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Open Access

Kasuistik einer früh im Lebensverlauf an Morbus Addison erkrankten 14 Jahre alten Patientin bei Verdachtsdiagnose einer Anorexia nervosa

Zum Verwechseln ähnlich und doch so verschieden?

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000964

Abstract

Zusammenfassung:Zielsetzung: Die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) stellt eine seltene Differenzialdiagnose der Anorexia nervosa dar. Der hier vorgestellte Case Report verfolgt die Zielsetzung, wichtige differenzialdiagnostische Aspekte darzulegen. Methoden: Ein Case Report über eine 14-jährige Patientin wurde gemäß der CARE-Guidelines erarbeitet. Patientinnensicht sowie Sicht der Kindseltern wurden berücksichtigt. Ergebnisse: Durch eine gezielte Labordiagnostik konnte die Diagnose einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz ca. 9 Monate nach Beginn der Symptomatik mit plötzlichem Gewichtsverlust gestellt werden. Hilfreiche differenzialdiagnostische Aspekte waren das Nichtvorhandensein einer Körperschemastörung bei der Patientin sowie dermale Hyperpigmentierungen, die in der körperlichen Untersuchung auffielen. Es bestand eine hohe psychosoziale Belastung durch die unklare Diagnosestellung über 9 Monate. Diagnosestellung und sofortige Substitutionstherapie mit Hydrocortison konnten eine rapide Besserung der körperlichen und psychischen Symptome bewirken. Schlussfolgerung: Die Kasuistik unterstreicht die Bedeutung einer gründlichen somatischen Differenzialdiagnostik im Rahmen der Abklärung eines Verdachts auf Anorexia nervosa.

Case Report of a 14-Year-Old Girl with Addison’s Disease Under Initial Presumptive Diagnosis of Anorexia Nervosa: Confusingly Similar and Yet so Different?

Abstract:Objective: Primary adrenal insufficiency (Addison’s disease) is a rare differential diagnosis of anorexia nervosa. This case report presents important differential diagnostic aspects. Methods: We prepared a case report of a 14-year-old female patient according to the CARE guidelines, taking the patient’s and the child’s parents’ view into consideration. Results: The diagnosis of primary adrenocortical insufficiency was reached using specific laboratory diagnostics approximately 9 months after the onset of symptoms, including sudden body weight loss. Significant differential diagnostic aspects were the absence of a body schema disorder and skin hyperpigmentation prominent in the physical examination. The patient experienced a high psychosocial burden because of the unclear diagnosis over 9 months. The diagnosis and substitution therapy with hydrocortisone led to a rapid improvement of the physical and psychological symptoms. Conclusions: This case report emphasizes the importance of a thorough somatic differential diagnosis in the context of a suspected anorexia nervosa.

Einleitung

Vor dem Hintergrund der mit der COVID-19-Pandemie gestiegenen Hospitalisierungsraten der Anorexia nervosa im Kindes- und Jugendalter treten Behandler_innen vermehrt mit diesem komplexen Krankheitsbild in Kontakt (Gilsbach et al., 2022; Herpertz-Dahlmann, Dempfle & Eckardt 2022). Die häufig chronifizierend verlaufende Anorexia nervosa stellt die kinder- und jugendpsychiatrische Störung mit der höchsten Mortalität dar (Herpertz-Dahlmann & Altdorf, 2023).

Das Leitsymptom des Gewichtsverlusts bzw. der unzureichenden Gewichtszunahme findet sich sowohl bei Anorexia nervosa als auch bei anderen pädiatrischen Erkrankungen, die in einer umfangreichen und gezielten Differenzialdiagnostik auszuschließen sind (Herpertz-Dahlmann & Altdorf, 2023). Darunter stellt die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) im Kindes- und Jugendalter eine seltene, einerseits gut behandelbare, andererseits potenziell lebensbedrohliche Differenzialdiagnose dar (Chifu & Hahner, 2022; Herpertz-Dahlmann & Altdorf, 2023).

Methodik

Die vorliegende Kasuistik wurde gemäß der Case-Reporting (CARE)-Guidelines erarbeitet (Gagnier et al., 2013). Im Rahmen des Informed consent stimmten die jugendliche Patientin und ihre sorgeberechtigten Eltern der Veröffentlichung zu. Gemäß der CARE-Guidelines wurde die Sichtweise der Familie eingeholt (Gagnier et al., 2013).

Falldarstellung

Anamnese

Wir berichten den Fall einer 14-jährigen Jugendlichen, die sich begleitet von den Eltern mit der Verdachtsdiagnose einer Anorexia nervosa auf kinderärztliche Zuweisung verbunden mit der Anforderung weiterer somatischer Differenzialdiagnostik in der pädiatrischen Ambulanz vorstellte. Konsiliarisch wurde eine kinder- und jugendpsychiatrische Mitbeurteilung veranlasst. Bei einem Body-Mass-Index von 14.5 kg/m2 und perzentilenkreuzender Gewichtsentwicklung erfolgte eine notfallmäßige Aufnahme auf der kinder- und jugendpsychiatrischen Spezialstation für Essstörungen, wobei parallel weitere pädiatrische Untersuchungen initiiert wurden.

Essverhalten, Gewichtsentwicklung sowie körperliche Beschwerden

Anamnestisch erwies sich das Essverhalten seit 9 Monaten als verändert. Die Patientin empfand Ekel vor den meisten Lebensmitteln. Sie berichtete, nur noch überwiegend Süßigkeiten (insbesondere Chips und Schokolade) sowie Nudeln zu sich zu nehmen entsprechend einer Kalorienaufnahme von 1000 kcal pro Tag. Deswegen hätten mehrfach Ernährungsberatungen stattgefunden. Es sei zuvor zudem aufgrund der Symptomatik auch eine kinder- und jugendpsychiatrische Überweisung durch den Kinderarzt erfolgt.

Das Trinkverhalten war unauffällig. Gewichtsphobische Ängste oder Hinweise auf einen übermäßigen Bewegungsdrang fanden sich nicht.

Die Patientin sei bis vor 1 ½ Jahren in einem konstitutionell schlanken und stabilen Ernährungszustand gewesen. Das höchste prämorbide Gewicht habe 49 kg betragen. Die Patientin zeigte eine Körperhöhe von 177 cm (98. Altersperzentile auf der Basis der KiGGS-Daten des Robert Koch-Instituts; Neuhauser, Schienkiewitz, Rosario, Dortschy & Kurth 2013) und wog zum Zeitpunkt der Anamneseerhebung 45.4 kg (9. Altersperzentile) bei einem Body-Mass-Index von 14.5 kg/m2 (< 1. Altersperzentile). Der ausführliche Gewichtsverlauf der Patientin ist in Abbildung 1 dargestellt.

Abbildung 1 Verlauf des Body-Mass-Index der Patientin anhand der Perzentilenkurve.

Die Gymnasialschülerin berichtete ein häufiges Gefühl von Schwäche, weswegen sie immer wieder vorzeitig aus der Schule abgeholt worden sei. Sie habe sich erschöpfungsbedingt häufig setzen müssen, zudem bestand ein Leistungsknick in der Schule. Des Weiteren hätten sich Freund_innen von ihr abgewandt. Die Menstruation sei erst- und bislang einmalig vor 4 Monaten eingetreten.

Vorausgehende Notfallsituationen

Vor 5 Monaten sei infolge eines akuten Migräneanfalls eine Notfallvorstellung mit stationärer Behandlung über 4 Tage erfolgt. Dabei waren in einem Elektroenzephalogramm migränetypische Befunde im Sinne einer intermittierenden Verlangsamung rechts frontotemporal nachweisbar. Acht Monate zuvor war aufgrund einer Verschlechterung des Allgemeinzustands mit Unruhe, rezidivierendem Erbrechen sowie Schwindel eine pädiatrische Vorstellung erfolgt. Bei einem so bedingten 3-tägigen stationären Aufenthalt sei außer einer metabolischen Azidose sowie einer Hypoglykämie mit einer Blutglucose von 30 mg/dl, welche als Folge des rezidivierenden Erbrechens eingeordnet wurden, kein weiterer pathologischer Befund aufgefallen. Eine extern durchgeführte Magnetresonanztomografie des Cerebrums ergab einen altersentsprechenden Normalbefund.

Entwicklungs- und Familienanamnese

Die Familienanamnese zeigte sich in Bezug auf psychische und körperliche Erkrankungen bis auf eine Hashimoto-Thyreoiditis bei ihrer Mutter unauffällig. Die Entwicklungsanamnese sei unauffällig verlaufen. Anamnestisch bestanden keine Hinweise auf eine kinder- und jugendpsychiatrische Vorgeschichte.

Psychischer Befund und Testdiagnostik

14-jährige Jugendliche in kachektischem Ernährungszustand. Im Kontakt zurückhaltend. Mimisch starr. Aufmerksamkeit erhalten. Stimmung gedrückt, affektive Schwingungsfähigkeit reduziert. Antriebslosigkeit. Kein Hinweis auf formale und inhaltliche Denkstörungen. Ängste und Ekel in Bezug auf diverse Lebensmittel werden berichtet (s. o.), dabei keine gewichtsphobischen Ängste auszumachen. Glaubhaft von akuter Suizidalität distanziert. Kein Hinweis auf akute Eigen- oder Fremdgefährdungsaspekte.

Testdiagnostik

Die Patientin erzielte im Eating Disorder Examination Questionnaire (EDE-Q) einen Normalbefund (Rohwert: 0.58; Hilbert, Tuschen-Caffier, Karwautz, Niederhofer & Munsch, 2007) mit jeweils unauffälligen Subskalen in Bezug auf gezügeltes Essverhalten, essbezogene Sorgen, gewichtsbezogene Sorgen sowie figurbezogene Sorgen. Der Dresdener Körperbildfragebogen (DKB-35) zeigte ebenfalls einen Normalbefund (Pöhlmann, Roth, Brähler & Joraschky, 2014).

Körperlicher Untersuchungsbefund und somatische Diagnostik

14-jährige weibliche Jugendliche. Stabiler Allgemeinzustand, kachektischer Ernährungszustand. Blutdruck 106/57 mmHg; Puls 78 Schläge pro Minute. Beidseits im Bereich der Hände bräunliche Hyperpigmentationen sowie bräunlich pigmentierte Handlinien (die Hände der Patientin sind in Abbildung 2 dargestellt). Im Bereich der Knie leicht bräunliche, diffuse Hyperpigmentationen. Keine enoralen Auffälligkeiten. Übriger internistisch-pädiatrischer Untersuchungsbefund unauffällig.

Abbildung 2 Hände der 14-jährigen Patientin mit sichtbarer Hyperpigmentation.

Relevante Laborbefunde

Kleines Blutbild: unauffällig bis auf Leukozyten: 3.69 Tsd./µl, (4.19–9.43); MCHC: 34.7 g/dl (31.5–34.2); Thrombozyten: 112 Tsd./µl (194–345)

Elektrolyte: unauffällig: Natrium: 137 mmol/l (134–143); Kalium: 4.1 mmol/l (3.3–4.6); Chlorid: 100 mmol/l (96–109); Phosphat: 4.9 mg/dl (2.9–5.1)

Hormondiagnostik:

Glukokortikoidhormone: Cortisol basal: 2.6ng/ml (18.8129.7), ACTH: 1039.9pg/ml (7.363.3) Nebennierenrinden-Autoantikörper: 1:80 (< 1:10)

Elektrolyt- und Wasserhaushalt: Aldosteron: 95.1 pg/ml (22.1–353ng/l); Renin: 636.9 µU/ml (2.6–27.7ng/l); Aldosteron/Renin-Ratio: 0.1

Sexualhormone: Östradiol: 33.3 pg/ml (< 233); LH: 18.5 mU/ml (0.5–41.7); FSH: 8.1 mU/ml (1.6–17.0); LH/FSH-Ratio: 2.3, DHEAS basal: 0.04 µg/ml (0.65–3.68); 17-OH-Progesteron: < 0.50 nmol/l (0.91–3.03); Androstendion: 0.25 ng/ml (0.49–1.31); Prolaktin: 25.20 ng/ml (4.79–23.3)

Schilddrüsendiagnostik: TSH: 5.45 H µU/ml (0.51–4.30), freies T4: 1.36 ng/dl (0.98–1.63); freies T3: 3.40 pg/ml (2.56–5.01); anti-TG: 13.1 U/ml (< 115); anti-TPO: 10.3 U/ml (< 34)

Nebenschilddrüsen und Knochenstoffwechsel: Parathormon: 25.5 pg/ml (15.6–65)

Diagnosestellung

In Zusammenschau der Laborbefunde mit einem stark erhöhten adrenocorticotropen Hormon (ACTH), erniedrigtem Cortisol, Vorhandensein von Nebennierenrindenautoantikörpern (21-Hydroxylase) und der klinischen Befunde konnte die Diagnose einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz (Morbus Addison) gestellt werden. Damit war die Zuweisungsdiagnose einer Anorexia nervosa widerlegt.

Therapie

Bei Verlegung in die pädiatrische Klinik wurde eine sofortige orale Therapie mit Hydrocortison eingeleitet und im Verlauf mit Fludrocortison ergänzt. Die Medikation zeigte eine sofortige Wirkung mit Rückgang der Appetitlosigkeit und Besserung des Essverhaltens. Die Patientin konnte nach 5 Tagen stabilisiert in die Häuslichkeit entlassen werden. Die Entlassmedikation bestand aus Hydrocortison (Dosierung: 15 mg – 5 mg – 5 mg per os) sowie Fludrocortison (0.1 mg einmal täglich per os). Die Patientin und ihre Eltern erhielten einen entsprechenden Notfallausweis, eine Notfallschulung für Corticoid-Mangelsituationen (Addisonkrisen) und eine Schulung zur Notfallinjektion von Hydrocortison sowie ein Glukocorticoid-Notfallset. Die Erkrankung bedarf einer lebenslangen endokrinologischen Betreuung.

Verlauf

Fünf Wochen nach Diagnosestellung erfolgte ein Katamnesetermin in der kinder- und jugendpsychiatrischen Ambulanz. Die Patientin zeigte sich in deutlich gebessertem Zustand mit Gewichtszunahme von 5 Kilogramm. Sie berichtete von einem deutlichen Rückgang der Müdigkeit, Abgeschlagenheit und der Appetitlosigkeit. Sie war merklich schwingungsfähig. Retrospektiv wurde deutlich, dass die relativ lange Phase von 9 Monaten einer diagnostischen Ungewissheit und die schließlich widerlegte Verdachtsdiagnose einer Anorexia nervosa eine hohe psychische Belastung für die Patientin und ihre Eltern darstellte.

Diskussion

Die Diagnose einer primären Nebennierenrindeninsuffizienz, die erstmals 1855 von Thomas Addison beschrieben wurde (Addison, 1855), tritt vornehmlich in einer Alterspanne von 30 bis 50 Jahren auf, wobei Frauen häufiger erkranken (Kumar & Wassif, 2022). Zumeist besteht eine autoimmune Genese, wie auch bei der hier vorgestellten Patientin (Betterle, Dal Pra, Mantero & Zanchetta, 2002). Im Gegensatz zur Anorexia nervosa, die im Jugendalter eine Prävalenz von ca. 1 % bei weiblichen Jugendlichen aufweist (van Eeden, van Hoeken & Hoek, 2021), ist die primäre Nebennierenrindeninsuffizienz eine sehr seltene Erkrankung. Es gibt Hinweise auf eine Prävalenz von ca. 9.3 bis 22.1 auf 100 000 in der Allgemeinbevölkerung (Olafsson & Sigurjonsdottir, 2016; Willis & Vince, 1997).

Im vorliegenden Fall bestand insbesondere in Abgrenzung zu einer Anorexia nervosa klinisch sowie testdiagnostisch kein Hinweis auf eine Körperschemastörung. Zudem fiel auch im Essverhalten auf, dass die Patientin – in Abgrenzung zu einem typischen restriktiv anorektischen Befund – kalorienärmere Lebensmittel zugunsten einer eher kohlenhydratreichen Ernährung vermied. Die differenzialdiagnostischen Überlegungen sind in Tabelle 1 gegenübergestellt.

Tabelle 1 Differenzialdiagnostische Aspekte

Im Widerspruch zu dem bei der Patientin vorliegenden erniedrigten Serumcortisol zeigt sich im Rahmen einer Anorexia nervosa das Serumcortisol bedingt durch den mit der Erkrankung verbundenen Stresszustand für den Körper zumeist eher gesteigert (Schorr & Miller, 2017), wobei eine standardmäßige Bestimmung von Cortisol in der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“ nicht empfohlen wird. Auch im vorgeschlagenen differenzialdiagnostischen Profil wird eine routinemäßige Bestimmung von Cortisol oder von ACTH in der S3-Leitlinie nicht aufgeführt, wobei der Morbus Addison aber klar als klinisch zu überprüfende Differenzialdiagnose beschrieben wird. Zielführend war in diesem Fall, dass aufgrund des unsicheren Verdachts einer Anorexia nervosa zeitgleich eine umfangreiche pädiatrisch-endokrinologische Labordiagnostik erfolgte.

Der protrahierte Zeitpunkt der Diagnosestellung mit einer von der Patientin als sehr belastend wahrgenommenen Krankheitsphase von ca. 9 Monaten ist im Kontext der Literatur als typischer Verlauf zu werten. So konnte in einer Studie gezeigt werden, dass bei weniger als 30 % der Patientinnen und 50 % der Patienten mit Nebennierenrindeninsuffizienz die Diagnose innerhalb von 6 Monaten nach Auftreten der ersten Symptome gestellt werden konnte, bei 20 % der Patienten vergingen bis zur Diagnosestellung mehr als 5 Jahre (Bleicken, Hahner, Ventz & Quinkler 2010). Insbesondere die im Bericht dargestellten mehrfachen Konsultationen ohne korrekte Diagnosestellung finden sich ebenso beschrieben in der Studie, mehr als 67 % der Patienten mit Nebennierenrindeninsuffizienz konsultierten bis zur korrekten Diagnosestellung mindestens drei Ärzt_innen (Bleicken et al., 2010). Aus (kinder- und jugend-)psychiatrischer Sicht ist jedoch hochgradig relevant, dass in der Studie gezeigt wurde, dass es – wie auch zunächst im Fallbeispiel – bei 68 % der Patient_innen primär zu Fehldiagnosen kommt, die zumeist psychiatrische und gastroenterologische Diagnosen darstellten (Bleicken et al., 2010). Ebenso wichtig erscheint in diesem Zusammenhang, dass es wie im Fallbeispiel sichtbar im Rahmen der primären Nebennierenrindeninsuffizienz aufgrund der unter anderem bestehenden Adynamie und Appetitlosigkeit zu einer ausgeprägten psychosozialen Belastung kam. Es ist daher die Überlegung anzustellen, ob möglicherweise aufgrund des hohen Leidensdrucks und der Belastung der Patient_innen mit Nebennierenrindeninsuffizienz zusätzlich psychiatrische Fehldiagnosen gestellt werden bzw. möglicherweise sogar eine psychiatrische Komorbidität als alleinige Hauptdiagnose fehldiagnostiziert wird.

Ähnlich wie bei unserem Fall bestand in einem Fall einer 15-jährigen Patientin mit Morbus Addison zunächst die Diagnose einer Anorexia nervosa (Nicholls, Boggis & Pandya, 2016). Interessanterweise zeigte sich in diesem Fall, anders als bei unserer Patientin, eine typisch für Morbus Addison bestehende Elektrolytverschiebung mit Hyponatriämie sowie ein charakteristischer Salzhunger (Nicholls et al., 2016) durch den Mineralocorticoidmangel. Der erhöhte Reninspiegel hat möglicherweise bei unserer Patientin noch zu einem ausreichenden Aldosteronspiegel geführt, der einen Natriumverlust verhinderte, ein Salzhunger bestand ebenso. Bei Mineralocorticoidmangel besteht eine Elektrolytkonstellation mit Hyponatriämie und Hyperkaliämie (Kumar & Wassif, 2022). Ebenfalls zeigte sich bei einer 30-jährigen Patientin mit Verdachtsdiagnose einer Anorexia nervosa eine Hyponatriämie (Schafroth & Oestmann, 2022), wobei sich die Nebennierenrindeninsuffizienz im Rahmen eines polyglandulären Autoimmunsyndroms Typ 2 mit Hashimoto-Thyreoiditis manifestierte (Schafroth & Oestmann, 2022). Hierfür bestand bei unserer Patientin bei unauffälligen Schilddrüsenantikörpern aktuell kein Hinweis, Verlaufskontrollen auch bezüglich der Entwicklung weiterer Autoimmunerkrankungen sind jedoch erforderlich.

In einer Falldarstellung von einer 31-jährigen Patientin wurde insbesondere das differenzialdiagnostische Kriterium betont, dass Patient_innen mit Anorexia nervosa eher bradykarde Herzfrequenzen zeigen, wohingegen Patient_innen mit Morbus Addison eher tachykarde Werte aufweisen (Steiner, Zajontz, Reiss & Bogerts, 2006). Auch wenn unsere Patientin keine Tachykardie zeigte, sondern mit einer Herzfrequenz von 78/min einen Normalbefund, ist zu betonen, dass keine wie bei der Anorexia nervosa häufige bradykarde Herzfrequenz bestand (Steiner et al., 2006).

In der S3-Leitlinie „Diagnostik und Therapie der Essstörungen“ wird eine umfangreiche körperliche Untersuchung empfohlen. Der hier dargestellte Fallbericht illustriert anschaulich die Wichtigkeit der körperlichen Untersuchung und weist insbesondere darauf hin, dass neben den Anorexia-nervosa-relevanten Befunden wie zum Beispiel Lanugobehaarung oder Dekubiti auch auf Hautveränderungen wie Hyperpigmentierungen geachtet werden sollte.

Die hier dargestellte Kasuistik sollte Anlass geben, bei Manifestation einer anorektischen Symptomatik auch in der Jugend mit einer entsprechenden Befundkonstellation, großzügig die Indikation für eine endokrinologische Diagnostik zu stellen.

Betroffenensicht aus der Sicht der Kindseltern

„Als wir am folgenden Tag die Information erhalten haben, dass es sich um eine Störung der Funktion der Nebenniere handelte und unsere Tochter in die Kinderklinik verlegt wurde, haben wir Tränen des Glücks vergossen. Durch die Einnahme von Hydrokortison hatte sich ihr Gesundheitszustand schlagartig deutlich verbessert, sie war motiviert und bewegungsfreudig – ein Zustand, der uns das letzte halbe Jahr unbekannt war.

Wir feiern diesen Tag der Diagnose Morbus Addison nun als ihren 2. Geburtstag, weil wir uns sicher sind, dass unsere Tochter, wenn die Diagnose nicht gestellt worden wäre, das Ganze nicht überlebt hätte. Als Eltern würden wir uns wünschen, um auch anderen Kindern ein solches Abenteuer Diagnose zu ersparen, dass die Ängste und Sorgen der Eltern bei den Ärzten ernst genommen werden und bei der Blutentnahme der ACTH-Wert in einer früheren Diagnostik bereits mit einbezogen wird.“

Schlussfolgerungen

Eine zielgerichtete Differenzialdiagnostik ist bei der Verdachtsdiagnose einer Anorexia nervosa unerlässlich. Neben der gründlichen körperlichen Untersuchung, in der Hyperpigmentierungen auffielen, konnte im berichteten Fall insbesondere das nicht vorhandene Kriterium der Körperschemastörung ein hilfreiches differenzialdiagnostisches Kriterium darstellen. Die Patientin zeigte sich durch die im Raum stehende Verdachtsdiagnose Anorexia nervosa sowie die Reaktionen des sozialen Umfelds auf den reduzierten Ernährungszustand und die Adynamie hochgradig belastet. Die Diagnosestellung und Behandlung der primären Nebennierenrindeninsuffizienz konnte zu einer Normalisierung des Essverhaltens, einer Gewichtszunahme und einer Abnahme der psychosozialen Belastung für die Jugendliche und die Kindseltern führen.

Literatur