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Open AccessÜbersichtsarbeit

Achtsamkeitsorientierte Ansätze der Suchtprävention und -therapie bei Kindern und Jugendlichen

Thematischer Hintergrund und Überblick zu dem laufenden IMAC-Mind Verbund

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000743

Abstract

Zusammenfassung:Hintergrund: Das Jugendalter gilt als vulnerable Phase für die Entwicklung von Suchtstörungen und der Anteil von jungen Menschen, die davon betroffen sind, ist hoch. Für die Entstehung und Aufrechterhaltung abhängigen Verhaltens sind Probleme in der exekutiven Kontrolle und Regulation von Gefühlen, Gedanken und Verhalten zentral. Das Thema Achtsamkeit ist in der Öffentlichkeit sehr präsent. Zahlreiche Studien belegen den Nutzen achtsamkeitsbasierter Interventionsansätze zur Stärkung exekutiver Regulation von Stress und Verhaltensimpulsen bei Suchtstörungen sowie deren komorbider psychischer Begleitsymptomatik. Methoden: Selektive Literaturrecherche zu Achtsamkeit und substanzbezogenen Störungen bei Kindern und Jugendlichen. Ergebnisse: Bisherige Studien beziehen sich weitestgehend auf Erwachsene. Empirische Evidenz zur Einschätzung des suchtpräventiven und -therapeutischen Nutzens von Achtsamkeitsprogrammen bei Kindern und Jugendlichen fehlt bislang. Im Rahmen des laufenden Forschungsverbunds „IMAC-Mind: Verbesserung der psychischen Gesundheit und Verringerung von Suchtgefahr im Kindes- und Jugendalter durch Achtsamkeit: Mechanismen, Prävention und Behandlung“ werden multifaktorielle Risikoprofile für Suchterkrankungen untersucht und in achtsamkeitsorientierte Interventionsmodelle überführt. Schlussfolgerung: Der Beitrag leitet Forschungsbedarfe zu Suchterkrankungen und Achtsamkeit aus einer kinder- und jugendspezifischen Perspektive ab und informiert über die Teilprojekte.

Mindfulness-Based Approaches to Addiction Prevention and Treatment for Children and Adolescents: Thematic Background and Overview of the Ongoing IMAC-Mind Network

Abstract: Background: Adolescence is considered a vulnerable phase for the development of addictive disorders, with a large proportion of young people who is affected. Central for addictive behavior are problems in the executive control and self-regulation of feelings, thoughts and behavior. For years the concept of mindfulness has been in public focus. Numerous neurobiological and clinical studies demonstrate the benefits of mindfulness-based interventions for strengthening executive regulation of stress and behavioral impulses in addictive disorders and comorbid psychological symptoms. Methods: Selective literature review on mindfulness and substance-related disorders in children and adolescents. Results: Empirical evidence to assess the utility of mindfulness programs to prevent and treat addictive disorders in children and adolescents is lacking to date. As part of the ongoing research network “IMAC-Mind: Improving Mental Health and Reducing Addiction Risk in Childhood and Adolescence through Mindfulness: Mechanisms, Prevention, and Treatment,” the multivariate risk profiles for addictive disorders are being investigated and translated into mindfulness-based intervention models. Conclusion: This article derives research needs on addictive disorders and mindfulness from a youth-specific perspective and provides information about ongoing projects in the research network.

Einleitung

Das Jugendalter ist mit umfangreichen sozialen, emotionalen und physiologischen Reifeprozessen und Anforderungen an die psychosoziale Anpassung verbunden, die zu einem experimentellen und missbräuchlichen Gebrauch von Suchtmitteln prädisponieren (Weichold & Blumenthal, 2018). Der Beginn klinisch relevanter Konsummuster fällt bei einem sehr überwiegenden Anteil Betroffener in den Übergang ins junge Erwachsenenalter und ein erheblicher Anteil Jugendlicher in westlichen Kulturräumen erfüllt die Kriterien einer Abhängigkeitserkrankung (Arnaud & Thomasius, 2018). Unter den 13- bis 18-jährigen Jugendlichen kann US-amerikanischen Studien zufolge für Missbrauch und Abhängigkeit von psychotropen Substanzen von einer Lebenszeitprävalenz von 11,4 % (Merikangas et al., 2010) und einer 12-Monatsprävalenz von 8,3 % (Kessler et al., 2012) ausgegangen werden. Zentrales Merkmal dieser psychischen Störung ist die verminderte Fähigkeit das eigene Konsumverhalten zu kontrollieren (Arnaud & Thomasius, 2020). Die Symptomatik entwickelt sich über neuronale bzw. belohnungsassoziierte Lern- und Verstärkersysteme und eine fortschreitende neurobiologische Anpassung, die bei vulnerablen Menschen zu einem chronischen und schließlich nicht mehr kontrollierbaren Gebrauch führt (Überblick bei Walter, Müller & Heinz, 2019).

Entwicklungsneurobehaviorale Ansätze von Suchtstörungen

Zur Entstehung und Aufrechterhaltung riskanter und abhängiger Konsumformen trägt eine Vielzahl von Faktoren und entwicklungsrelevanter Konstellationen bei (Überblick bei Arnaud & Thomasius, 2019). Auf Basis epidemiologischer und ätiologischer Befunde lässt sich eine hohe Vulnerabilität Jugendlicher für Risikoverhalten, einschließlich eines Verstetigungsrisikos missbräuchlichen Konsumverhaltens erkennen (Jordan & Anderson, 2017; Wittchen et al., 2008). Insbesondere ein früh einsetzender und im Jugendalter eskalierender Substanzkonsum erhöht das langfristige Risiko, eine substanzbezogene Störung zu entwickeln, erheblich (Chassin, Sher, Hussong & Curran, 2013; Perkonigg et al., 2008). Ein wesentlicher, aus der neurowissenschaftlichen Forschung der letzten Jahre abgeleiteter Ansatz zur Erklärung dieses Phänomens, geht von einem entwicklungsbedingten Ungleichgewicht (imbalance model) zwischen den an der affektiven Reizverarbeitung und deren kognitive Kontrolle beteiligten neuronalen Systeme aus (Übersicht bei Lees et al., 2021). Die Ausreifung präfrontaler Regionen, die zur kognitiven Kontrolle benötigt werden, vollzieht sich vergleichsweise lang und bis ins Erwachsenenalter, während die subkortikalen neuronalen Netzwerke vor allem im mesolimbischen System, das für die affektive Reizverarbeitung, Belohnungslernen und Risikobereitschaft relevant ist, frühzeitig entwickelt sind (Cope, Martz, Hardee, Zucker & Heitzeck, 2019). Dies hat eine Vulnerabilität für kurzfristig belohntes Verhalten zu Lasten langfristiger Ziele zur Folge und stellt einen wesentlichen Risikofaktor für suchtbezogene Verhaltensweisen in diesem Abschnitt der Lebensspanne dar (Jadhav & Boutrel, 2018). Im Jugendalter zeigt sich außerdem eine besondere Sensitivität gegenüber Stress (etwa durch Prozesse des sozialen Umbruchs) und eine Tendenz, Substanzkonsum als dysfunktionale Möglichkeit einzusetzen, um diesen zu mindern. Gleichzeitig entwickeln sich neue, sozial motivierte Gewohnheiten (habit model), die wiederum einem durch planvolles Abwägen gekennzeichneten Verhalten entgegenstehen stehen können und etwa im Zusammenhang mit häufigem Rauschkonsum die Entwicklung von Suchtstörungen wiederum deutlich wahrscheinlicher machen (Jordan & Anderson, 2017). Darüber hinaus spielen Einschränkungen der exekutiven Kontrollfähigkeiten von Kognitionen, Affekten und Verhalten eine ebenso wesentliche Rolle bei weiteren und häufig vorkommenden komorbiden psychischen Störungen, etwa im Spektrum affektiver Störungen, Störungen des Sozialverhaltens und ADHS (Conway, Swendsen, Husky, He & Merikangas, 2016).

Aus Platzgründen können wir an dieser Stelle nicht auf die vielfältigen Ansätze zur Prävention und Behandlung von Suchtstörungen und eine Einordnung der Effektivität eingehen (Überblick bei Stockings et al., 2016). Jedoch erscheint angesichts der Relevanz exekutiver Kontrollprozesse für die Entstehung, Aufrechterhaltung und Komorbidität von Suchtstörungen die Annahme begründet, dass Interventionskonzepte, die auf eine Modifikation dieser neurobehavioralen Dimensionen setzen, geeignet sind, die insgesamt relativ geringen Effekte vorhandener Interventionen im Bereich der Prävention, Therapie und Rückfallprävention von Suchtstörungen im Kindes- und Jugendalter zu verbessern.

Diese konzeptuelle Grundannahme steht im Vordergrund des im weiteren Beitrag kompakt dargestellten BMBF-Forschungsnetzwerks „Improving Mental Health and Reducing Addiction in Childhood and Adolescence through Mindfulness: Mechanisms, Prevention and Treatment“ (IMAC-Mind). In der vorliegenden narrativen Übersichtsarbeit werden Befunde aufgeführt, die diese Grundannahme stützen und zusammengenommen nahelegen, dass abhängiges Verhalten und die an der (fehl-)angepassten Verhaltenssteuerung beteiligten Prozesse und neurobehavioralen Grundlagen durch achtsamkeitsbasierte Interventionen veränderbar sind.

Methodik

Basis dieser Übersichtsarbeit ist eine selektive Literaturrecherche in der Datenbank PubMed mit den Suchbegriffen „Mindfulness AND adolescents“ (2.743 Treffer), „Mindfulness AND substance use“ (855 Treffer), „Mindfulness AND substance use disorder“ (629 Treffer), „Mindfulness AND adolescents AND substance use“ (181 Treffer).

Ergebnisse: Achtsamkeitsbasierte Interventionen bei substanzbezogenen Störungen

Seit einigen Jahren ist das aus östlichen Meditations- und Lebensweisen abgeleitete Prinzip der Achtsamkeit in der Öffentlichkeit sehr präsent. Achtsamkeit bezieht sich auf eine bestimmte Form der Aufmerksamkeit, die absichtsvoll ist, sich auf den gegenwärtigen Moment richtet und nicht wertend ist (Kabat-Zinn, 2013). Daraus abgeleitete Interventionen werden als eine systematische (z. B. im Rahmen formaler Programme anwendbare) Trainingsmethode zur Stärkung exekutiver Regulation von Stress und Verhaltensimpulsen aufgefasst, die in einem breiten Spektrum psychischer Erkrankungen präventiv, therapeutisch und rückfallpräventiv eingesetzt werden (Goldberg, Riordan, Sun & Davidson, 2021). Achtsamkeit kann auch als Persönlichkeitsmerkmal (trait mindfulness) beschrieben und gemessen werden (Karyadi, VanderVeen & Cyders, 2014).

Wie wir in unserem einführenden Beitrag (vgl. Arnaud & Thomasius, 2021) bereits beschrieben haben, beruht die aktuelle Befundlage weitestgehend auf dem Einsatz formaler Achtsamkeitsbasierter Programme („Mindfulness-Based-Stress-Reduction“, MBSR; „Mindfulness-Based Cognitive Therapy“, MBCT; „Mindfulness-Based Relapse-Prevention“, MBRP) der „ersten Generation“, die vor allem in klinischen Stichproben erwachsener Patienten eingesetzt wurden (Crane et al., 2017; Kathirasan, 2018). Neuere, teilweise auch mit zusätzlichen Interventionen (zum Beispiel auf Virtual Reality basiertes Cue-reactivity training) kombinierte Ansätze werden fortlaufend entwickelt (siehe Rosenthal, Levin, Garland & Romanczuk-Seiferth, 2021).

Die Studien zeigen teilweise heterogene, zusammengenommen aber signifikante, mitunter sogar große kontrollierte Behandlungseffekte in der Verringerung von Suchtdruck, der Häufigkeit und Schwere des Substanzmissbrauchs bis hin zur Abstinenz, sowie substanzbezogene Probleme und der komorbiden psychischen Begleitsymptomatik (etwa ängstliche, depressive und posttraumatische Belastungssymptome) (Korecki, Schwebel, Votaw & Witkiewitz, 2020; Cavicchioli, Movalli & Maffei, 2018; Li, Howard, Garland, McGovern & Lazar, 2017; Grant et al., 2017). Die Effektstärken scheinen mit denen anderer evidenzbasierter Behandlungsoptionen (etwa der Kognitiven Verhaltenstherapie) vergleichbar, allerdings sind umfassende vergleichende Therapiestudien noch nicht in großer Anzahl vorhanden. Ein Mangel besteht auch bei Studien im Versorgungsalltag und etwa zu der Frage, ob sich Patienten zum Beispiel in der ambulanten Behandlung überhaupt dazu motivieren können, in der erforderlichen Regelmäßigkeit Achtsamkeit zu praktizieren (Witkiewitz et al., 2019).

Die Annahme, dass die Effekte achtsamkeitsbasierter Interventionen auf abhängiges Verhalten über eine Stärkung der kognitiven („top-down“) Kontrolle von negativen Emotionen sowie stress- und belohnungsassoziierten Verhaltensimpulsen moduliert werden, wird durch zahlreiche Befunde gestützt (Überblicke bei Rosenthal et al., 2021 sowie Priddy et al., 2018). Sanger und Dorjee (2015) postulieren sogar, dass sich Achtsamkeitstrainings gerade während der adoleszenten Entwicklungsperiode, die wie oben beschrieben, durch eine hohe Affinität gegenüber sozial verstärkten Risikoverhaltensweisen gekennzeichnet ist, besonders günstig auswirken können. Allerdings ist die Anzahl achtsamkeitsbezogener Therapiestudien, die direkt bei Kindern und Jugendlichen ansetzen, gegenüber Studien mit Erwachsenen stark unterrepräsentiert (Dunning et al., 2019; Kallapiran, Koo, Kirubakaran & Hancock, 2015). Vorhandene Übersichtsarbeiten zur Gesundheitsförderung und Prävention beziehen sich vor allem auf den schulischen Kontext (Maynard, Solis, Miller & Brendel, 2017; Klingbeil et al., 2017; siehe auch Engel, Schiemann & von Salisch, 2020), was der international zunehmenden Verbreitung achtsamkeitsbasierter Interventionen in diesem Setting Rechnung trägt. Dabei zeigt sich auf Basis der vorhandenen Studien, dass achtsamkeitsbasierte Programme signifikante (kleine bis mittlere) Effekte auf Ebene der kognitiven und sozioemotionalen Mechanismen psychischer Gesundheit wie etwa Stress und Wohlbefinden haben können. Empirische Evidenz für eine Wirksamkeit auf Ebene des gesundheitsbezogenen Verhaltens (einschließlich des Substanzkonsums) liegt bisher jedoch nicht vor. Zudem entsprechen die eingesetzten Programme oft nicht hohen Durchführungsstandards und die Studien weisen in ihrer methodischen Qualität mehrheitlich Mängel auf (Emerson, de Diaz, Sherwood, Waters & Farrell, 2020; eine Ausnahme ist der laufende MYRIAD-Trial, siehe Kuyken et al., 2017). Studien aus anderen Settings, die für suchtpräventive Maßnahmen relevant sind, wie etwa dem Familienkontext sind eher selten. Sie zeigen aber zusammengenommen, dass achtsamkeitsbasierte Ansätze im Rahmen von Familien-Gruppenprogrammen einen günstigen Effekt auf die Beziehungs- und Interaktionsqualität haben können (Coatsworth et al., 2014, 2015), gerade auch wenn eine kindliche Verhaltensauffälligkeit vorliegt (Bögels & Emerson, 2019). Aussagekräftige Studien mit suchtbezogenen verhaltenspräventiven Outcomes im Kindes- und Jugendalter (zum Beispiel Initiation und Eskalation von Konsumverhalten) sowie klinische Studien zur Suchtbehandlung im Kindes- und Jugendalter fehlen derzeit völlig.

Die bisher weitestgehend ungeklärte Frage, ob Achtsamkeitsübungen auch substanzkonsumbezogene Risiken bei Kindern und Jugendlichen verringern und mögliche Effekte über selbstregulatorische Risikofaktoren vermittelt werden steht im Zentrum des IMAC-Mind Verbundes. Im Rahmen des vorliegenden Themenheftes Jugend und Sucht stellen wir die Verbundbeteiligten sowie die achtsamkeitsbasierten Interventionsmodelle, Studienziele und Studiendesigns vor.

Ziel und Struktur des Forschungsverbundes IMAC-Mind

Dieser Abschnitt des Beitrags ist in Teilen übernommen aus Arnaud, Banaschewski et al., 2020.

Übergeordnetes Ziel von IMAC-Mind ist es, die Prävention und therapeutische Versorgung von Suchtstörungen und damit verbundenen psychischen Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu verbessern. Der Schwerpunkt liegt dabei auf der Erforschung neurobehavioraler Risikofaktoren und der Verringerung substanzkonsumbezogener Entwicklungsrisiken durch achtsamkeitsorientierte Ansätze. In den insgesamt neun Teilprojekten sollen (1) die Entwicklungsbedingungen von Suchtstörungen von der pränatalen Phase bis zur späten Adoleszenz untersucht, (2) diese Erkenntnisse in entwicklungsangepasste achtsamkeitsorientierte präventive und therapeutische Interventionen für verschiedene Populationen überführt und deren Durchführbarkeit und Wirksamkeit überprüft, sowie (3) die Prävalenz von substanzbezogenen Störungen im Kindes- und Jugendalter geschätzt werden. Zudem ist ein Institut für Medizinische Biometrie beteiligt, welches die einzelnen Teilprojekte methodisch unterstützt. Für ein Schema der Struktur des Konsortiums siehe Abbildung 1.

Abbildung 1 Struktur des IMAC-Mind Konsortiums.

Die IMAC-Mind Teilprojekte

Die Teilprojekte 1 und 2 (Mechanismen und Ätiologie, Mannheim) sind eng miteinander verzahnt. In Teilprojekt 1 (Identification of early bio-psycho-social risks and resilience factors and etiological pathways to adolescent addictive behavior) werden multifaktorielle Risiko- und Resilienzprofile anhand einer Zusammenführung und aggregierten Analyse vorhandener und teils noch laufender prospektiver längsschnittlicher Kohortenstudien getestet. Betrachtet wird ein breites Spektrum individueller, sozialer und (bio)psychologischer Einflussgrößen für die Entwicklung des jugendlichen Suchtverhaltens. Die Analysen sollen ein erweitertes Verständnis für den Verlauf von Suchtverhalten und Hinweise für den möglichen Nutzen achtsamkeitsorientierter Interventionsmaßnahmen liefern.

In Teilprojekt 2 (Translation of neurobehavioral risk profiles into the development of screening and prevention tools in a mechanism-based approach) sollen auf Basis neuropsychologischer und neurobiologischer Analysen die Mechanismen der Affektregulation, Belohnungssensitivität, Impulsivität und emotionalen Reaktivität in ihrer Bedeutung für missbräuchlichen Substanzkonsum in einer normativen Stichprobe Jugendlicher untersucht werden. Darauf aufbauend werden neue elektronische bzw. App-basierte Screening-, sowie Präventions- und Interventionsmodule für den alltäglichen sozialen Kontext der verschiedenen Zielgruppen entwickelt („Ecological Momentary Interventions“, EMI).

Die klinischen Teilprojekte 3 bis 7 entwickeln spezifische achtsamkeitsorientierte Interventionsmodelle für verschiedene Zielgruppen. In Teilprojekt 3 (Reducing stress and substance use in pregnant women to improve the children’s later mental health) wird ein 15-wöchiges, App-basiertes und achtsamkeitsorientiertes Programm zur Verminderung von Stress sowie Alkohol- und Tabakkonsum bei schwangeren Frauen entwickelt und in einer randomisiert-kontrollierten Studie überprüft (eine ausführliche Beschreibung des Studiendesigns, der Methodik einschließlich der Ein- und Ausschlusskriterien findet sich bei Lenz et al., 2018). Grundlage sind Forschungsergebnisse, die zusammengenommen zeigen, dass Stress, Alkoholkonsum und Tabakrauchen bei Schwangeren zu einer erhöhten pränatalen Androgenbelastung beiträgt, was das Risiko einer verminderten Selbstregulationsfähigkeit, sowie der Entwicklung von Suchterkrankungen und anderen psychischen Problemen im späteren Leben erhöht (siehe Beitrag Lenz, Eichler, Buchholz & Kornhuber, 2021).

Teilprojekt 4 (Prevention of substance abuse and mental disorders for children by the mindfulness-augmented “Trampoline” program) wendet sich Kindern von substanzmissbrauchenden Eltern zu. Sie sind einem besonders hohen Risiko ausgesetzt, substanzbezogene Sucht- und weitere psychische Störungen zu entwickeln. Entsprechend relevant ist diese vulnerable Zielgruppe für präventive Interventionen. Im Rahmen des Projektes wird das speziell für die Bedürfnisse dieser Hochrisikogruppe entwickelte und empirisch untersuchte „Trampolin“-Gruppenprogramm (Klein, Moesgen, Bröning & Thomasius, 2013) um achtsamkeitsbasierte Elemente erweitert („Trampolin-Mind“) und in einer Pilotstudie in seiner Machbarkeit für Kinder im Alter von 8 bis 12 Jahren im Sucht- und Jugendhilfesetting untersucht (für ausführliche Informationen siehe Moesgen, Ise, Dyba & Klein, 2019).

In Teilprojekt 5 (Prevention of substance use by mindfulness-based interventions in children and adolescents with intellectual disabilities) wird im Rahmen einer zweiphasigen Machbarkeitsstudie geprüft, ob und mit welchen Effektstärken achtsamkeitsorientierte Präventionsmaßnahmen für Jugendliche mit einer Lernbehinderung durchgeführt werden können. Insbesondere lernbehinderte Jungen haben ein erhöhtes Risiko für Alkoholmissbrauch (siehe Waedel, Manhart, Arnaud & Reis, 2021). Die achtsamkeitsbezogenen Übungen zielen darauf, durch eine Verbesserung der individuellen kognitiv-affektiven Verhaltensregulation Eskalationen im Alkoholkonsum zu verzögern und sollen im Feld (Ambulanz, Schule, Einrichtungen der Jugendhilfe) mit einem personalisierten Ansatz (Einzeltraining) durchführbar sein (ausführlich bei Waedel, Daubmann, Zapf & Reis, 2020).

Im Rahmen des Teilprojekt 6 (Substance use prevention in adolescence by the mindfulness-augmented Strengthening Families Program 10–14) wird die Durchführbarkeit und Effektivität des um Achtsamkeitselemente erweiterten „Familien stärken“-Programms („Strengthening Families Program 10–14“, Baldus et al., 2016) hinsichtlich einer präventiven Wirkung auf den jugendlichen Substanzkonsum und weitere individuelle und familienbezogene Risiko- und Schutzfaktoren im Vergleich zur bisherigen Standardversion des Programms überprüft (ausführlich bei Arnaud, Baldus et al., 2020. Aufgrund der Kontaktbeschränkungen während der COVID-19 Pandemie wurde die Methodik der Studie erheblich angepasst und das Multifamilienprogramm in eine digitale Variante überführt, die im Rahmen einer Pilotstudie evaluiert wird (siehe Franz, Simon-Kutscher, Kunze, Bröning & Thomasius, 2022, in diesem Heft).

Die Behandlung von suchtkranken Jugendlichen im stationären kinder- und jugendpsychiatrischen Setting steht im Vordergrund des Teilprojekts 7 (Effects of mindfulness-based psychotherapy in adolescent in-patient treatment for substance use disorders). Ziel der randomisiert-kontrollierten Studie ist es, die Machbarkeit und den zusätzlichen Behandlungseffekt einer auf Achtsamkeit basierenden Gruppenpsychotherapie („Mind it!“) im Vergleich zur derzeitigen Standardbehandlung zu bewerten (siehe Baldus et al., 2022, in diesem Heft sowie das ausführliche Studienprotokoll bei Baldus et al., 2018).

Zum Verbundvorhaben gehören außerdem die Umsetzung des epidemiologischen Teilprojektes 8 (Estimation of prevalence of substance use disorders in youths) sowie die methodische und statistische Begleitung des Verbundes im Rahmen von Teilprojekt 9. Ziel der epidemiologischen Untersuchung ist die Schätzung der Prävalenz substanzbezogener Störungen in einer repräsentativen Stichprobe von 4000 Kindern und Jugendlichen. Hier gibt es derzeit einen Mangel an aktuellen Daten, die etwa für eine verbesserte Bedarfsplanung in der Krankenversorgung und die Abschätzung der Inanspruchnahme/ Erreichbarkeit von Hilfen benötigt werden. Schwerpunkt der Tätigkeit im Methodenzentrum ist die regelmäßige methodische und statistische Beratung der klinischen Teilprojekte 3–7, einschließlich der Erstellung der Randomisierungspläne für die klinischen Studien, Unterstützung und Qualitätskontrolle im Datenmanagement sowie Beratung und Unterstützung bei den Datenanalysen. Die organisatorische Koordination der vernetzten Projektaktivitäten erfolgt über eine zentralisierte Infrastruktur (Teilprojekt 0).

Ausblick

Die Projekte im Forschungsverbund IMAC-Mind sind bereits im Dezember 2017 angelaufen und nähern sich dem ursprünglich geplanten Laufzeitende. Zwischenergebnisse konnten bereits auf nationalen und internationalen Fachkongressen und teilweise auch im Rahmen dieses Themenheftes (vgl. Prignitz, Guldner & Nees, 2021; Lenz et al., 2021; Waedel et al., 2021; Baldus et al., 2022; Franz et al., 2022) vorgestellt werden. In den Projekten 1 und 2 wurden die komplexen vorhandenen Datensätze parallelisiert und die Voraussetzungen für neue, integrierte Analysen geschaffen. Unter anderem zeigt sich im Rahmen Smartphone-basierter ambulanter Assessments („Ecological Momentary Assessment“), dass achtsamkeitsnahe Variablen (wie etwa das Ausmaß ruminativer Gedanken und Stressverarbeitung im Vorfeld des Konsums oder Trait-Mindfulness die Interaktion von neurobehavioralen Mechanismen und Konsumverhalten modulieren können (Prignitz et al., 2021). Die nun laufende synthetisierte Analyse auf Basis multivariater Verfahren bietet die Möglichkeit, vorhandenes Forschungswissen zur Suchtentwicklung und -aufrechterhaltung zu bündeln und weiterzuentwickeln.

In den klinischen Projekten (3–7) sind Interventionsmodelle unter Berücksichtigung der jeweiligen Zielgruppenbedürfnisse, teils in adaptiven Verfahren (Projekt 5) entwickelt und erfolgreich in den jeweiligen Zielgruppen pilotiert worden. Die adressierten Populationen umspannen die für Suchtentstehung wichtigen Lebensphasen von der pränatalen Phase bis zur späten Adoleszenz, einschließlich spezieller Risikogruppen und einer Behandlungspopulation (Projekt 7).

Allerdings sind die Teilprojekte durch den Ausbruch der SARS-COV-2 Pandemie und den damit verbundenen Kontaktbeschränkungen seit März 2020 in ihrer Durchführung erheblich beeinträchtigt worden. Wie in praktisch allen versorgungsnahen Studien (vgl. https://www.medrxiv.org/content/10.1101/2020.08.14.20174888v1) lagen die Schwierigkeiten vor allem bei der Datenerhebung und der Durchführung geplanter Interventionen, insbesondere in den für ein Gruppensetting konzipierten klinischen Projekten. Um wissenschaftlichen Schaden zu begrenzen sind in Folge Rekrutierungs- und Datenerhebungsmethoden und, wo möglich, auch Interventionsmodelle digitalisiert und Studiendesigns teilweise substanziell angepasst worden. Die gravierendste Abweichung vom originalen Studiendesign betrifft die Überführung der als RCT geplanten Evaluation des Multifamilienprogramms „Familien achtsam stärken“ (Projekt 6) in die Pilotstudie einer digitalisierten Programmversion (siehe Franz et al., 2022). Erfreulicherweise sind die IMAC Teilprojekte mehrheitlich in ihrer Laufzeit verlängert worden.

Daher kann weiterhin davon ausgegangen werden, dass mit den Verbundaktivitäten ein wichtiger Beitrag zur Verbesserung der Prävention und therapeutischen Versorgung von Suchtstörungen und weiterer damit verbundener prävalenter psychischer Störungen bei Jugendlichen erreicht werden kann. Die in ihrer methodischen Qualität hochwertigen Projekte im Verbund ermöglichen trotz einiger Einschränkungen ein erweitertes Verständnis der Entwicklungsbedingungen und Risikoprofile von Suchtstörungen und stellen dieses in den Kontext achtsamkeitsbezogener Prozesse und deren Relevanz für Prävention und Intervention. Hierbei spielt die Integration aktueller neurobehavioraler Erkenntnisse in neue und weiterentwickelte achtsamkeitsbasierte Interventionen für vulnerable Populationen und Entwicklungsphasen eine zentrale Rolle.

Literatur