenswelten Familie, Freunde und Freizeit, Schule sowie auch unserem Gesundheitssystem abbilden. Aus kinderpsychologischer Sicht stellen wir uns deshalb die Fragen, welche Auswirkungen die Digitalisierung auf die Kindesentwicklung sowie die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Familiensystemen hat. Welche Risiken birgt die Digitalisierung für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen? Welche Chancen bietet die Digitalisierung für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen sowie deren Bezugspersonen?
Welche Risiken birgt die Digitalisierung für die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen?
Die Risiken der Digitalisierung werden seit den 1990er Jahren untersucht. Mit ihrem Buch „Internet Addiction“ berichtete Kimberly Young erstmals von klinischen Fällen, bei denen durch die exzessive Nutzung des Internets suchtartige Verhaltensweisen mit signifikantem Leidensdruck entstanden waren (Young, 1998). Die Internet Gaming Disorder (definiert als eine suchtartige Nutzung von Computerspielen) wurde 2013 als Forschungsdiagnose in das DSM-5 (American Psychiatric Association, 2013) aufgenommen, und 2018 fand die Computerspielstörung als eigenständige Diagnose (Code: 6C51) Einzug in die ICD-11 (World Health Organization, 2018). Die ICD-11 enthält erstmals ein eigenes Kapitel für Verhaltenssüchte, analog zu stoffgebundenen Süchten. Neben der Computerspielstörung wurde dort die Glücksspielstörung (6C50) eingruppiert, die bereits in der ICD-10 im Kapitel der Impulskontrollstörungen existierte. Andere spezifizierte sowie unspezifizierte Verhaltenssüchte können unter den Schlüsseln 6C5Y und 6C5Z klassifiziert werden. Für die anderen spezifizierten Verhaltenssüchte wurden die Soziale-Netzwerke-Nutzungsstörung, die Shoppingstörung sowie die Pornografie-Nutzungsstörung vorgeschlagen (Brand et al., 2020; Rumpf et al., 2021). Im gesamten Verhaltenssuchtkapitel können süchtige Verhaltensweisen sowohl online (6C5#.0) als auch offline (6C5#.1) klassifiziert werden. Nicht alle Online-Verhaltenssüchte sind komplett neue Störungsbilder, sondern ähneln teilweise auch bereits bekannten Störungen, die sich durch die Online-Nutzungsform jedoch verändert oder verstärkt haben (z. B. die online-Shoppingstörung oder die online-Pornografienutzungsstörung). Im Zuge der Pandemie sind nicht nur die durchschnittlichen Onlinezeiten, sondern auch die Prävalenz von Jugendlichen mit einer süchtigen Nutzung von Online-Anwendungen angestiegen (Neumann & Lindenberg, 2022). Für die psychische Gesundheit scheint gleichzeitig nicht die Zeit an sich ausschlaggebend zu sein, die mit Online-Anwendungen verbracht wird, sondern das Nutzungsmuster und die Funktionalität der Nutzung. Eine süchtige Nutzung, die sich durch kompulsives Verhalten auszeichnet (im Gegensatz zu flexiblem Verhalten) ist mit psychischer Belastung assoziiert, im Gegensatz zur reinen Onlinezeit (Lindenberg & Wartberg, 2022). Bisherige Untersuchungen konnten das zeitliche Zusammenspiel zwischen psychischer Belastung, süchtiger Nutzung von online-Anwendungen und Onlinezeit noch nicht zufriedenstellend erfassen, so dass die Wirkrichtungen und Dynamiken noch weitgehend unbekannt sind.
Auch außerhalb von Verhaltenssüchten werden zunehmend sogenannte „online harms“ berichtet (Hummel & Smith, 2015; John et al., 2018; Khazaal et al., 2021; Memon, Sharma, Mohite & Jain, 2018; Throuvala, Griffiths, Rennoldson & Kuss, 2021). Sozialpsychologische Gruppenphänomene, die bereits offline existierten, zeigen in der digitalen Lebenswelt verstärkte Dynamiken, wie beispielsweise Cyberbullying. Bereits bekannte Störungsbilder wie Essstörungen, selbstverletzendes Verhalten, suizidales Verhalten oder hypochondrisches Verhalten werden durch die Nutzung von bestimmten Online-Anwendungen aggraviert. Möglicherweise wirken hier Ansteckungs- oder soziale Vergleichseffekte während der Nutzung von sozialen Netzwerken wie Instagram. Als einfache Gegensteuerungsmaßnahme scheint dabei eine kurze Teilabstinenz vielversprechend zu sein, um depressive Symptomatik zu reduzieren und Selbstwert sowie psychische Befindlichkeit zu verbessern (Schwarz, Steinau, Kraus & In-Albon, 2022).
Sowohl die durch die Digitalisierung neu entstandenen Störungsbilder als auch die veränderten Formen bereits bekannter stellen die Wissenschaft und psychotherapeutische Versorgung vor neue Herausforderungen und Aufgaben.
Welche Chancen birgt die Digitalisierung für die psychotherapeutische Versorgung von Kindern und Jugendlichen?
Neben allen potenziellen Gefahren und Risiken birgt die Digitalisierung auch erhebliche Chancen zur Verbesserung der psychotherapeutischen Versorgung, die ebenfalls seit der Jahrtausendwende untersucht werden (Bauer & Kordy, 2008). Ganz aktuell sollen durch die Einführung der Telematik Infrastruktur alle Akteure im Gesundheitswesen besser vernetzt werden, die Elektronische Patientenakte soll wichtige Informationen wie Vorerkrankungen, Medikamenteneinnahme, Vorbehandlungen oder diagnostische Ergebnisse jederzeit und unmittelbar verfügbar machen. Digitalisierte Diagnostik, Monitoring- und Feedbacksysteme sowie online-basierte Interventionen und digitale Gesundheitsanwendungen (DiGas) bieten viele Möglichkeiten zur Individualisierung des Psychotherapieprozesses, zur Verbesserung des Therapieoutcomes sowie zur kosteneffektiven Versorgung großer und unterversorgter Populationen (Lutz, Schwartz & Delgadillo, 2022). Zu den unterversorgten Populationen zählen beispielsweise auch Angehörige von Kindern und Jugendlichen mit psychischen Erkrankungen. Online-Trainings für Angehörige erleichtern den niederschwelligen Zugang und bieten Entlastung (Hanke et al., 2022). Darüber hinaus bieten App-basierte Interventionen die Möglichkeit, Interventionen auch im Alltag (und zwischen den Therapiesitzungen) für Jugendliche umsetzbar zu gestalten (z. B. Rauch, Bundscherer-Meierhofer, Loew & Leinberger, 2022).
Inhalte dieses Schwerpunktheftes
In diesem Schwerpunktheft sollen die Auswirkungen der Digitalisierungen auf Kinder, Jugendliche und ihren Familien im Fokus stehen. Beiträge sollen z. B. Folgen von Digitalisierung und Nutzungsverhalten im Hinblick auf entwicklungspsychologische und pädagogische Effekte und Chancen adressieren, psychopathologische Folgen und mögliche Hilfsprogramme vorstellen oder Chancen in der psychologisch-psychiatrischen Versorgung von Kindern und Jugendlichen erörtern. Das Schwerpunktheft leistet damit einen Beitrag zur differenzierten Darstellung dieser interdisziplinären Herausforderung und ihren gesellschaftlichen Auswirkungen.
Literatur
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