Skip to main content
Open AccessOriginalarbeit

Jugendliches Alkoholkonsumverhalten während der COVID-19-Pandemie und die Bedeutung von Achtsamkeit

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000734

Abstract

Zusammenfassung.Zielsetzung: Kognitive und psychosoziale Faktoren können zu individuellen Veränderungen im Alkoholmissbrauch beitragen und führen im Jugendalter zu einer erhöhten Vulnerabilität. In diesem Kontext spielt die aktuelle COVID-19 Pandemie eine wichtige Rolle. In der aktuellen Studie wird untersucht, ob ein Anstieg negativer Gedanken in der Pandemie einen Risikofaktor für einen erhöhten Alkoholkonsum darstellt und welche Rolle hierbei Achtsamkeit spielt. Methodik: An der Untersuchung nahmen 72 Jugendliche (36 weiblich, Alter 15.13 ± 1.0 Jahre) teil, von denen N = 21 einen Onlinefragebogen vollständig während der ersten Lockdown-Phase der Pandemie (Frühjahr 2020) und dem Übergang in die zweite Welle im Abstand von jeweils 14 Tagen und über 6 Wochen zu ihrem Alkoholkonsum, Kognitionen, Emotionserleben und ihrer sozialen Belastung ausfüllten. Ergebnisse: Während sich der Alkoholkonsum der Jugendlichen im Verlauf der Pandemie nicht signifikant veränderte, zeigten sich deutlichere Veränderungen in den kognitiven und psychosozialen Belastungen der Jugendlichen. Negative Gedanken waren hierbei ein signifikanter Prädiktor für den Alkoholkonsum zu Beginn der zweiten COVID-19-Welle (b = 1.314, p < .01). Dieser Zusammenhang wurde durch Trait-Achtsamkeit signifikant moderiert (b = -.283, p < .01). Diskussion: Negative Gedanken scheinen ein wichtiger Faktor für das Alkoholkonsumverhalten im ersten Verlauf der COVID-19 Pandemie zu sein und könnten somit das Risiko eines Alkoholmissbrauchs im weiteren Verlauf der Pandemie deutlich erhöhen. Achtsamkeit scheint solchen negativen Entwicklungen entgegenwirken zu können.

Adolescence Alcohol Use Behaviours During the COVID-19 Pandemic and the Role of Mindfulness

Abstract.Objective: Cognitive and psychosocial factors contribute to individual differences in alcohol (mis)use and increase the risk of alcohol abuse during adolescence. In this context, the COVID-19 pandemic is of high importance. The current study investigates whether an increase in negative thoughts during the COVID-19 pandemic is a risk factor for heightened alcohol use, and the extent to which mindfulness plays a role. Methods: We examined 72 adolescents (36 female, age 15.13 ± 1.0 years), with N = 21 completing an online survey over 6 weeks, with an interval of 14 days, during the first lock-down in Germany (Spring 2020) and the transition into the second wave, to examine alcohol use, emotional factors and social burdens during the COVID-19 pandemic. Results: While alcohol use did not significantly change during the first wave of the pandemic, more clear changes were observed for cognitive and psychosocial factors. Negative thoughts at the end of the first lock down hereby significantly predicted alcohol use at the beginning of the second wave (b = 1.314, p < .01). Trait mindfulness served as a significant moderator in this context (b = -.283, p < .01). Conclusion: Negative thoughts seem to play an important role for alcohol use during the first wave of the COVID-19 pandemic and could therefore increase the risk of substance abuse considerably in the following course of the pandemic. Mindfulness seems to counteract such negative developments.

Identifikation neurobehavioraler Risiko- und Resilienzprofile des Suchtverhaltens bei Jugendlichen (TP1) & Entwicklung von suchtrelevanten Screening und Präventionsinstrumenten in einem mechanismen-orientierten Ansatz (TP2)

Zusammenfassung der Teilprojekte 1 und 2 im IMAC-Mind Verbund: Die bisherige Forschung hat eine Reihe von Faktoren identifiziert, die vermutlich zu individuellen Unterschieden in der Vulnerabilität für Substanzmissbrauch und -abhängigkeit beitragen. Diese Faktoren erstrecken sich über soziale, neurobiologische sowie psychologische Bereiche und scheinen vor allem im Jugendalter, als ein kritischer Lebensbereich für die Entwicklung psychischen Störungen, von besonderer Bedeutung zu sein. Ca. 34 % der in Therapie zur Behandlung einer Substanzabhängigkeit befindlichen Personen sind unter 25 Jahren und 55 % der männlichen 18-Jährigen zeigen bereits einen gefährlichen Alkoholgebrauch.

Basierend auf einem Mechanismen orientierten Ansatz für psychische Störungen, zielen wir in zwei Projekten (TP1 und TP2) des IMAC-Mind Verbundes („Improving Mental Health and Reducing Addiction in Childhood and Adolescence through Mindfulness: Mechanisms, Prevention and Treatment“; https://www.imac-mind.de) darauf ab, a) diese Vulnerabilitäts- und Resilienzfaktoren für Suchterkrankungen weiter anhand biopsychosozialer Komponenten zu klassifizieren, und b) evidenzbasierte Screening- und Präventionsinstrumente zu entwickeln, die Impulsivität, Belohnungsabhängigkeit und negative Affektivität auf neuronaler Ebene bei Kindern und Jugendlichen erfassen und es den Kindern und Jugendlichen ermöglichen sollen, diese zu regulieren.

Dies erfolgt durch den Rückgriff auf verschiedene längsschnittlich untersuchte Kohorten und die Bündelung der erhobenen individuellen, Umwelt- und neurobiologischen Datensätze entlang der folgenden zentralen Konstrukte: Selbstregulation, Belohnungssensitivität, Impulsivität und emotionale Reaktivität.

Darüber hinaus werden Familiengeschichte, negative Lebensereignisse, soziale und genetische Faktoren sowie Komorbiditäten (Depression, Angst) untersucht und bezüglich Suchtverhalten und Substanzmissbrauch evaluiert. Die Daten der verschiedenen Längsschnittstudien werden entlang eines multimodalen Ansatzes integriert und kreuzvalidiert.

Die zu untersuchenden Mechanismen stellen dabei auch zentrale Komponenten achtsamkeitsbasierter Mediation und Intervention dar, welche auf die Verbesserung der Aufmerksamkeitskontrolle, Emotionsregulation und Bewusstsein für das Selbst abzielt.

In diesem Zusammenhang ist es auch wichtig, auf Strategien zu fokussieren, die im Alltag Anwendung finden können und somit eine hohe ökologische Validität besitzen, und die nicht durch retrospektive oder generalisierte Reaktionen beeinflusst sind, sondern dynamische Prozesse abbilden und intraindividuelle Variabilität erfassen können. Diese zentralen Bereiche werden auf Verhaltens- und neuronaler Ebene definiert und durch Computer/ Internet/Smartphone basierte Technologie für die Entwicklung der Screening- und Präventionsinstrumente („Ecological Momentary Assessment“ [EMA], „Ecological Momentary Intervention“ [EMI]) eingesetzt, die leicht zu handhaben sind und eine personalisierte Intervention ermöglichen.

Einführung

Die Risiken für die Entstehung von Substanzmissbrauch und Sucht sind multifaktoriell und häufig kumulativ (z. B. Appleyard, Egeland, van Dulmen & Sroufe, 2005). Sie umfassen Faktoren wie das soziale Umfeld, neurobiologische und psychologische Prozesse (Conrod & Nikolaou, 2016). Hierbei spielen Mechanismen wie Belohnungssensitivität, Impulskontrolle, Risikobereitschaft und emotionale Regulation eine wichtige Rolle (z. B. Nees et al., 2012), aber auch das emotionale Erleben und kognitive Faktoren wie vermehrt auftretende negative Gedanken können das Alkoholkonsumverhalten negativ beeinflussen (Heinrich, Schumann, Flor & Nees, 2016; Nees et al., 2012; Whelan et al., 2014; White, Xie, Thompson, Loeber & Stouthamer-Loeber, 2001; Disner, Beevers, Haigh & Beck, 2011). Solche Faktoren sind vor allem im Jugendalter zentral, wo der Konsum von Alkohol häufig seinen Anfang nimmt (Wittchen et al., 2008; Brown, et al., 2008; Swendsen et al., 2012) und rapide klinisch bedeutsam werden kann (Wittchen et al., 2008): 34 % der Suchtpatienten in Behandlung sind unter 25 Jahre alt und ca. 55 % der männlichen 18-Jährigen zeigen bereits einen kritischen Alkoholgebrauch mit fünf oder mehr alkoholischen Getränken hintereinander (EMCDDA, 2011). Dies unterstreicht die Notwendigkeit der Entwicklung geeigneter Screening-, Präventions- und Interventionsinstrumente, die früh im Jugendalter ansetzen und auf für das Alkoholkonsumverhalten kritischen neurokognitiven und psychosozialen Mechanismen aufbauen (Zielsetzung in Teilprojekt 2 des IMAC-Mind Verbundes). Eine weitere mögliche Einflussgröße könnten achtsamkeitsorientierte Prozesse bzw. interindividuelle Unterschiede in dispositioneller (Trait-)Achtsamkeit sein (Karyadi, VanderVeen & Cyders, 2014), welche den Alkoholkonsum über die Assoziation mit den genannten Mechanismen mitbestimmen könnte. Trait-Achtsamkeit wird vermehrt als wichtiger Resilienzfaktor bei Substanzmissbrauch und -sucht im Jugendalter diskutiert (Christopher, Ramsey & Antick, 2013; Bowen & Enkema, 2014) und scheint mit den zuvor genannten Mechanismen wie Impulskontrolle und Emotionsregulation assoziiert zu sein (Oberle, Schonert-Reichl, Lawlor & Thompson, 2012; Lyvers, Makin, Toms, Thorberg & Samios, 2014). Dies bedeutet, dass achtsamkeitsbezogene Aspekte auch für die Prävention und Intervention von Alkoholmissbrauch wirkungsvolle Ansatzpunkte bieten könnten (Goldberg, Riordan, Sun & Davidson, 2021; Dunning et al., 2019; Cavicchioli, Movalli & Maffei, 2018). In diesem Zusammenhang ist es des Weiteren von großer Bedeutung, die Verläufe des Alkoholkonsumverhaltens zu charakterisieren, um so Prädiktoren und Moderatoren genauer bestimmen zu können. Dies kann durch den Rückgriff auf und die Bündelung von längsschnittlichen Kohorten realisiert werden, deren Daten dann entlang multimodaler Ansätze integriert und kreuzvalidiert werden können (Zielsetzung in Teilprojekt 1 im IMAC-Mind Verbund).

Im Kontext solcher Risikofaktoren wird aktuell auch die COVID-19-Pandemie als eine sensible Phase für die Entwicklung eines Alkoholmissbrauchs diskutiert. Forderungen nach geeigneten und wirkungsvollen, individuell angepassten Präventions- und Interventionsmaßnahmen werden daher momentan umso lauter (Figueiredo et al., 2021; Galea, Merchant & Lurie, 2020). Sie sollen helfen Kinder und Jugendliche rechtzeitig vor möglichen negativen Entwicklungen durch die multifaktorielle Belastung der Pandemie zu schützen (Ellis, Dumas & Forbes, 2020). Die Pandemie hat bereits jetzt einen deutlichen Einfluss auf das alltägliche Leben, vor allem hinsichtlich psychosozialer Faktoren wie beispielsweise Isolation und depressiver Symptome, die bisher als kritisch für einen erhöhten Alkoholkonsum identifiziert werden konnten (Le et al., 2021; Bravo et al., 2018). Bereits kurz nach Beginn der Pandemie in China zeigten sich dort bis zu 40 % der Jugendlichen starken negativen emotionalen Belastungen ausgesetzt (Liang et al., 2020). Hierbei scheint sich vor allem auch die Isolation im Rahmen von Lockdown-Maßnahmen und die dadurch entstehende vermehrte Einsamkeit negativ auf die kognitive und emotionale Belastung auszuwirken (Ensel & Lin, 1991; Saltzman, Hansel & Bordnick, 2020). Das vermehrte Auftreten depressiver Symptomatik scheint auch einen Risikofaktor für einen erhöhten Alkoholkonsum in der Pandemie darzustellen (Dumas, Ellis & Litt, 2020). Die Häufigkeit des Alkoholkonsums scheint bei jungen Menschen in der COVID-19 Pandemie generell zu steigen und dies nicht nur bei virtuellen Zusammenkünften mit der Peer-Gruppe, sondern vor allem auch in Situationen, wenn die Jugendlichen alleine waren (Dumas et al., 2020), und wurde verstärkt, wenn bei Jugendlichen prä-pandemisch bereits depressive Symptome vorlagen (Dumas et al., 2020), was wiederum das Stresserleben negativ zu beeinflussen scheint (Shanahan et al., 2020).

Welche Faktoren in dieser Hinsicht spezifisch durch die COVID-19 Pandemie wirken ist bisher, vor allem im Jugendalter, allerdings noch nicht hinreichend untersucht. Bezüglich depressionsbezogener Faktoren haben sich negative Gedanken und -prozesse schon länger als zentraler Faktor gezeigt (z. B. Disner et al., 2011) und sorgen hierbei für erhöhten Stress (Engert, Smallwood & Singer, 2014). Bisher ist jedoch noch nicht klar, wie sich kognitive und psychosoziale Faktoren bei Jugendlichen im Verlauf der durch die Pandemie hervorgerufenen Lockdown-Phasen hinweg verändern, ob diese den Alkoholkonsum in diesen Phasen mitbestimmen und welche Resilienzfaktoren hierbei eine Rolle spielen könnten.

Die aktuelle Studie fokussierte auf negative Gedanken und deren Einfluss auf Veränderungen im Alkoholkonsum über die erste Lockdown-Phase der Pandemie. Hierbei gehen wir von einem positiven Zusammenhang zwischen der Stärke negativer Gedanken und dem Konsum von Alkohol aus. Des Weiteren möchten wir untersuchen, ob dieser mögliche positive Zusammenhang durch Trait-Achtsamkeit, welche als Resilienzfaktor wirken könnte, moderiert wird.

Methodik

Stichprobe und Durchführung

Die Rekrutierung der Teilnehmenden erfolgte über Werbung an Schulen der Metropolregion Rhein-Neckar und in sozialen Netzwerken, sowie über das Einwohnermeldeamt der Stadt Mannheim. Für die Teilnahme an der in TP2 übergeordneten MRT-Untersuchung war es erforderlich, dass die Teilnehmer keine Probleme mit der deutschen Sprache hatten, Rechtshänder waren, keine psychischen oder akuten/ chronischen körperlichen Erkrankungen angaben und keine Medikamente einnahmen. Von den in TP2 erhobenen 72 Jugendlichen (48 % weiblich, Durchschnittsalter 15.11 ± 1.0 Jahre) nahmen 21 Teilnehmende (14 weiblich, Durchschnittsalter 15.14 ± 1.014 Jahre) vollständig an der mehrwelligen Online-Befragung zu COVID-19 teil. Eine Übersicht über die Gesamt- und die COVID-19-Stichprobe findet sich in Tabelle 1. Die Teilstichprobe, die an der COVID-19-Befragung teilnahm, unterschied sich weder im Alter (t(69) = .087, p > .05), der Geschlechterverteilung (t(69) = 1.757, p > .05), dem allgemeinen Alkoholkonsum (t(72) = -.837, p > .05) noch der Trait-Achtsamkeit (t(72) = .423, p > .05) von der Teilstichprobe, die nicht an der COVID-19-Befragung teilnahm.

Tabelle 1 Übersicht über Verteilung und Mittelwerte der Gesamtstichprobe in TP2 und der Teilstichprobe der COVID-19-Befragung

Die Daten wurden in der Rhein-Neckar Metropolregion vom 16.04.2020 bis 19.11.2020 erhoben. Die erste harte Lockdown-Phase in Deutschland begann am 22.03.2020 und endete am 04.05.2020 mit ersten Lockerungen (Bundesregierung Deutschland, 2021). Die ersten vier Messzeitpunkte lagen somit innerhalb der ersten COVID-19-Welle, die laut Robert-Koch Institut (2021) von Januar bis Mitte Juni 2020 andauerte. Der fünfte Messzeitpunkt wurde im Abstand von vier Monaten erhoben, als die Inzidenzzahlen in Deutschland im Rahmen der zweiten COVID-19-Welle wieder anstiegen (November 2020 bis Februar 2021; Robert-Koch Institut, 2021) und der „Lockdown light“ mit Beginn zum 02.11.2020 von der Bundesregierung beschlossen wurde (Bundesregierung Deutschland, 2021). Zum Zeitpunkt des ersten Lockdowns wurde in der Rhein-Neckar Metropolregion unter anderem ein Kontaktverbot erlassen. Hierzu zählten das Einhalten eines Mindestabstandes zur nächsten Person von mindestens 1,5 Metern und die Begrenzung der Personenzahl, die sich im öffentlichen oder privaten Raum treffen durfte. Des Weiteren wurden Groß- und Privatveranstaltungen untersagt und eine Maskenpflicht für das Betreten von Geschäften und dem Öffentlichen Personennahverkehr erlassen. Außerdem wurden Schulen und Kindertagesstätten geschlossen (Bundesregierung Deutschland, 2021).

Die längsschnittliche Befragung wurde anonym als Onlinebefragung durchgeführt und durch die Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Mannheim der Universität Heidelberg genehmigt. Für die Erhebung der COVID-19-Daten wurden die Teilnehmenden der Studie in TP2 zum Beginn des ersten Lockdowns in Deutschland per Mail kontaktiert, ausführlich über den Zweck der Untersuchung aufgeklärt und um Mitwirkung an der COVID-19-Befragung gebeten. Nach schriftlicher Einwilligung der Sorgeberechtigten und der Jugendlichen, erhielten die Teilnehmenden via Mail einen Link zu der Online-Erhebungsplattform SoSci Survey (Leiner, 2019), wo sie mit einem persönlichen Teilnehmercode die Befragung am heimischen Computer starten konnten.

Instrumente

Die Auswirkungen der COVID-19-Pandemie wurden über das Coronavirus Health Impact Survey (CRISIS) V0.1 (Nikolaidis et al., 2021) in deutschsprachiger Form erfasst. Der CRISIS umfasst Fragen zu depressionsbezogenen (z. B. Konzentration, Sorge, Unruhe) und sozialen Faktoren (z. B. Einsamkeit), sowie zu verschiedenen psychischen Störungen und durch COVID-19 ausgelöste Veränderungen im alltäglichen Erleben. Für die aktuelle Studie haben wir die Fragen zu negativen Gedanken sowie die Angaben zum Alkoholkonsum („Während der letzten 14 Tage: Wie viel und häufig hast du Alkohol konsumiert?“; 5-stufige Antwortskala von 1 = „überhaupt nicht“ bis 5 = „regulär – Wie viele Einheiten pro Woche?“) herangezogen. Die Erfassung negativer Gedanken erfolgte mittels eines einpoligen Items („Während der letzten 14 Tage: inwieweit hattest du negative Gedanken und hast über unangenehme Erfahrungen oder Dinge nachgedacht, die dir ein schlechtes Gefühl geben?“; 5-stufige Antwortskala: 0 = „überhaupt nicht“ bis 4 = „die meiste Zeit“). Weitere Beispielitems des CRISIS-Fragebogens finden sich im Elektronischen Supplement (ESM) 1.

Der allgemeine Alkoholkonsum vor der Pandemie wurde mit dem Alcohol Use Disorder Identification Test (AUDIT) von Babor und Grant (1989) erfasst. Der AUDIT umfasst 10 Items, die auf einer 5-stufigen Skala beantwortet werden (z. B. „Wie oft haben Sie an einem Tag mehr als 6 alkoholische Getränke getrunken?“).

Achtsamkeit wurde mit der Mindful Attention Awareness Scale - Adolescents (MAAS-A; Brown, West, Loverich & Biegel, 2011) in deutscher Fassung erhoben. Der Fragebogen erfasst Achtsamkeit unidimensional über 14 Items, die auf einer sechsstufigen Likert-Skala von 1 = „fast immer“ bis 6 = „fast nie“ bewertet werden (Beispiel-Item: „Ich hetze durch Aktivitäten, ohne wirklich aufmerksam für sie zu sein“).

Statistische Auswertung

Zur Analyse der Unterschiede im Alkoholkonsum sowie der negativen Gedanken über die erste Lockdown-Phase wurden Messwiederholungsmodelle berechnet. Mittels Korrelationsanalyse wurden die Zusammenhänge zwischen negativen Gedanken während der ersten Lockdown-Phase (Messzeitpunkte 1-4) und dem Alkoholkonsum zu Beginn der zweiten Welle (Messzeitpunkt 5) ermittelt. Schließlich wurde die Rolle von Achtsamkeit auch bezüglich einer möglichen prädiktiven Eigenschaft negativer Gedanken während der Lockdown-Phase (Messzeitpunkt 4 /Follow Up 3 (FU3)) auf den Alkoholkonsum zu Beginn der 2. Welle (Messzeitpunkt 5 (FU4)) mittels eines Regressionsmodells untersucht (Prädiktor: Negative Gedanken zu FU3, Kriterium: Alkoholkonsum zu FU4, Moderator: Achtsamkeit). Neben Alter und Geschlecht wurde auch für Alkoholkonsum und Negative Gedanken vor COVID-19 kontrolliert, um präpandemische Unterschiede in Alkoholkonsum und negativen Gedanken herauszurechnen.

Alle Analysen wurden mittels SPSS für Windows, Version 25.0 (IBM Corporation, 2017) und des SPSS Ergänzung-Werkzeug PROCESS macro Version 3.4 (Hayes, 2017) durchgeführt und mit einem Signifikanzniveau von p <.05 berechnet.

Ergebnisse

Die Messwiederholungsmodelle für Alkoholkonsum (F5.85 = 1.296, p = .273, η2 = .071) und negative Gedanken (F5.85 = 1.997, p = .087, η2 = .105) wurden nicht signifikant (beide p > .05). Die Verläufe von Alkoholkonsum und negativen Gedanken sind in Abbildung 1 dargestellt. Die Verläufe weiterer psychosozialer Faktoren, die mit dem CRISIS Fragebogen erfasst wurden, finden sich zur Information in ESM 2 und 3.

Abbildung 1 Zeitlicher Verlauf für den Alkoholkonsum (1 = „überhaupt nicht“ bis 5 = „regulär“) und negative Gedanken (0 = „überhaupt nicht“ bis 4 = „die meiste Zeit“) während der COVID-19-Befragung über alle Befragungszeitpunkte hinweg, dargestellt für jeden der N = 21 Teilnehmenden. Regressionslinien bilden den allgemeinen Trend über alle Messzeitpunkte ab. Messwiederholungsmodelle wurden nicht signifikant (beide p > .05).

Es zeigten sich signifikante Korrelationen zwischen dem Alkoholkonsum zu FU4 und negativen Gedanken zu Baseline, FU1 und FU3 (siehe Tabelle 2). Die Korrelationen weiterer psychosozialer Faktoren, die mit dem CRISIS Fragebogen erfasst wurden, finden sich zur Information in ESM 4.

Tabelle 2 Partielle Korrelationen zwischen den Erhebungszeitpunkten negativer Gedanken der COVID-19-Befragung kontrolliert für Alter, Geschlecht und AUDIT

Zudem zeigte sich ein signifikanter Moderationseffekt von Achtsamkeit auf die Vorhersage des Alkoholkonsums zu FU4 durch negative Gedanken (Negative Gedanken FU3: b = 1.314, p < .01, Achtsamkeit: b = .523, p < .05, Alkohol vor COVID-19: b = .352, p < .001, Interaktionseffekt (Moderation) zwischen Negative Gedanken FU3 x Achtsamkeit: b = -.283, p < .01) (siehe Tabelle 3 und Abbildung 2). Die Zusammenfassung entsprechender Moderationsmodelle für die weiteren Faktoren des CRISIS Fragebogens findet sich zur vollständigen Information in ESM 5 und 6.

Abbildung 2 Moderationsmodell für negative Gedanken zu FU3 und Alkoholkonsum zu FU4 moderiert durch Achtsamkeit (MAAS-A). Höherer MAAS-A-Wert entspricht höherer Achtsamkeit. Regressionsgleichungen sind für jede MAAS-A-Gruppe abgetragen und bilden den allgemeinen Trend der Gruppe ab.
Tabelle 3 Modell für die Moderation des Zusammenhangs zwischen negativen Gedanken zu FU3 und Alkoholkonsum zu FU4 mit MAAS-A

Diskussion

Ziel der aktuellen Studie war es, negative Gedanken im Verlauf der durch die Pandemie hervorgerufenen ersten Lockdown-Phase bei Jugendlichen zu charakterisieren und deren Auswirkungen auf den Alkoholkonsum zu Beginn der zweiten Welle, sowie die Rolle von Achtsamkeit als einen möglichen Resilienzfaktor zu untersuchen.

Über die Befragungszeitpunkte hinweg zeigte sich kein signifikanter Anstieg im Alkoholkonsum, sondern dieser blieb in der ersten Lockdown-Phase bei den untersuchten Jugendlichen eher stabil. Auch in negativen Gedanken zeigte sich kein signifikanter Anstieg über die erste Lockdown-Phase hinweg, jedoch zeigte sich ein genereller negativer Trend – auch bei psychosozialen Faktoren und im emotionalen Erleben (siehe ESM 2 und 3), die sich alle im Verlauf verschlechterten.

Eine mögliche Erklärung für den relativ stabilen Verlauf des Alkoholkonsums könnte darin liegen, dass die Restriktionen durch die Ausgangssperre und das Kontaktverbot die Gelegenheiten zum Alkoholkonsum gerade in dieser ersten Lockdown-Phase doch deutlich minimierten. Gleichzeitig ist jedoch auch hervorzuheben, dass der Alkoholkonsum über diese Zeitspanne, trotz der Einschränkungen, nicht abnahm. Unter diesem Gesichtspunkt sind die zu beobachteten Veränderungen in negativen Gedanken (Abbildung 1) nochmals stärker hervorzuheben. Auch wenn sich in der aktuellen Studie nur ein Trend zeigte, könnten sie ein in der momentanen Pandemie-Phase noch verstecktes Risikopotential bergen, welches erst entscheidende negative Auswirkungen bei einer Normalisierung und/oder einem Rückgang der Pandemie hat. Dies trifft auch auf die weiteren erfassten psychosozialen Faktoren zu, die sich ebenso über die erste Lockdown-Phase hinweg teilweise stark verändern (siehe ESM 2 und 3). Diese Annahme eines erhöhten Risikopotentials wird auch dadurch untermauert, dass negative Gedanken zum Erhebungszeitpunkt FU3 (Ende Mai 2020) den Alkoholkonsum zu Beginn der zweiten COVID-19-Welle signifikant vorhersagten. Diese Ergebnisse unterstützen außerdem vorhandene Studien, die bereits eine positive Assoziation zwischen wiederholtem Grübeln und negativen Emotionen und späterem Alkoholkonsum zeigen (Bravo, Pearson & Baumgardner, 2020; Memedovic et al., 2019), sowie Befunde, wonach Alkohol als Coping-Strategie gegen erlebten Stress und Depressivität eingesetzt wird (Windle, 2000; Bravo et al., 2018), was wiederum ebenfalls mit Rumination und dem Risiko zu Problemtrinken in Zusammehang zu stehen scheint (Atkinson, Ortiz & Smith, 2020).

Geht man von einem solchen versteckten Risikopotential aus, dann ist die Identifikation möglicher Resilienzfaktoren, die solchen negativen Zusammenhängen entgegensteuern könnten, wichtig. Hierbei ist interessant zu sehen, dass Achtsamkeit solchen negativen Entwicklungen entgegenwirken könnte: Hoch achtsame Jugendliche tranken bei vermehrten negativen Gedanken weniger Alkohol, wohingegen wenig achtsame Jugendliche bei vermehrten negativen Gedanken einen erhöhten Alkoholkonsum aufwiesen (Abbildung 2). Achtsamkeit ist mit Rumination und negativen Gedanken assoziiert (z. B. Deyo, Wilson, Ong & Koopman, 2009) und die Ergebnisse stehen damit im Einklang mit früheren Studien zur Schutzfunktion von Achtsamkeit (z. B. Robinson, Ladd & Anderson, 2014; Broderick & Jennings, 2012). Ähnliche Wirkmechanismen von Achtsamkeit auf depressionsbezogene Emotionen und Alkoholkonsum konnten bereits gezeigt werden (Diehl et al., 2020; Garland, Gaylord, Boettiger & Howard, 2010).

Zusammenfassend zeigt die vorliegende Studie, dass negative Gedanken in der ersten COVID-19 Lockdown-Phase zu vermehrtem Alkoholkonsum bei Jugendlichen zu Beginn der zweiten Lockdown-Phase führen können und so sogar die Entwicklung in einen kritischen Alkoholkonsum nach dieser Phase mitbestimmen könnten. Es ist nicht auszuschließen, dass mit Andauern der Pandemie und in Ermangelung anderer Strategien zur Emotionsregulation der Alkoholkonsum bei Jugendlichen vermehrt als eine Bewältigungsstrategie eingesetzt wird. Die signifikante Rolle von Achtsamkeit legt zudem nahe, dass kognitive und psychosoziale Schnittstellen, wie sie etwa im Rahmen von TP2 des IMAC-Mind Verbundes evaluiert werden, sinnvoll in präventive Maßnahmen integriert werden könnten, um in starken Belastungssituationen einem erhöhten Alkoholkonsum frühzeitig entgegenzuwirken. Diese Maßnahmen könnten mit digitaler Technologie, beispielsweise über Smartphone Apps, implementiert und somit im Alltag einfacher einsetzbar gemacht werden. Dies ist auch eines der Hauptziele des TP2, unter Einbezug der neuropsychosozialen Mechanismen des Alkoholkonsums.

Einige Limitationen sollten bei der Interpretation der Ergebnisse Beachtung finden. Die Teilstichprobe der COVID-19-Befragung ist mit N = 21 relativ klein und weist eine niedrige Varianz im Alkoholkonsum auf. Zudem erfasst der CRISIS-Fragebogen Alkoholkonsum nur als einen Teilaspekt möglicher COVID-19-Folgen und lediglich durch ein Item, sodass präzisere Aussagen über Konsummuster der Jugendlichen (wie bspw. Binge drinking) nicht möglich sind. Zusätzliche Untersuchungen regelmäßig Alkohol konsumierender Jugendlicher mit detaillierteren Erfassungsinstrumenten für Alkoholkonsum könnten einen tieferen Einblick in den Verlauf des Alkoholkonsums und dessen Risikofaktoren über die COVID-19-Pandemie geben. Weiterhin wurden in der vorliegenden Arbeit zusätzliche mögliche Einflussgrößen, wie etwa eine mögliche restriktive Überwachung des Alkoholkonsums durch die Eltern oder andere entwicklungspsychosoziale Faktoren, wie etwa individuelle Trinkmotive (Kuntsche, Knibbe, Gmel & Engels, 2005; EMCDDA, 2011), das Netto-Einkommen des Haushalts (z. B. Goodman & Huang, 2002), oder das Alkoholkonsum- und Gesundheitsverhalten der Eltern (z. B. Yu, 2003) nicht konkret erfasst, welche in künftigen Arbeiten mit eingehen sollten. Berücksichtigt man den längsschnittlichen Verlauf, haben die Ergebnisse dennoch einen signifikanten Mehrwert, mangelt es doch gerade weiterhin noch an solchen längsschnittlichen Daten. In diesem Zusammenhang sollten vor allem zukünftige Ansätze versuchen, Daten zu Pandemieeffekten in bereits bestehenden längsschnittlichen Kohorten zu erheben. Dies würde auch wichtige Möglichkeiten im Hinblick auf weitere präpandemische Faktoren bieten und somit die Präzision in Richtung Prävention bei Alkoholkonsum bezogenen Risikoprofilen deutlich erhöhen. Dies verfolgen wir aktuell in TP1 des IMAC-Mind Verbundes. Hier integrieren wir unterschiedliche Längsschnittkohorten und analysieren die Daten im Hinblick auf neuropsychosoziale Mechanismen des Alkoholkonsums und deren Bezug zu Achtsamkeit, um schließlich solche prädiktiven Verlaufsmodelle näher zu bestimmen.

Schlussfolgerungen für die Praxis

  • Während der 1. Welle der COVID-19 Pandemie zeigt sich der Alkoholkonsum bei 14- und 16-jährigen Jugendlichen relativ stabil
  • Negative Gedanken zum Ende der 1. Welle sagen den Alkoholkonsum zu Beginn der zweiten COVID-19-Welle vorher
  • Achtsamkeit wirkt moderierend auf diesen Zusammenhang
  • Kognitive und psychosoziale Faktoren sollten daher als präventive Maßnahmen zur Verhinderung eines übersteigerten Alkoholkonsums bei Jugendlichen im weiteren Verlauf bzw. als Folge der Pandemie frühzeitig Berücksichtigung finden

Literatur