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Open AccessÜbersichtsarbeit

Beyond NICE: Aktualisierte systematische Übersicht zur Evidenzlage der Pubertätsblockade und Hormongabe bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000972

Abstract

Zusammenfassung:Fragestellung: Die Unterdrückung der physiologischen Pubertät mittels sog. pubertätsblockierender Präparate (PB) und die Gabe gegengeschlechtlicher Hormone (sog. Cross-Sex-Hormone [CSH]) bei Minderjährigen mit Geschlechtsdysphorie (GD) wird als Intervention für ebendiese Personen diskutiert und teilweise in der klinischen Praxis bei dieser Population auch angewendet. Zwei Übersichtsarbeiten (eine zur PB-, eine zur CSH-Gabe) des britischen National Institute for Clinical Excellence (NICE) aus dem Jahr 2020 zeigten keinen eindeutigen klinischen Nutzen in Bezug auf kritische Zielvariablen sowie andere wichtige Variablen, insbesondere keine eindeutige Verbesserung der GD-Symptomatik. Weiterhin wurde die klinisch-wissenschaftliche Qualität der bis dahin vorliegenden Befunde gemäß Modified-GRADE-Kriterien als „sehr gering“ eingestuft. Methodik: Die vorliegende systematische Übersichtsarbeit umfasst eine aktualisierte Literatursuche gemäß NICE-Vorgehensweise für die seit Erscheinen der zuvor genannten beiden NICE-Übersichtsarbeiten neu erschienenen Arbeiten bezüglich der PB- und der CSH-Gabe bei GD (Suchzeitraum Juli 2020 bis August 2023). Ergebnisse: Die neue Literatursuche ergab keinerlei neue Originalarbeiten zur PB-Gabe entsprechend den vordefinierten PICO-Kriterien mit Blick auf kritische oder wichtige Zielvariablen gemäß NICE. Für die CSH-Gabe fanden sich zwei neue Originalarbeiten mit geringer Teilnehmendenzahl, welche die PICO-Kriterien erfüllten, jedoch gemäß Modified-GRADE-Kriterien mit geringer klinisch-wissenschaftlicher Sicherheit bzw. Qualität eingestuft wurden und keine neuen belastbaren Befunde zeigten. Derzeit vorliegende Studien zur PB- und CSH-Gabe haben signifikante konzeptionelle und auch methodische Mängel. Schlussfolgerungen: Die Studienlage zur PB- und CSH-Gabe bei Minderjährigen mit GD ist weiterhin sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit unzureichender Methodik und Qualität. Aussagekräftige Langzeitstudien fehlen bisher. Die aktuelle Studienlage deutet derzeit nicht darauf hin, dass sich die GD im Speziellen und die psychische Gesundheit im Allgemeinen im Verlauf der weiteren Entwicklung nach Gabe von PB oder CSH bedeutsam verbessern. Begleitende psychotherapeutische Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit GD zur Unterstützung bzw. zur Minderung der erlebten Belastungen können je nach individueller Situation der Betroffenen ggfs. notwendig werden. Sofern PB- und CSH-Gaben bei Minderjährigen mit GD nach sorgfältiger Risiko-Nutzen-Analyse, abgeschlossener kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik und ggfs. folgender Behandlung auch begleitender psychischer Symptome oder Störungen bzw. Belastungsfaktoren zum Einsatz kommen sollten, so kann ein solches Vorgehen im Rahmen von Forschungsprojekten bzw. klinischen Studien – wie aktuell in England praktiziert – zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen und wichtige Daten liefern. Das elektronische Supplement (ESM) 1 ist eine adaptierte und gekürzte englische Version dieser Arbeit.

Beyond NICE: Updated Systematic Review on the Current Evidence of Using Puberty Blocking Pharmacological Agents and Cross-Sex-Hormones in Minors with Gender Dysphoria

Abstract:Objective: The suppression of physiological puberty using puberty-blocking pharmacological agents (PB) and prescribing cross-sex hormones (CSH) to minors with gender dysphoria (GD) is a current matter of discussion, and in some cases, PB and CSH are used in clinical practice for this particular population. Two systematic reviews (one on PB, one on CSH treatment) by the British National Institute for Clinical Excellence (NICE) from 2020 indicated no clear clinical benefit of such treatments regarding critical outcome variables. In particular, these two systematic NICE reviews on the use of PB and CSH in minors with GD detected no clear improvements of GD symptoms. Moreover, the overall scientific quality of the available evidence, as discussed within the above-mentioned two NICE reviews, was classified as “very low certainty” regarding modified GRADE criteria. Method: The present systematic review presents an updated literature search on this particular topic (use of PB and CSH in minors with GD) following NICE principles and PICO criteria for all relevant new original research studies published since the release of the two above-mentioned NICE reviews (updated literature search period was July 2020–August 2023). Results: The newly conducted literature search revealed no newly published original studies targeting NICE-defined critical and important outcomes and the related use of PB in minors with GD following PICO criteria. For CSH treatment, we found two new studies that met PICO criteria, but these particular two studies had low participant numbers, yielded no significant additional clear evidence for specific and clearly beneficial effects of CSH in minors with GD, and could be classified as “low certainty” tfollowing modified GRADE criteria. Conclusions: The currently available studies on the use of PB and CSH in minors with GD have significant conceptual and methodological flaws. The available evidence on the use of PB and CSH in minors with GD is very limited and based on only a few studies with small numbers, and these studies have problematic methodology and quality. There also is a lack of adequate and meaningful long-term studies. Current evidence doesn’t suggest that GD symptoms and mental health significantly improve when PB or CSH are used in minors with GD. Psychotherapeutic interventions to address and reduce the experienced burden can become relevant in children and adolescents with GD. If the decision to use PB and/or CSH is made on an individual case-by-case basis and after a complete and thorough mental health assessment, potential treatment of possibly co-occurring mental health problems as well as after a thoroughly conducted and carefully executed individual risk-benefit evaluation, doing so as part of clinical studies or research projects, as currently done in England, can be of value in terms of generation of new research data. The electronic supplement (ESM) 1 is an adapted and abreviated English version of this work.

Einleitung

Die deutlich steigende Anzahl von Kindern und Jugendlichen, welche ihre empfundene Geschlechtsidentität im Widerspruch zu ihrer biologischen Geschlechtszugehörigkeit erleben und deswegen Hilfe in Form von Beratung, Begleitung und eventuell auch Behandlung suchen, beschäftigt gleichermaßen das Gebiet der Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie wie die Gesellschaft als Ganzes (Englert & Haas, 2023; Holtmann, 2023; Korte & Tschuschke, 2023). Für den deutschen Sprachraum werden die hier betreffenden Leitlinien zu dieser Thematik derzeit überarbeitet (AWMF-S3-Leitlinie „Geschlechtsinkongruenz und Geschlechtsdysphorie im Kindes- und Jugendalter: Diagnostik und Behandlung“, Register-Nr. 028-014). Laut aktuellem Stand (Stand der Leitlinienentwicklung vom 06.12.2023 gemäß der AWMF-Webseite, zuletzt abgerufen am 06.01.2024) sei ein Manuskript der Leitlinien zur Begutachtung eingereicht, diese Begutachtung sei derzeit noch nicht abgeschlossen.

Für den deutschsprachigen Raum gibt es keine zentrale Erfassung von entsprechenden Prävalenzen oder der klinischen Inanspruchnahme. Die Entwicklung hierzulande scheint jedoch insgesamt tendenziell vergleichbar derjenigen in anderen europäischen Ländern: In Schweden stieg die Diagnosehäufigkeit von Geschlechtsdysphorie (GD) in der Gruppe der 13- bis 17-jährigen Mädchen zwischen 2008 und 2018 um 1500 % (Socialstyrelsen, 2020). In Großbritannien nahm die Zahl dieser Hilfe suchenden Betroffenen weiblichen Geschlechts zwischen 2009 und 2016 um mehr als das 70-Fache zu, mit einer weiteren Verdoppelung von 2020 bis 2022. Die möglichen Gründe für diesen Anstieg sind mannigfaltig und werden in der Fachwelt derzeit diskutiert (siehe Korte & Tschuschke, 2023 sowie Thompson, Sarovic, Wilson, Sämfjord & Gillberg, 2022a).

Die Häufigkeit von GD als Vollbild einer Diagnose, aber auch von einzelnen Symptomen, ist bei Kindern und Jugendlichen nicht genau geklärt. Eine Übersichtsarbeit (Arcelus et al., 2015) unter Einbezug von 21 Prävalenzstudien zu Transsexualität, von denen jedoch nur 12 ausreichende Daten für eine Metaanalyse enthielten, fand eine Gesamtprävalenz der Diagnose GD von ca. 4.6 pro 100 000 (6.8 für eine Male-to-Female-Transition [MtF, Transmädchen] und 2.6 für eine Female-to-Male-Transition [FtM, Transjungen]). Die aktuell sehr dynamische Entwicklung der Inanspruchnahme macht zeitnahe genaue Prävalenzangaben kaum möglich.

Die ärztlich-therapeutische Begleitung der von GD betroffenen Kinder und Jugendlichen geht mit vielen Herausforderungen einher. Diese hängen u. a. mit dem derzeit insgesamt noch beschränkten Wissen über die Entwicklungsverläufe von jungen Menschen zusammen, die sich erstmals in der Kindheit oder auch der Pubertät aufgrund eines Inkongruenzerlebens bezüglich des eigenen Geschlechts vorstellen. In der internationalen Literatur finden sich Hinweise für sehr unterschiedliche Verläufe: u. a. erneute Veränderungen des Erlebens des eigenen Geschlechts im weiteren Verlauf, mit vielen nichtanhaltenden Variationen und einer Abnahme der erlebten GD; die Entwicklung homosexueller Orientierung im Jugendalter mit einer Reduktion der Symptome einer GD über die Zeit mit einem ggfs. vollständigen Sistieren; anhaltende GD mit dann z. B. folgender transsexueller Entwicklung im Erwachsenenalter und/oder auch begleitende psychische Belastungen bzw. Störungen (siehe für verschiedene Verläufe hierzu die Arbeiten von Drummond, Bradley, Peterson-Badali & Zucker, 2008; Englert & Haas, 2023; Mahfouda, Panos et al., 2019; Mahfouda et al., 2023; Steensma et al., 2013a; Wallien & Cohen-Kettenis, 2008). Die Daten zur Häufigkeit der Verlaufsformen variieren, auch in Abhängigkeit von den untersuchten Stichproben. Betroffene, ihre Familien und die Behandler_innen sind damit konfrontiert, dass es derzeit keine Kriterien gibt, die ausreichend sicher die weitere Entwicklung und die Beständigkeit (Persistenz) bzw. Unbeständigkeit (Desistenz) einzelner Symptome oder des Vollbildes einer GD vorhersagen können. Mit Blick auf die klinische Begleitung Betroffener und deren Angehöriger ist dies speziell bei Minderjährigen mit GD ein diagnostisch-therapeutisches Dilemma. Besonders deutlich wird dieses Dilemma bei der Frage der Indikation für die Gabe der von Betroffenen oft gewünschten pubertätsblockierenden Präparate (PB) und gegengeschlechtlichen Hormonen (sog. Cross-Sex-Hormone [CSH]). Auf der einen Seite benötigen Entwicklungen bei Minderjährigen Zeit; genau diese Zeit wird aber auf der anderen Seite gerade bei der GD durch die einsetzende Pubertät mit ihren körperlichen, seelischen und sozialen Veränderungen limitiert. Mit Blick auf die psychosexuelle Entwicklung ist die individuelle Auseinandersetzung mit der im Rahmen der Pubertät aufkeimenden Sexualität für Jugendliche extrem bedeutsam. Die Effekte eines frühzeitigen Beginns der Gabe von PB bzw. CSH auf die Libido sind bisher ebenfalls nur wenig untersucht und sollten Gegenstand zukünftiger Forschungsbestrebungen sein. In diesem Kontext ist auch eine „Nichtentscheidung“ für oder gegen bestimmte Interventionen, etwa die Gabe von PB und/oder CSH, eine Entscheidung (Strittmatter & Holtmann, 2020). Daher kommt dem Evidenzgrad der Studienlage als Basis für die jeweilige Entscheidung bzw. „Nichtentscheidung“ eine wichtige Rolle für eine individualisierte Beratung, Diagnostik und Behandlung aus kinder- und jugendpsychiatrischer und psychotherapeutischer Sicht zu. Vergleichbar mit der Situation in anderen medizinischen Fachgebieten und zu anderen ungenügend beforschten Fragestellungen können bei fehlender Evidenz generell keine allgemeinen Empfehlungen abgegeben werden; vielmehr sind sorgfältige Einzelfallabwägungen unter Einbezug multipler Perspektiven und Expertisen bei der Einschätzung und Abwägung der Wahrscheinlichkeiten von möglichen Nutzen und Schäden notwendig.

Einerseits wird angenommen, eine frühzeitige Gabe von PB und/oder CSH könne den Betroffenen die Identitätsentwicklung im Wunschgeschlecht erleichtern und ungewollten, irreversiblen, physiologischen körperlichen Veränderungen (bei MtF-Transition z. B. Stimmbruch, Haarwuchs) und damit einer chronischen emotionalen Belastung der Betroffenen vorbeugen. Andererseits könne eine ggfs. zu schnell begonnene oder nicht ausreichend sicher indizierte Hormonbehandlung z. B. zu einer Unterdrückung von homo-, bi- oder heterosexuellen Entwicklungen führen oder Veränderungen bewirken, die später dann doch von den Betroffenen bereut werden. Daneben können bekannte, aber unzureichend erforschte Folgen, wie z. B. ein nur unzureichendes Erreichen eines Wohlbefindens durch die begonnenen körperlichen Veränderungen, eine reduzierte Libido, unbefriedigende Sexualität oder ein nicht (mehr) erfüllbarer Kinderwunsch, auftreten und die damalige Entscheidung bereuen lassen (vgl. die Arbeiten von Drummond et al., 2008; Englert & Haas, 2023; Steensma et al., 2013a; Wallien & Cohen-Kettenis, 2008). Die hier genannten erheblichen Konsequenzen einer ggfs. zu früh begonnenen oder nicht ausreichend sicher indizierten Hormonbehandlung können somit unter Berücksichtigung üblicherweise angewandter medizinisch-ethischer Richtlinien gar nicht kritisch bzw. sorgfältig genug abgewogen werden, z. B. wenn man eine ggfs. unterdrückte homosexuelle Entwicklung oder die Entscheidung für einen späteren Kinder- bzw. Nichtkinderwunsch einer/eines Minderjährigen bedenkt.

Angesichts des zuvor skizzierten klinischen Dilemmas in Bezug auf eine Entscheidung bzw. „Nichtentscheidung“ für medizinische Interventionen besteht für Kliniker_innen großer Bedarf an fachlicher Orientierung über die aktuelle Evidenzlage für solche Interventionen (PB- und CSH-Gabe) mit Blick auf kritische und wichtige Zielvariablen (s. u.), speziell bei GD im Kindes- und Jugendalter. Ein einfühlsamer, dennoch fachgerechter und aus diagnostisch-therapeutischer Sicht evidenzbasierter Umgang mit solchen vulnerablen Minderjährigen kann hierbei eine Herausforderung für Kliniker_innen darstellen. Betroffene Personen und deren Familien sollten hier hinsichtlich evidenzbasierter Befunde beraten werden, da es u. a. um teilweise irreversible medizinische Maßnahmen an biologisch gesunden Körpern von Minderjährigen geht. Relevant ist etwa die Frage, ob und ggfs. bei welcher Konstellation (z. B. Dauer, Dosis der Einnahme) die biologischen wie auch avisierten, im weitesten Sinne im Verlauf auch die Psyche beeinflussenden Wirkungen (z. B. subjektives Identitätserleben, psychische Gesundheit) durch die Gabe von PB überhaupt messbar vorhanden oder ggfs. reversibel sind und was mit dem Begriff „Reversibilität“ in diesem Kontext tatsächlich jeweils gemeint ist. Analog stellt sich für den o. g. Personenkreis die Frage des klinischen Nutzens einer CSH-Gabe bei Kindern und Jugendlichen mit GD.

Klinische Rationale, Wirkweise, Risiken und unerwünschte Wirkungen der pubertätsblockierenden Präparate

Das Rational der medikamentösen Verzögerung der physiologischen Pubertät bei Minderjährigen mit Transidentität und mit einem bestehenden großen Leidensdruck basiert auf der Idee, den Betroffenen mehr Zeit für die eigene Identitätsfindung zu ermöglichen. Durch die Pubertätsblockade sollen die Betroffenen nicht zu schnell durch die einsetzende Entwicklung körperlicher Geschlechtsmerkmale auf das aktuell nicht präferierte biologische Geschlecht festgelegt werden, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem die geschlechtsbezogene Identitätsentwicklung noch nicht abgeschlossen ist. Damit sollen psychische Belastungen für die Betroffenen sowie das Risiko, psychische Störungen zu entwickeln, reduziert werden. Ein Nebenaspekt hierbei ist, dass durch die Gabe von PB auch veränderte Voraussetzungen für mögliche weitere Interventionen (z. B. CSH-Gabe, Operationen) entstehen können. So bestimmt z. B. die physiologische Hormonexposition des ggfs. später zu operierenden Zielgewebes oftmals auch dessen Festigkeit mit (z. B. Zusammenhang zwischen der physiologischen Testosteronexposition des Genitalgewebes bei biologisch männlichen Personen und den operativen Möglichkeiten zur ggfs. späteren operativen Konstruktion einer Neovagina). Im weiteren Verlauf steht nach der Pubertätsblockade die Frage bzw. die Entscheidung an, ob sich eine CSH-Gabe anschließen soll.

Die mit Abstand am häufigsten verwendeten Präparate bei der Pubertätsblockade sind sog. Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH)-Analoga. In der Medizin werden sie u. a. zur antineoplastischen Therapie des Prostata- und Mammakarzinoms sowie bei Endometriose bzw. bei Minderjährigen mit Pubertas praecox eingesetzt (z. B. der Wirkstoff Leuprorelin, welcher als Depot einmal monatlich unter die Haut [z. B. der Bauchregion] oder in den Muskel [z. B. des Oberschenkels] injiziert wird). In der Pubertät werden GnRH pulsatil durch neuroendokrine Zellen des Hypothalamus ausgeschüttet und binden an spezielle Rezeptoren an der Zell-Plasma-Membran der Adenohypophyse. Letztendlich bewirken GnRH eine Stimulation der Freisetzung von LH (luteinisierendes Hormon) und FSH (follikelstimulierendes Hormon) sowohl bei weiblichen wie auch bei männlichen Personen. LH und FSH veranlassen die entsprechenden Gonaden zur Synthese und Sekretion von Steroiden, d. h. Testosteron bei männlichen bzw. Östrogen und Progesteron bei weiblichen Individuen. Derzeit vorliegende Daten zu erwünschten und unerwünschten Wirkungen der PB bei Kindern und Jugendlichen stammen v. a. aus Studien zur Pubertas praecox, d. h., die Daten wurden mehrheitlich an biologischen Mädchen erhoben (siehe hierzu z. B. die Arbeiten von Bertelloni et al., 2015; Boepple et al., 1990; Carel, Blumberg, Seymour, Adamsbaum & Lahlou, 2006; Clemons, Kappy, Stuart, Perelman & Hoekstra, 1993; Fuqua, 2013; Jay et al., 1992; Palmert et al., 1999; Pasquino et al., 2008; Thornton et al., 2014; Wojniusz et al., 2016). Mit Blick auf wichtige Nebenwirkungen zeigten Forschungsergebnisse bei Mädchen mit Pubertas praecox eine Gewichtszunahme bei Gabe von GnRH-Agonisten (Leite et al., 2022). In dieser Studie waren 92 % der Teilnehmenden weiblich und 8 % männlich. Unter Basalbedingungen war bereits ein signifikanter Anteil der Teilnehmenden übergewichtig (39 %) gewesen. BMI-SDS-Werte (Body-Mass-Index Standard Deviation Score) nahmen bei den biologischen Mädchen zu und ein Jahr nach Absetzen der GnRH-Analoga wieder ab. Die biologischen Jungen in dieser Untersuchung wuchsen schneller und erreichten größere Körpergrößen im Vergleich zu den biologischen Mädchen, am ehesten laut den Autoren_innen dieser Arbeit aufgrund einer anderen BMI-SDS-Entwicklung (Leite et al., 2022).

GnRH-Analoga sind Medikamente, die eine ähnliche chemische Struktur wie das Gonadotropin-Releasing-Hormon (GnRH) haben. Dadurch können sie an GnRH-Rezeptoren der Hypophyse binden und die gleiche Wirkung erzielen. Sie stimulieren die Freisetzung von Gonadotropinen. Dies führt zu einer Desensitisierung von Gonadotropinrezeptoren. Über einen Zeitraum von mehreren Wochen nimmt die Hormonproduktion immer weiter ab. Es kommt schließlich zu einem Sistieren der Pubertätsentwicklung. Bei sehr frühzeitiger Gabe von GnRH-Agonisten kann in einigen Fällen ggfs. sogar eine Rückentwicklung in ein früheres Pubertätsstadium erfolgen. Wird die Gabe von GnRH-Analoga ausgesetzt, so setzt die Pubertätsentwicklung wieder ein. Dann ist eine grundsätzlich „normale“ physiologische (aber nicht unbedingt psychosoziale) Entwicklung, jedoch zeitversetzt, möglich, d. h., auch Menstruation und Schwangerschaft sind prinzipiell möglich. Bei nachfolgender Gabe von CSH (Testosteron, Östrogen) droht jedoch Unfruchtbarkeit (Cheng, Pastuszak, Myers, Goodwin & Hotaling, 2019). Ferner muss bedacht werden, dass bei Gabe von GnRH-Analoga die Pubertät dann nicht mehr zeitgleich mit der Pubertätsentwicklung anderer gleichaltriger Jugendlicher der Peer-Group stattfindet. Dies ist jedoch ein wichtiger Schritt im Rahmen der physiologischen Entwicklung von Jugendlichen (Khan, 2019), u. a. auch hinsichtlich der Zufriedenheit mit dem eigenen Körperbild (de Guzman & Nishina, 2014). Mit Blick auf den Zeitpunkt einer ggfs. sehr frühen Pubertät und einem späteren Risiko für depressive Symptome konnte eine komplexe Interaktion bzw. ein Zusammenspiel mit der sozialen Beliebtheit der pubertierenden Minderjährigen als ein potenziell moderierender Faktor bei früher Pubertät aufgezeigt werden (Teunissen et al., 2011), wobei hinsichtlich des Pubertätsbeginns komplexe Interaktionen zwischen dem tatsächlichen Zeitpunkt der Pubertät, dem biologischen Geschlecht und der Qualität der Beziehungen zu Gleichaltrigen zu bestehen scheinen (Conley & Rudolph, 2009). Allerdings umfassten die hier genannten Studien keine Minderjährigen mit GD, sodass weiterführende Studien hierzu notwendig sind. Somit ist die Frage nach einer ggfs. „psychosozialen Reversibilität“ der Gabe von PB mit Blick auf die hier dargestellten medizinischen und auch psychosozialen Konsequenzen derzeit nicht eindeutig zu beantworten. Jedoch werden in der aktuellen Forschung Aspekte einer Fruchtbarkeitsberatung für Minderjährige mit GD diskutiert (Lai, McDougall, Feldman, Elder & Pang, 2020).

Progestine sind eine weitere Substanzgruppe zur Pubertätsblockade, welche jedoch bezüglich der von Betroffenen gewünschten körperlichen Aspekte nicht so effektiv sind wie GnRH-Analoga. Hierbei wird zwischen antiandrogenen Progestinen (verwendet bei MtF-Transtition) und proandrogenen Progestinen unterschieden. So kann z. B. durch antiandrogene Progestine eine natürliche Brustentwicklung induziert, eine Maskulinisierung abgeschwächt werden. Beispiele für antiandrogene Progestine sind die Wirkstoffe Spironolacton (wird verwendet für die Behandlung von Bluthochdruck beim primären Hyperaldosteronismus sowie für die Behandlung von Ödemen und Aszites beim sekundären Hyperaldosteronismus) und Cyproteronacetat (Anwendungsgebiete bei Frauen sind Hirsutismus oder androgene Alopezie; bei Männern findet diese Substanz Verwendung z. B. zur Linderung der Symptome bei einem fortgeschrittenem Prostatakarzinom, der Vorbeugung von Symptomen die durch Hormonbehandlungen entstehen können, der Behandlung von Hitzewallungen, die ggfs. durch Gabe von GnRH-Agonisten oder nach Hodenentfernung auftreten können, sowie der Dämpfung bei unangemessenem Sexualverhalten; eine Einnahme als Tablette ist möglich). Spironolacton bewirkt eine Androgen-Rezeptorblockade und unterdrückt z. B. androgenabhängiges Haarwachstum. Proandrogene Progestine werden bei FtM verwendet und können eine Amenorrhoe induzieren.

Die oftmals medial kommunizierte Annahme, dass die Wirkung der Gabe von PB vollständig reversibel sei, ist bislang nicht belegt und mögliche Langzeiteffekte einer Pubertätsblockade sind bislang unklar (Mahfouda, Moore, Siafarikas, Zepf & Lin, 2017; Mahfouda, Moore et al., 2019; siehe hierzu auch Korte & Tschuschke, 2023). Zu diskutieren sind möglicherweise persistierende psychische (z. B. schwere depressive Verstimmung laut Fachinformationen zu GnRH-Analoga wie Leuprorelin) und somatische Effekte, z. B. Veränderungen der kognitiven (Hayes, 2017; Hough, Bellingham, Haraldsen, McLaughlin, Rennie et al., 2017; Hough, Bellingham, Haraldsen, McLaughlin, Robinson et al., 2017; Mul et al., 2001; Wojniusz et al., 2016) und der sozio-emotionalen Entwicklung (Wojniusz et al., 2011), der sexuellen Erlebnisfähigkeit sowie supprimierter Libido (Pastoor et al., 2018) und eine mögliche iatrogen-induzierte Persistenz der GD mit einer Unterdrückung nichttranssexueller Entwicklungen (siehe Korte et al., 2008; Korte, Beier, Vukorepa, Mersmann & Albiez, 2014; Sisk, 2016) sowie die Reduktion der Knochendichte (siehe z. B. Mahfouda et al., 2017; Mahfouda, Moore et al., 2019 sowie NICE, 2020a, 2020b für eine Zusammenstellung). Ebenso müssen ein ggfs. erhöhtes Risiko für Osteoporose, Hypertonie, Veränderungen im Insulinstoffwechsel, Fettstoffwechselveränderungen (z. B. Hypertriglyceridämie), Veränderungen der Leberfunktion und kardiovaskuläre und ggfs. auch maligne Erkrankungen nach CSH-Therapie diskutiert werden (siehe z. B. Kotamarti, Greige, Heiman, Patel & Ricci, 2021; Mahfouda et al., 2017; Mahfouda, Moore et al., 2019, Maraka et al., 2017; Nota et al., 2018; Pugeat et al., 1995; Van Caenegem & T’Sjoen, 2015; Wierckx et al., 2014; siehe auch dazu NICE, 2020a, 2020b). Insgesamt ist die Befundlage zu diesem Themenkomplex bei Kindern und Jugendlichen mit GD sehr gering und weitere Studien hierzu sind notwendig.

Klinische Rationale, Wirkweise, Risiken und unerwünschte Wirkungen der Gabe von gegengeschlechtlichen Hormonen

Die Gabe von gegengeschlechtlichen Hormonen (CSH) hat eine Anpassung des Körpers an das Aussehen des von den jeweiligen Betroffenen präferierten Geschlechts zum Ziel. So soll eine Verabreichung von Testosteron bei FtM-Transition ein männliches Erscheinungsbild (Bartwuchs, Muskelmasse, tiefere Stimme etc.) bewirken. Umgekehrt soll die Gabe von Östrogen bei MtF-Transition ein weibliches Aussehen ermöglichen (hellere Stimme, Brustwachstum etc.). Werden nach einer Pubertätsblockade CSH verabreicht, so droht den Betroffenen Unfruchtbarkeit. Zwar besteht aus medizinischer Sicht grundsätzlich die Möglichkeit einer vorherigen Kryokonservation, d. h., entsprechende Eizellen oder Spermien können vor Beginn der Gabe von CSH gewonnen und eingefroren werden. Jedoch gibt es in Deutschland bisher keine etablierten Standards für eine Fertilitätsberatung von Minderjährigen mit GD. Weiterhin wird der bei der Kryokonservation notwendige Entnahmeprozess der hier betreffenden Keimzellen für die minderjährigen Betroffenen mit GD und einem körperlichen Transitionswunsch oftmals als sehr belastend beschrieben. So wird z. B. eine Spermiengewinnung durch Masturbation bei manueller Stimulation des subjektiv abgelehnten männlichen Genitalorgans bei MtF-Transition als äußerst belastend empfunden, und ebenso wird in der klinischen Praxis eine hormonelle Stimulation der Produktion von Eizellen vor deren Entnahme bei FtM-Transition als große Belastung beschrieben. Oftmals lehnen Betroffene eine solche Kryokonservation aus ebendiesen Gründen ab. Ein weiterer wichtiger Aspekt der Kryokonservation sind die damit verbundenen Kosten, sowohl für die Probenentnahme (hier v. a. bei FtM-Transition) wie auch die Probenaufbewahrung. Die hier genannten Aspekte bezüglich der Kryokonservation stehen in einem direkten thematischen Zusammenhang mit der Gabe von PB bzw. CSH, aber auch mit Aspekten der adoleszenten Entwicklung und der Möglichkeit eines späteren eigenen Kinderwunsches der Betroffenen im Erwachsenenalter. Ziel der vorliegenden systematischen Übersichtsarbeit ist es, eine aktualisierte evidenzbasierte Übersicht zur derzeit verfügbaren Evidenz zur Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit GD mittels PB- und/oder CSH-Gabe zusammenzustellen. Hierzu wird die Befundlage unter Berücksichtigung der zuletzt veröffentlichten systematischen Übersichtsarbeiten des NICE zur PB- (NICE, 2020a) und CSH-Gabe (NICE, 2020b) sowie seitdem veröffentlichter relevanter Folgestudien dargestellt.

Methodik

Übersichtsarbeiten des NICE haben das Ziel, die Evidenz für eine klinische Effektivität, Sicherheit und Kosteneffektivität von neuen medizinischen inkl. pharmakologischer Interventionen zu untersuchen. Das NICE erstellt ferner evidenzbasierte Leitlinien für die Behandlung spezifischer Erkrankungen und verfasst Empfehlungen, wie Public Health und soziale Institutionen Betroffene unterstützen können. Ferner wurde im Rahmen von durch das NICE verfassten Übersichtsarbeiten darauf geachtet, dass ein sog. PICO-Format, wie im Rahmen evidenzbasierter klinischer Praxis üblich, verwendet wurde. Die PICO-Kriterien versucht eine möglichst exakte Beschreibung der jeweiligen Forschungsfrage bei Berücksichtigung von insgesamt vier Konzepten bzw. Aspekten:

  1. 1.
    Patient problem or population (= das betreffende Problem oder die betreffende Population)
  2. 2.
    Intervention (= die jeweils verwendete Intervention)
  3. 3.
    Comparison (= der betrachtete Vergleich, sofern vorhanden)
  4. 4.
    Outcome(s) (= die jeweiligen Zielvariablen)

Vorab wird seitens der Autoren_innen der hier vorliegenden Übersichtsarbeit angemerkt, dass die bisher durchgeführten Studien zur hier betreffenden Thematik zumeist kleine Studienpopulationen und ferner teilweise sehr unterschiedliche methodische Herangehensweisen und Studienaspekte (z. B. Stichprobencharakteristika, verwendete diagnostische Inventare, Dosierungen, zeitliche Aspekte etc.) umfassen. Um die Komplexität der hier betreffenden Thematik ausreichend differenziert darzustellen, werden daher die jeweils unterschiedlichen methodischen Aspekte und Herangehensweisen sowie Stichproben der jeweiligen Studien möglichst detailgenau dargestellt. Dies kann die Lesbarkeit der hier betreffenden Beschreibungen der Studien teilweise erschweren, wobei eine solche Herangehensweise jedoch für eine exakte Darstellung unerlässlich ist. Im Interesse der Betroffenen und einer möglichst genauen Beschreibung der Evidenzlage für diese vulnerable Population ist ein solches Vorgehen notwendig.

Bisherige Evidenzlage zur Pubertätsblockade mittels GnRH-Analoga gemäß NICE (2020a)

Die PICO-Angaben der NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe sind in der Originalpublikation abrufbar (NICE, 2020a). Die hier relevanten Angaben zu den seit den NICE-Übersichtsarbeiten veröffentlichten Arbeiten zur PB- und CSH-Gabe (analoge Literatursuche gemäß bisheriger NICE-Vorgehensweise) sind mit dem Rechercheprotokoll der vorliegenden aktuellen Übersichtsarbeit als elektronische Supplemente (ESM) 2 und 3 dieser Publikation beigefügt.

Im Rahmen der o. g. NICE-Übersichtsarbeit (2020a) wurden neun Studien mit insgesamt N = 798 Teilnehmenden differenziert betrachtet und verglichen. Die nachstehenden Bewertungen der dort besprochenen Arbeiten zu PB finden sich im Original bei NICE (2020a) und werden hier für die deutschsprachige kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Leserschaft analog zu NICE dargestellt. Anschließend werden in einem weiteren Abschnitt die seit der letzten NICE-Übersichtsarbeit (2020a) publizierten Arbeiten dargestellt, welche die PICO-Kriterien erfüllen.

In der NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe wurden fünf retrospektiv beobachtende Studien (Brik, Vrouenraets, de Vries & Hannema, 2020; Joseph, Ting & Butler, 2019; Khatchadourian et al., 2014; Klink, Caris, Heijboer, van Trotsenburg & Rotteveel, 2015; Vlot et al., 2017), drei prospektiv beobachtende Studien (Costa et al., 2015; de Vries, Steensma, Doreleijers & Cohen-Kettenis, 2011; Schagen, Cohen-Kettenis, Delemarre-van de Waal & Hannema, 2016) und eine Cross-sectional-Studie (Staphorsius et al., 2015) betrachtet. Für eine genaue Beschreibung der Suchstrategie zur Literaturfindung wird auf die Originalpublikation verwiesen (NICE, 2020a). Die betreffende NICE-Übersichtsarbeit (NICE, 2020a) umfasste Veröffentlichungen bis zum 23.07.2020 (= Datum der Literatursuche; der Inhalt dieser NICE-Übersichtsarbeit war laut Angaben der Verfasser_innen bis zum Zeitpunkt 14.10.2020 aktuell). Die Literatursuche der Verfasser_innen der vorliegenden Übersichtsarbeit umfasste entsprechende Veröffentlichungen seit dem 23.07.2020 bis zum 07.09.2023 (Embase, Cochrane Library, APA PsycInfo, Ovid MEDLINE[R]; bzgl. genauer Daten und Angaben zur neuen Literatursuche siehe ESM 2 und 3); es erfolgte ein analoges Vorgehen zur Literaturfindung und bezüglich der Beschreibung von PICO-Charakteristika im Einklang mit der betreffenden NICE-Übersichtsarbeit.

Dort wurde die nachstehende Frage hinsichtlich verschiedener sog. „Critical Outcomes“ (kritische Zielvariablen) und „Important Outcomes“ (wichtige Zielvariablen) untersucht. Das Resultat der Literatursuche zu später veröffentlichten Folgestudien zu PB wird im Anschluss an die Befunde der NICE-Übersichtsarbeit (NICE, 2020a) in der vorliegenden Arbeit dargestellt.

Was wissen wir zur klinischen Effektivität von GnRH-Analoga bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention?

Als sog. „Critical Outcomes“ (= kritische Zielvariablen) definiert wurden der jeweilige Einfluss einer Pubertätsblockade durch die Gabe von GnRH-Analoga auf die spezifischen kritischen Endpunkte:

  • Geschlechtsdysphorie
  • Psychische Gesundheit
  • Lebensqualität
  • Körperbild
  • Psychosoziale Effekte

Als sog. „Important Outcomes“ (= wichtige Zielvariablen) wurden der spezifische bzw. explizite Einfluss einer Pubertätsblockade durch die Gabe von GnRH-Analoga auf die nachstehenden spezifischen Endpunkte definiert:

  • Inanspruchnahme des Gesundheitssystems
  • Ausmaß der Zufriedenheit mit einer Operation bei vorheriger Gabe von PB
  • Behandlungsabbrüche

Kritische Zielvariablen (PB)

Hinsichtlich der kritischen Zielvariablen „Geschlechtsdysphorie“, „Lebensqualität“ und „Körperbild“ fanden sich keine signifikanten Effekte, d. h., die PB-Gabe bewirkte keine signifikante Verbesserung. Für die kritische Zielvariable „Psychische Gesundheit“ fand sich in einer Studie (de Vries et al., 2011, N = 70 Studienteilnehmende) eine leichte Reduktion von depressiven Symptomen, es fand sich keine Reduktion von Angst oder Wut. Hierbei erfolgte ein Vergleich der beiden Zeitpunkte T0 (= vor GnRH-Analoga-Gabe) und T1 (= vor einer anschließenden CSH-Gabe). Die mittlere Dauer des Beobachtungszeitraums von T0 zu T1 betrug über die gesamte Stichprobe (Geburtsgeschlecht weiblich und männlich summiert) 1.88 Jahre. In der gleichen Studie fanden sich leichte positive Effekte für die kritische Zielvariable „Psychosoziale Effekte“ unter Verwendung der Instrumente CGAS (Childrens’s Global Assessment Scale; siehe Shaffer et al., 1983), CBCL (Child Behavior Checklist; Achenbach, 2011) und YSR (Youth Self-Report; Achenbach, 1991).

In der Studie von Costa et al. (2015; N = 201 Studienteilnehmende) fanden sich positive psychosoziale Effekte (CGAS), jedoch gab es keinen Unterschied zwischen Gruppen bezüglich der Interventionsform „PB plus Psych-Support“ vs. „Psych-Support alleine“. Insofern kann hier keine Aussage zur Spezifität der Befunde gemacht werden. Die Befunde der Arbeit von Staphorsius et al. (2015; N = 40 Studienteilnehmende insgesamt, davon N = 8 Studienteilnehmende mit PB-Gabe und N = 10 ohne PB-Gabe bei MtF-Transition sowie N = 12 Studienteilnehmende mit PB-Gabe und N = 10 bei FtM-Transition) sind aufgrund eines nach NICE-Angaben unklaren statistischen Vorgehens im Rahmen der Auswertung nicht eindeutig interpretierbar. Die Qualität der Evidenz für diese kritischen Zielvariablen und die damit verbundenen nicht detektierten bzw. nur sehr geringen Effekte wurde auf der Basis der etablierten Modified-GRADE-Kriterien1 mit „very low certainty“ klassifiziert, d. h., sie sind als mit einer sehr geringen klinisch-wissenschaftlichen Sicherheit bzw. Qualität für die jeweiligen Befunde eingestuft.

Wichtige Zielvariablen (PB)

Bezüglich der wichtigen Zielvariablen „Inanspruchnahme des Gesundheitssystems“ wurden in der betreffenden NICE-Übersichtsarbeit drei Studien betrachtet. In der Studie von Brik et al. (2020; N = 143 Studienteilnehmende) wurden N = 9 Studienteilnehmende ausgeschlossen, da Termine nicht mehr wahrgenommen wurden. In der Arbeit von Costa et al. (2015) fand sich eine Reduktion der Teilnahme erst bei Follow-up-Untersuchungen, jedoch erfolgte keine Angabe von Gründen. Hinsichtlich der wichtigen Zielvariable „Behandlungsabbrüche“ ergab sich folgende Befundlage: In der Studie von Brik et al. (2020) brachen N = 9 von N = 143 während einer Follow-up-Phase die Behandlung ab, davon N = 5, da eine PB-Gabe aus diversen Gründen nicht mehr gewünscht wurde, und N = 4 wegen unerwünschter Wirkungen. Bei Katchadourian et al. (2014; N = 84 Studienteilnehmende, davon N = 54 mit FtM-Transition, N = 37 mit MtF-Transition) beendeten ca. 42 % die Behandlung während der Follow-up-Phase.

Auch diesen Befunden bezüglich der hier betreffenden wichtigen Zielvariablen wurde auf der Basis der etablierten Modified-GRADE-Methodik mit der Einstufung „very low certainty“ eine sehr geringe klinisch-wissenschaftliche Sicherheit bzw. Qualität der Evidenz zugeschrieben.

Was wissen wir bezüglich der kurz- und langfristigen Sicherheit von GnRH-Analoga bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention?

Als Zielvariablen wurden nachstehende Parameter definiert:

  • Knochendichte
  • Kognitive Entwicklung/kognitive Funktionen
  • Weitere sog. Safety-Parameter (weitere ausgewählte Aspekte der klinischen Sicherheit im Kontext der hier betreffenden Anwendung)

Joseph et al. (2019; N = 70) fanden bei der Verwendung von GnRH-Analoga zur Pubertätsblockade eine femorale wie auch lumbare Abnahme der Knochendichte. Die Effekte bewegten sich im Bereich einer Standardabweichung (SD), es fand sich kein signifikanter Unterschied zwischen Baseline und Follow-up. In der Arbeit von Klink et al. (2015; N = 34) fand sich eine lumbare Reduktion der Knochendichte nur bei Personen mit FtM-Transition. Auch hier bewegten sich die Effekte innerhalb einer SD, es gab insgesamt keine Unterschiede zwischen Baseline und Follow-up. Bei Vlot et al. (2017; N = 70) fand sich eine femorale wie auch lumbare Reduktion der Knochendichte bei Gabe von GnRH-Analoga. Auch hier lagen die beobachteten Werte im Rahmen einer SD. Die tatsächlichen z-Werte zeigten keinen Unterschied zwischen Baseline und Follow-up.

Bezüglich der Zielvariable „Kognitive Entwicklung/kognitive Funktionen“ kann auf der Grundlage von nur einer Studie (Staphorsius et al., 2015) keine valide Aussage getroffen werden. In der betreffenden Arbeit findet sich laut NICE keine statistische Analyse, es werden lediglich deskriptive Daten präsentiert.

Bezüglich verschiedener „weiterer Safety-Parameter“ ist zu berichten: Es fand sich kein Effekt bezüglich der Gabe von GnRH-Analoga auf die Nieren- und Leberfunktion (Schagen et al., 2016; N = 116, davon N = 49 mit MtF-Transition und N = 67 mit FtM-Transition). In der Studie von Katchadourian et al. (2014; N = 26) finden sich lediglich Einzelbeschreibungen verschiedenster medizinischer Beobachtungen (N = 1 steriler Abszess, N = 1 Gewichtszunahme, N = 1 Kopf- und Beinschmerzen).

Die Qualität der Evidenz bezüglich der o. g. Aspekte der kurz- und langfristigen Sicherheit und der damit verbundenen Befunde wurde auf der Basis der etablierten Modified-GRADE-Methodik ebenfalls mit „very low certainty“ als Ausdruck einer sehr geringen klinisch-wissenschaftlichen Sicherheit bzw. Qualität bewertet.

Ferner ist im Rahmen der hier betreffenden NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe (NICE, 2020a) der Aspekt einer eventuellen Kosteneffektivität betrachtet worden. Für eine Kosteneffektivität von GnRH-Analoga bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention fand sich keinerlei Evidenz.

Abschließend wurde in der betreffenden NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe (NICE, 2020a) folgender Frage nachgegangen:

Gibt es Evidenz dafür, dass Untergruppen bei Kindern/Jugendlichen mit GD besonders von GnRH-Analoga profitieren?

Einfluss von GnRH-Analoga auf die GD

In der Arbeit von Costa et al. (2015) war bei MtF die GD (erfasst mit der UGDS [Utrecht Gender Dysphoria Scale]; Cohen-Kettenis & van Goozen, 1997; McGuire et al., 2020; Steensma et al., 2013b) geringer als bei FtM. Es fand sich bei MtF im Vergleich zu FtM ein statistisch geringerer verbesserter Mittelwert im Sinne eines Einflusses von GnRH-Analoga auf die GD, wobei unklar ist, ob dies bei Follow-up- oder unter Baseline-Bedingungen erfasst wurde. In der Stichprobe von de Vries et al. (2011) war die GD (erfasst mit der UGDS) bei MtF im Vergleich zu FtM geringer.

Einfluss von GnRH-Analoga auf die psychische Gesundheit

Die Studie von de Vries et al. (2011) zeigte für MtF geringere Werte für Ärger und Ängstlichkeit als bei FtM bei Baseline und Follow-up (d. h. es gab hier einen Unterschied zwischen diesen Gruppen) und es fanden sich keine Unterschiede bei depressiven Symptomen.

Einfluss von GnRH-Analoga auf das Körperbild

De Vries et al. (2011) fanden bei MtF im Vergleich zu FtM weniger Unbehagen bezüglich primärer und sekundärer Geschlechtsmerkmale bei Baseline und Follow-up, wobei es keine Unterschiede bei neutralen körperlichen Aspekten gab.

Psychosozialer Einfluss von GnRH-Analoga

Die Arbeit von Costa et al. (2015) beobachtete bei MtF geringere CGAS-Scores bei Baseline im Vergleich zu FtM, jedoch sind hierzu keine Schlussfolgerungen möglich, da es sich lediglich um Unterschiede unter Baseline-Bedingungen handelte. Auch in der Arbeit von de Vries et al. (2011) gab es diverse Unterschiede, jedoch waren keine genauen Schlussfolgerungen möglich.

Befunde seit Erscheinen der letzten NICE-Übersichtsarbeit zur Pubertätsblockade (2020a)

Die Ergebnisse der durch die Autor_innen der vorliegenden Arbeit neu durchgeführten Literatursuche zu PB gemäß NICE-Vorgehensweise für den Zeitraum vom 23.07.2020 bis zum 07.09.2023 (Embase, Cochrane Library, APA PsycInfo, Ovid MEDLINE[R]) sind in den ESM 2 und 3 detailliert dargestellt. Keine der in der systematischen Literatursuche neu identifizierten Studien zu den hier betreffenden kritischen oder wichtigen Zielvariablen gemäß NICE seit Erscheinen der dazugehörigen letzten NICE-Übersichtsarbeit (2020a) erfüllte die hierin definierten PICO-Kriterien. Aus diesem Grund können keine spezifischen neuen Erkenntnisse dargestellt werden. Die genauen Ausschlussgründe für die jeweiligen bei der Literatursuche primär gefundenen Arbeiten sind in den ESM 2 und 3 dieser Arbeit beschrieben.

Bisherige Evidenzlage zur CSH-Gabe gemäß NICE (2020b)

Im Rahmen der o. g. NICE-Übersichtsarbeit zur CSH-Gabe (2020b) wurden insgesamt zehn Studien mit insgesamt N = 762 Teilnehmenden betrachtet. Für eine genaue Beschreibung der Suchstrategie zur Literaturfindung und das entsprechende PICO-Dokument wird auf die Originalpublikation verwiesen (NICE, 2020b). Die nachstehenden Bewertungen der dort besprochenen Arbeiten zur CSH-Gabe finden sich im Original bei NICE (2020b) und werden hier für die deutschsprachige kinder- und jugendpsychiatrische und psychotherapeutische Leserschaft analog zu NICE dargestellt. Anschließend werden in einem weiteren Abschnitt die seit der letzten NICE-Übersichtsarbeit (2020b) publizierten Arbeiten dargestellt, welche die PICO-Kriterien erfüllten.

Im Rahmen dieser Übersichtsarbeit wurde die nachstehende Frage hinsichtlich verschiedener sog. kritischer Zielvariablen untersucht (die Ergebnisse der Literatursuche zu später veröffentlichten Folgestudien zur CSH-Gabe werden im Anschluss an die Befunde des NICE-Reviews [NICE, 2020b] dargestellt):

Was wissen wir bezüglich der klinischen Effektivität einer CSH-Gabe bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention?

Kritische Zielvariablen (CSH-Gabe)

Einfluss einer CSH-Gabe auf die GD

Im Rahmen der Arbeit von López de Lara et al. (2020) fand sich eine Reduktion der GD, welche mittels UGDS nach 12 Monaten erfasst wurde. Jedoch umfasste diese Erhebung lediglich N = 23 Teilnehmende (mit vorheriger Gabe von GnRH-Analoga zur Pubertätsblockade).

Einfluss einer CSH-Gabe auf die psychische Gesundheit

Hier fanden López de Lara et al. (2020; N = 23 Teilnehmende) eine Reduktion von Depression/Ängsten, welche mittels BDI-II (Beck-Depressions-Inventar Revision) nach 12 Monaten erhoben wurden. Die Gruppe um Achille et al. (2020) sah eine Reduktion von Depression/Ängsten, erfasst mit dem CESD-R/PHQ-9 (bei einer Teilstichprobe von N = 50 aus einer Stichprobe von N = 95, wobei die hier betreffenden Teilnehmenden GnRH-Analoga erhalten hatten; bei N = 45 Teilnehmenden lagen keine Follow-up-Daten vor), wobei keine klaren Aussagen bezüglich Suizidalität möglich waren. Hingegen fanden Kuper, Stewart, Preston, Lau und Lopez (2020) keinen klaren Einfluss einer CSH-Gabe auf Depression, Ängste und Suizidalität (keine statistische Auswertung bei einem Stichprobenumfang von N = 148 Studienteilnehmenden erfolgt, davon hatten N = 25 nur PB erhalten, N = 93 nur CSH und N = 30 PB und CSH). In der Erhebung von Kaltiala, Heino, Työläjärvi und Suomalainen (2020; N = 52, davon N = 11 MtF und N = 41 FtM) fanden sich weniger Patient_innen mit einem Behandlungsbedarf für Depression und Ängste oder Suizidalität und Selbstverletzung, wobei hierbei keine Angaben zu ggfs. anderen Behandlungen berichtet wurden. Somit ist hier nicht eindeutig feststellbar, inwieweit die vorgefundenen Resultate auf die CSH-Gabe zurückzuführen sind. In der Studie von Allen, Watson, Egan und Moser (2019) mit zwei Erfassungszeitpunkten (vor Beginn der CSH-Gabe und mindestens 3 Monate nach Behandlungsbeginn, mittlere Behandlungsdauer waren 349 Tage, Spannweite von 113 bis 1016 Tage) ergab sich ein reduziertes Suizidrisiko (erfasst mittels Attributional Style Questionnaire; N = 47 Teilnehmende, davon N = 39 Teilnehmende mit alleiniger Gabe von CSH, N = 8 Teilnehmende mit GnRH-Analoga und folgender CSH-Gabe).

Einfluss einer CSH-Gabe auf die Lebensqualität

Achille et al. (2020; N = 50 Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene mit GD, davon N = 17 mit MtF- und N = 33 mit FtM-Transition, vorherige PB mittels GnRH-Analoga) erhoben eine verbesserte Lebensqualität (erfasst mittels Quality of Life Enjoyment and Satisfaction Questionnaire) zum Zeitpunkt von ca. 12 Monaten nach Follow-up; diese Beobachtung war jedoch nicht statistisch signifikant (kontrolliert bzgl. der Effekte anderer begleitender Interventionen wie Beratung oder psychopharmakologische Behandlung). Die Studie von Allen et al. (2019; N = 39 Teilnehmende mit alleiniger CSH-Gabe, N = 8 Studienteilnehmende mit GnRH-Analoga-Gabe und nachfolgender CSH-Gabe) fand ebenfalls eine verbesserte Lebensqualität nach durchschnittlich 12 Monaten (erfasst mittels Paediatric Quality of Live Inventory).

In der hier betreffenden NICE-Übersichtsarbeit zur CSH-Gabe (NICE, 2020b) fand sich keinerlei Evidenz für einen Einfluss auf die „Inanspruchnahme des Gesundheitssystems“, wie das Ausmaß und die Zufriedenheit mit einer Operation oder eine De-Transition. Auch hier wurde die Sicherheit bzw. Qualität der Evidenz für diese Parameter im Rahmen der kritischen Zielvariablen mit „very low certainty“ nach der Modified-GRADE-Methodik bezüglich der klinisch-wissenschaftlichen Sicherheit bzw. Qualität der Resultate eingestuft. Die Arbeiten von Khatchadourian, Amed und Metzger (2014), Klaver et al. (2020), Klink et al. (2015), Stoffers, de Vries und Hannema (2019) und Vlot et al. (2017) umfassten keine der kritischen Zielvariablen.

Wichtige Zielvariablen (CSH-Gabe)

Im Rahmen dieser Übersichtsarbeit wurde die nachstehende Frage hinsichtlich verschiedener sog. wichtiger Zielvariablen untersucht:

Was wissen wir bezüglich der kurz- und langfristigen Sicherheit einer CSH-Gabe bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention?

Einfluss einer CSH-Gabe auf das Körperbild

Der Einfluss einer CSH-Gabe wurde in der Studie von Kuper et al. (2020; N = 148 Kinder und Jugendliche, davon N = 25 nur mit PB-, N = 93 mit CSH-Gabe, N = 30 mit PB- und CSH-Gabe) untersucht, allerdings sind laut NICE die Resultate aufgrund fehlender statistischer Angaben unklar.

Einfluss einer CSH-Gabe auf psychosoziale Aspekte

López de Lara et al. (2020) fanden im Rahmen ihrer Studie ein insgesamt unverändertes „family functioning“; Verhaltensprobleme hatten sich etwas verbessert. Die Gruppe um Kaltiala et al. (2020) fand, dass signifikant weniger Teilnehmende zu Hause lebten und signifikant weniger Teilnehmende normale Peer-Bekanntschaften hatten. Es gab im Rahmen dieser Erhebung keine Unterschiede im Hinblick auf Beziehungen oder Veränderungen der Berufs-/Schulsituation (nicht mehr oder weniger erfolgreich).

Safety-Parameter Behandlungsabbruch/-unterbrechung

Khatchadourian et al. (2014) berichten, dass in ihrer Studie von den N = 63 Teilnehmenden mit CSH-Gabe (N = 84 Studienteilnehmende insgesamt) keine/r die Behandlung kontinuierlich abbrach, bei N = 3 Teilnehmenden (5 %) kam es zu temporären Behandlungspausen (bei zwei FtM kam es zu psychischen Problemen, bei einer FtM-Person aufgrund einer androgenetischen Alopezie, keine MtF-Personen brachen die Behandlung ab). Angaben über die Behandlungsdauer wurden nicht gemacht.

Safety-Parameter Knochenstoffwechsel

Stoffers et al. (2019) fanden keinen statistisch signifikanten Unterschied in der Bone Mineral Density (BMD, hier lumbar spine und Femurhals/Hüfte) vom Beginn einer Testosterongabe (bei vorheriger Pubertätsblockade mittels GnRH-Analoga) bis zu jedem Erfassungszeitpunkt (einschl. 24 Monats-Follow-up). In der Arbeit von Klink et al. (2015) zeigte sich bei MtF wie auch FtM eine geringe bis moderate, statistisch signifikante Zunahme der mittleren BMD-Werte, jedoch nicht der z-Scores (statistisch nicht signifikant) vom Beginn einer CSH-Gabe bis zu einem Alter von 22 Jahren. Für die Femurregion (nichtdominante Seite) fanden sie im Untersuchungszeitraum bei MtF eine geringe Zunahme der BMD-Werte, für die entsprechenden z-Werte fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied. Bei FtM fand sich ebenfalls eine geringe Zunahme der BMD-Mittelwerte für diesen Betrachtungszeitraum. Hinsichtlich der Lumbar Spine Bone Mineral Apparent Density (BMAD) ergab sich bei FtM und auch MtF eine marginale Zunahme. Bei MtF fand sich kein statistisch signifikanter Unterschied bezüglich der z-Scores, bei FtM fand sich eine geringe Zunahme der z-Scores. Hinsichtlich der Femurregion (BMAD, nichtdominante Seite) fand sich bei MtF kein Unterschied vom Beginn einer CSH-Gabe bis zum 22. Lebensjahr, bei FtM fand sich eine geringe Zunahme. Für die jeweiligen z-Werte wurde keine statistische Analyse berichtet.

Andere Safety-Parameter

Die Alkalische Phosphatase zeigte in der Studie von Stoffers et al. (2019) vom Beginn einer Testosterongabe über einen Zeitraum von 6 und 12 Monaten erhöhte Werte, nach 24 Monaten war dieser Unterschied nicht mehr statistisch signifikant. Kreatininwerte waren nach Testosterongabe über einen Zeitraum von jeweils 6, 12 und 24 Monaten erhöht. Andere Parameter (HbA1c, Aspartat Aminotransferase [AST], Alanin Aminotransferase [ALT], Gamma-glutamyl transferase [GGT] und Harnstoff) zeigten keinen Unterschied (Stoffers et al., 2019). Numerische Resultate, die Follow-up-Dauer und weitere Details bezüglich der statistischen Auswertung wurden in dieser Studie (Stoffers et al., 2019) nicht berichtet.

Die Studie von Klaver et al. (2020) zeigte, dass bei MtF-Transition vom Beginn der CSH-Gabe bis zum 22. Lebensjahr Laborwerte für Triglyceride (mittlere Zunahme +0.2 mmol/L, 95 % CI 0.0 bis 0.5), der mittlere diastolische Blutdruck (mittlere Zunahme +6 mmHg, 95 % CI 3 bis 10) und der BMI (mittlere Zunahme +1.9, 95 % CI 0.6 bis 3.2) statistisch signifikant anstiegen. Andere erfasste Parameter (systolischer Blutdruck, Glukose, Insulin, Gesamtcholesterol, HDL und LDL, Insulinzresistenz) zeigten keine Veränderungen. Bei FtM-Transition fanden sich erhöhte Werte für BMI (mittlere Zunahme +1.4, 95 % CI 0.8 bis 2.0), systolischen (mittlere Zunahme 5 mmHg, 95 % CI 1 bis 9) und diastolischen Blutdruck (mittlere Zunahme +6 mmHg, 95 % CI 4 bis 9), Gesamtcholesterol (mittlere Zunahme +0.4 mmol/L, 95 % CI 0.2 bis 0.6), LDL (mittlere Zunahme +0.4 mmol/L, 95 % CI 0.2 bis 0.6) und Triglyceride (mittlere Zunahme +0.5 mmol/L, 95 % CI 0.3 bis 0.7). Eine Abnahme fand sich für HDL (mittlere Abnahme –0.3 mmol/L, 95 % CI –0.4 bis –0.2), Insulin (mittlere Abnahme –2.1 mU/L, 95 % CI –3.9 bis –0.3) und Insulinresistenz (mittlere Abnahme –0.5, 95 % CI –1.0 bis –0.1, HOMA-IR). Die mittleren Glukosewerte zeigten keinen Unterschied.

Die Sicherheit bzw. Qualität der Evidenz für diese wichtigen Zielvariablen wurde mit „very low certainty“ nach Modified-GRADE-Methodik im Sinne der klinisch-wissenschaftlichen Sicherheit der Resultate eingestuft.

Befunde seit Erscheinen der letzten NICE-Übersichtsarbeit zur CSH-Gabe (2020b)

Nachstehend werden die Ergebnisse der neu durchgeführten Literatursuche zur CSH-Gabe gemäß NICE-Vorgehensweise für den Zeitraum vom 23.07.2020 bis 07.09.2023 (Embase, Cochrane Library, APA PsycInfo, Ovid MEDLINE[R]) dargestellt. Das genaue Vorgehen zur Literatursuche (analog zu NICE, 2020b) ist in den ESM 2 und 3 dieser Publikation beschrieben (Rechercheprotokoll). Es fanden sich zur CSH-Gabe insgesamt nur zwei Studien im Sinne von Originalarbeiten (Grannis et al. 2021; Morningstar et al., 2023), welche die PICO-Kriterien erfüllten. Daneben fanden sich 29 (zumeist beobachtende, teilweise retrospektive) Studien, welche die PICO-Kriterien (zumeist aufgrund einer nicht vorhandenen Vergleichsmöglichkeit bzgl. der ggfs. beobachteten Effekte, so z. B. eine behandelte und eine unbehandelte Gruppe o. Ä.) nicht erfüllten. Die genauen Ausschlussgründe für diese 29 Originalarbeiten sind ebenfalls in den ESM 2 und 3 dieser Arbeit beschrieben. Weiterhin fanden sich 25 Übersichtsarbeiten. Nachstehend wird daher nur auf die beiden neuen Originalarbeiten eingegangen, welche die Kriterien gemäß PICO erfüllten (Grannis et al., 2021; Morningstar et al., 2023).

Die Studie von Grannis et al. (2021) schloss Minderjährige mit (N = 19; mittleres Alter 17.03 Jahre +/–1.24; mittlere Behandlungsdauer mit Testosteron 13.13 Monate +/–10,28; mittlere Testosterondosis bei 242.11 mg +/–82,97) und ohne Gabe von Testosteron (N = 23; mittleres Alter 15.75 Jahre +/–1,47) bei FtM-Transition im Rahmen einer fMRT-Studie zur Untersuchung der Verarbeitung von Gesichtern bzw. Gesichtsausdrücken ein. In der unbehandelten Gruppe standen N = 8 Teilnehmende kurz vor Beginn einer Behandlung mit Testosteron, hatten aber noch keine Testosterondosis erhalten. Weitere N = 6 Teilnehmende waren zu einer endokrinologischen Beratung überwiesen worden und waren zum Untersuchungszeitpunkt noch unbehandelt, bei N = 5 Teilnehmenden lag keine elterliche Zustimmung für die Gabe von Testosteron vor, N = 1 Studienteilnehmender wollte keine Testosterongabe, und bei N = 3 Teilnehmenden hätten multiple oder andere unspezifische Gründe vorgelegen, weswegen eine Behandlung mit Testosteron nicht erfolgt sei (siehe Grannis et al., 2021, elektronisches Supplement der Originalpublikation). Es fand sich kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich der Verwendung eines Screening-Tools für Symptome einer Störung aus dem autistischen Spektrum (SRS-Rohwerte [Social Responsiveness Scale]; Constantino & Gruber, 2012, Constantino, 2013). Im Rahmen dieser Erhebung wurden ferner Symptome generalisierter Angst, sozialer Ängste, Suizidalität und der Zufriedenheit mit dem Körperbild erfasst, wobei diese Studie jedoch explizit keine direkten spezifischen Behandlungseffekte bezüglich dieser Zielvariablen beleuchten konnte aufgrund fehlender Angaben entsprechender Zielvariablen vor Behandlungsbeginn und nach erfolgter Behandlung. Weiterhin erfolgte keine Randomisierung, wobei diese kein PICO-Einschlusskriterium darstellt. Es erfolgte lediglich eine explorative fMRT-Untersuchung zur Untersuchung der Prozessierung von Gesichtern zusammen mit der Erfassung von den o. g. klinischen Symptomen bei Teilnehmenden mit oder ohne Testosterongabe. Das Ausmaß an Ängstlichkeit und Depression zum Untersuchungszeitpunkt war in der Studiengruppe mit Testosteron im Vergleich zur Gruppe ohne Testosteron statistisch signifikant geringer und es fand sich eine Tendenz für geringere Suizidalität in der Testosteron-Behandlungsgruppe, wobei eventuelle direkte antidepressive Effekte einer Testosterongabe nicht auszuschließen sind. Die Behandlungsgruppe mit Testosteron berichtete statistisch signifikant weniger Belastungen mit dem Körperbild und zeigte eine stärkere Konnektivität im Rahmen eines neuronalen Regelkreises zwischen dem präfrontalen Kortex und der Amygdala im Vergleich zur unbehandelten Gruppe. Die Gruppenunterschiede bezüglich Depression und Suizidalität zeigten eine Assoziation bzw. statistisch signifikante Korrelation mit der Zufriedenheit/Unzufriedenheit mit dem eigenen Körperbild. Der Ausprägungsgrad ängstlicher Symptome wurde durch die Konnektivitätsunterschiede zwischen den beiden Gruppen im Rahmen der o. g. Verbindungen zwischen Amygdala und dem präfrontalen Kortex moderiert.

Die Arbeit von Morningstar et al. (2023) untersuchte die Effekte von Testosteron auf die neurale Prozessierung von emotionalen vokalen Stimuli im Vergleich zu ebensolchen elterlichen Stimuli bei Minderjährigen mit FtM-Transition mit (GAH+-Gruppe, N = 19 in der final analysierten Stichprobe, Dosis-Range von 12.5 bis 60 mg/Woche, häufigste Dosis war eine Gabe von 25 mg/Woche, Altersbereich 14 bis 18 Jahre, mittleres Alter 16.21 Jahre +/–1.13) und ohne Testosterongabe (GAH--Gruppe, N = 25 in der ausgewerteten Stichprobe, Altersbereich 12 bis 18 Jahre, mittleres Alter 15.32 Jahre +/–1.49) im Rahmen einer fMRT-basierten Erhebung. Alle Studienteilnehmenden waren frei von einer vorherigen PB. In der GAH+-Gruppe dauerte die Gabe von Testosteron durchschnittlich ca. 1.1 Jahre (Spannweite: 1 Monat bis 2.8 Jahre). Der Altersunterschied zwischen den beiden Gruppen GAH+/GAH) war statistisch signifikant, weswegen für den Faktor Alter im Rahmen der Resultate kontrolliert wurde. Mit Blick auf mögliche Symptome für Störungen aus dem autistischen Spektrum fand sich kein Unterschied zwischen den beiden Gruppen hinsichtlich des orientierenden Screening-Tools SRS-2 (Constantino & Gruber, 2012; Constantino, 2013).

Die Morningstar-Studie untersuchte mit Blick auf das NICE keine der definierten kritischen Zielvariablen (Geschlechtsdysphorie, psychische Gesundheit, Lebensqualität, Körperbild, psychosoziale Effekte) oder wichtigen Zielvariablen (Inanspruchnahme des Gesundheitssystems, Ausmaß einer Zufriedenheit mit einer späteren Operation, Behandlungsabbrüche). Die Resultate zeigten eine abgeschwächte neurale Antwort im anterioren cingulären Kortex (engl. anterior cingulate cortex, ACC) auf wütende Stimmen der Erziehungsberechtigten und eine gesteigerte Antwort auf unbekannte wütende Stimmen Gleichaltriger in der GAH+-Gruppe. In der GAH-Gruppe fand sich ein umgekehrter Effekt und es zeigte sich eine größere neurale Antwort auf unbekannte fröhliche Stimmen Gleichaltriger im Vergleich zu fröhlichen Stimmen von Erziehungsberechtigten in ebendieser Hirnregion. Die Autoren_innen dieser Arbeit spekulierten über eine ggfs. „mehr fortgeschrittene“ soziale Re-Orientierung in der GAH+-Gruppe, da die reduzierte neurale Antwort im ACC auf wütende Stimmen von Erziehungsberechtigten in der GAH+-Gruppe mit einer stärkeren relativen Verbundenheit mit Freunden im Vergleich zu Erziehungsberechtigten assoziiert war. Dies sei nach Einschätzung der Autoren_innen der Morningstar-Studie konsistent mit Aspekten der adoleszenten Entwicklung, indem Testosteron während der Adoleszenz die Bewertung emotionaler Stimuli in Hirnregionen beeinflusse, welche mit der Prozessierung von affektiven Informationen in Verbindung stehen.

Die Sicherheit bzw. Qualität der Evidenz für die hier untersuchten Parameter im Rahmen der beiden zusätzlich identifizierten Studien zur CSH-Gabe (Grannis et al., 2021; Morningstar et al., 2023) kann mit „low certainty“ nach Modified-GRADE-Kriterien eingestuft werden (siehe ESM 4 und 5 zu dieser hier vorliegenden Publikation).

Charakteristika der nichtberücksichtigten Studien

Die Methodik, die in der NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe (NICE, 2020a) verwendet wurde, ist allerdings u. a. in sozialen Medien kritisiert worden, weil in den Augen der Kritiker_innen relevante Studien nicht berücksichtigt worden seien. Dies gelte nach Eckert (2021) für die Studien von Achille et al. (2020), de Vries et al. (2014), Ghelani, Lim, Brain, Fewtrell und Butler (2020), Jensen et al. (2019), Klaver et al. (2018), Klaver et al. (2020), Kuper et al. (2020), Schagen, Lustenhouwer, Cohen-Kettenis, Delemarre-van de Waal und Hannema (2018), Swendiman, Vogiatzi, Alter und Nance (2019), Turban, King, Carswell und Keuroghlian (2020), van der Miesen, Steensma, de Vries, Bos und Popma (2020) sowie die Arbeit von Vrouenraets, Fredriks, Hannema, Cohen-Kettenis und de Vries (2016). Eine erneute, detaillierte Betrachtung dieser Arbeiten erschien daher sinnvoll. Das Ergebnis der durchgeführten Betrachtung war dasselbe wie damals in der NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe (NICE, 2020a). Wie deutlich wurde, handelte es sich um

Die Arbeit von Kuper et al. (2020) wurde nur im Rahmen der NICE-Übersichtsarbeit zur CSH-Gabe (NICE, 2020b), nicht aber in der NICE-Übersichtsarbeit zur PB-Gabe (NICE, 2020a) berücksichtigt, da sie mehrheitlich Teilnehmende umfasste, die eine CSH-Gabe erhielten. Sie hat ähnliche methodische Mängel wie andere ausgeschlossene Studien: Es erfolgten zusätzlich zur CSH-Gabe weitere Interventionen; eine Zuordnung der beobachteten Befunde zu den jeweiligen Interventionen ist nicht möglich, und es gab keine Kontrollgruppe. Die Arbeit von van der Miesen et al. (2020) wurde nicht in die betreffende NICE-Übersichtsarbeit aufgenommen, da die berichteten Effekte wegen einer begleitenden psychosozialen Unterstützung und fehlender Kontrollgruppe nicht eindeutig der PB-Gruppe zugeordnet werden können.

Diskussion

Die vorliegende systematische Übersichtsarbeit hat zum Ziel, die verfügbare Evidenz zur Gabe von PB und/oder CSH bei Minderjährigen mit GD unter Berücksichtigung der PICO-Kriterien auf die durch das NICE definierten Zielvariablen darzustellen. Dies erfolgte anhand der im Jahr 2020 publizierten systematischen Übersichtsarbeiten des NICE (2020a, 2020b) mit Beschreibung der durch das NICE angewandten Bewertungssystematik und erneuten Prüfung der Nichtbeachtung der nicht eingeschlossenen Studien, ergänzt durch eine Recherche und Bewertung der Studien, die seit Veröffentlichung der o. g. NICE-Übersichtsarbeiten zu diesen Interventionen veröffentlicht wurden. Dafür wurde eine analoge Vorgehensweise zu NICE (2020a, 2020b) angewendet. All diese Recherchen (die aktuelle und die für die Übersichtsarbeiten des NICE [2020a, 2020b]) erfolgten nach denselben, vorab festgelegten Kriterien. Die gefundene Evidenz wurde hinsichtlich ihrer methodischen Qualität mit einer Modified-GRADE-Methodik bewertet. Beim GRADE-Ansatz wird aus der Endpunkt-Perspektive, d. h. mit Blick auf entsprechende Zielvariablen, die Qualität der Evidenz eingeschätzt. Dabei wird das Vertrauen in die Größe des berichteten Effekts mit Blick auf Studiendesign, Verzerrungsrisiko, fehlende Präzision, Inkonsistenz, Indirektheit und Stärke des Effekts bewertet. Wie oben im Detail berichtet, führte die Anwendung dieser Methodik (PICO-Kriterien) zum Ausschluss, d. h. Nichtaufnahme, von Studien zur PB- und CSH-Gabe in die publizierten systematischen Übersichtsarbeiten des NICE (2020a, 2020b), was zwar verschiedentlich kritisiert wurde, jedoch methodisch und mit Blick auf eine rein evidenzbasierte medizinische Betrachtung wissenschaftlich korrekt war.

Neue Studien seit der Veröffentlichung der NICE-Übersichtsarbeiten

Als wichtige Limitation bezüglich der nach den beiden systematischen Übersichtsarbeiten des NICE (2020a, 2020b) publizierten Studie zur CSH-Gabe von Grannis et al. (2021) ist anzumerken, dass keine Korrektur für multiples Testen am gleichen Datensatz erfolgte (z. B. im Rahmen einer Alpha-Adjustierung gemäß dem Verfahren von Bonferroni-Holm oder nach Hommel-Hochberg), weswegen falsch-positive Signifikanzen nicht auszuschließen sind. Ferner ist unklar, inwieweit die hier erhobenen Befunde (Grannis et al., 2021), v. a. bezüglich der gemäß NICE definierten kritischen Zielvariablen tatsächlich im Sinne der Spezifität der Befunde auf die Behandlung mit Testosteron zurückzuführen sind. Gründe hierfür sind, dass für die Behandlungsgruppe mit Testosteron keine Daten vom Zeitpunkt vor der Testosterongabe vorlagen, es keine randomisierte Gruppenzuteilung gab und detaillierte Angaben zu eventuellen anderen begleitenden Interventionen oder Behandlungen fehlen. Es findet sich lediglich die Angabe, dass alle Teilnehmenden aufgrund ihrer GD eine „affirmative behaviorale Gesundheitsunterstützung“ erhalten hätten und alle Teilnehmenden bisher keine PB erhalten hätten. Weitere Angaben zu einer eventuellen psychotherapeutischen Begleitung oder anderen psychosozialen Interventionen finden sich nicht.

In der bei Grannis et al. (2021) mit Testosteron behandelten Gruppe erhielten 52.63 % eine pharmakologische antidepressive oder anxiolytische Behandlung, in der unbehandelten Gruppe (d. h. keine Gabe von Testosteron) waren dies 78.26 %. Dieser Unterschied im Anteil der psychopharmakologisch behandelten Studienteilnehmenden zwischen der mit Testosteron behandelten und der nicht mit Testosteron behandelten Gruppe war jedoch statistisch nicht signifikant (Signifikanzniveau von p < .01). Somit ist aufgrund des Anteils von Studienteilnehmenden mit begleitender psychopharmakologischer Behandlung von einer klinisch relevanten psychischen Belastung bei mehr als der Hälfte der Teilnehmenden in beiden Gruppen auszugehen und Effekte der verordneten psychopharmakologischen Behandlung auf die hier betrachteten Variablen sind ebenfalls nicht auszuschließen. Aufgrund der hier beschriebenen Limitationen ist die Spezifität der Befunde von Grannis et al. (2021) unklar und die Studienstichprobe ist vom Umfang her limitiert. Weiterhin sind eventuelle direkte (oder auch ggfs. additive) antidepressive Effekte durch die erfolgte Testosterongabe in der bereits mit Testosteron behandelten Gruppe nicht auszuschließen. Es können mit Blick auf die Studie von Grannis et al. (2021) derzeit keine neuen Aussagen bezüglich einer Testosterongabe bei Jugendlichen mit GD mit Blick auf die gemäß NICE definierten Zielvariablen bei Berücksichtigung der PICO-Kriterien gemacht werden.

Insgesamt liefern die beiden neuen Studien (Grannis et al., 2021; Morningstar et al., 2023), die seit der Veröffentlichung der beiden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE, 2020a, 2020b) erschienen sind und welche die o. g. PICO-Kriterien erfüllen, keine belastbaren neuen Erkenntnisse hinsichtlich der nach NICE definierten kritischen und wichtigen Zielvariablen. Die Gründe hierfür liegen im jeweiligen Studiendesign (Ziel beider Studien ist nicht explizit die Evaluation der klinischen Effektivität der Intervention [PB-, CSH-Gabe] mit Blick auf die gemäß NICE definierten Zielvariablen; keine Randomisierung, keine behandlungsbezogenen Baseline- oder Verlaufsdaten), in der sehr geringen Stichprobenzahl, in der unklaren Spezifität der Befunde und einem damit verbundenen sehr hohen Bias- bzw. Verzerrungsrisiko für ebendiese Studienbefunde. Hierbei ist anzumerken, dass die nicht erfolgte Randomisierung kein Kriterium für den Ausschluss einer Studie gemäß PICO-Ansatz ist, da dieser Ansatz lediglich eine Vergleichsbedingung ohne entsprechende Intervention fordert. Jedoch ist durch eine fehlende Randomisierung das Risiko einer systematischen Verzerrung vergrößert, denn ggfs. gefundene Effekte können bei Nichtrandomisierung z. B. nicht durch die intendierte experimentelle Manipulation zustande kommen, sondern durch ungewollte Unterschiede zwischen den jeweiligen Gruppen. Weiterhin umfassten die beiden neu hinzugekommenen Studien ausschließlich Personen mit FtM-Transition und unmittelbare direkte Einflüsse auf die kritische Zielvariable GD wurden nicht erfasst. Ferner muss erwähnt werden, dass derzeit keine Aussagen zu einer eventuellen Kosteneffektivität beider Interventionen (PB-, CSH-Gabe) möglich sind.

Derzeitige Studienlage

Die derzeitige Studienlage zu einer PB- und/oder CSH-Gabe bei Kindern und Jugendlichen ist sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit meist unzureichender Methodik aus wenigen Zentren. Die Ergebnisse der in der vorliegenden Arbeit zusammengetragenen und vorgestellten Studien, welche die Auswirkungen auf die Reduktion oder das Sistieren einer GD bzw. auf die Verbesserung der psychischen Gesundheit (sog. kritischen Endpunkte), der Körperzufriedenheit und der globalen und psychosozialen Funktionsfähigkeit (sog. wichtige Endpunkte) bei Kindern und Jugendlichen mit GD untersuchten, sind demnach von niedriger Qualität; das klinisch-wissenschaftliche Vertrauen in die berichteten (oft unspezifischen) Effekte ist gering.

Bei allen Studien, die in den beiden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE, 2020a, 2020b) und in der vorliegenden Arbeit berücksichtigt werden, handelt es sich um Beobachtungsstudien, die dem Risiko für Verzerrungen und dem Einfluss weiterer nicht erfasster Faktoren unterliegen. Die Dokumentation und Kontrolle des Einflusses psychischer und somatischer Komorbidität sowie von Begleitbehandlungen war in allen Studien unzureichend. Die Studien stammen aus einer begrenzten Anzahl von Versorgungszentren, vielfach mit kleinen Stichproben, die kaum eine Generalisierung der Ergebnisse auf andere Populationen zulassen. Einige frühere Studien berichten keine Konfidenzintervalle und die wenigen statistisch signifikanten Prä-Post-Unterschiede bezüglich der betrachteten Veränderungsmaße und der Knochendichte waren zumeist gering (vgl. NICE, 2020a, 2020b für eine Zusammenfassung früherer Studien). Somit bleibt deren klinische Bedeutsamkeit unklar. Einige Studien weisen weitere gravierende methodische Schwächen auf, wie Mängel in der Datenanalyse, eine fehlende Randomisierung (z. B. Grannis et al., 2021; Morningstar et al., 2023, wobei eine eventuelle Randomisierung kein explizites PICO-Kriterium darstellt) und ein Fehlen vorab definierter Endpunkte und behandlungsbezogener Verlaufsdaten.

Insgesamt fehlt anhand der hier vorgestellten Ergebnisse der bisherigen und hier behandelten Studien bislang eine solide Evidenz dafür, dass sich die GD im Speziellen und die psychische Gesundheit im Allgemeinen durch Gabe von PB und CSH bei Minderjährigen verbessern. Eine alternative und für die Betroffenen ebenso wichtige Interpretation könnte gleichwohl sein, dass auch ein unverändertes Erleben von GD und Körper(un)zufriedenheit nach einer PB-Gabe bereits einen relativen Behandlungserfolg darstellt: Die PB-Gabe könnte eine weitere klinische Verschlechterung ggfs. verhindert haben, indem die als belastend erlebte Entwicklung sekundärer Geschlechtsmerkmale blockiert wurde. Aber auch um diesen möglichen hier diskutierten Effekt der PB-Gabe zu belegen, hätte es einer Kontrollgruppe bedurft, sodass eine solche Interpretation derzeit lediglich spekulativer Natur sein kann.

Mit dem Anstieg der administrativen Prävalenz von GD in den letzten Jahren verbunden sind Veränderungen der Charakteristika der Inanspruchnahme- und Studienpopulationen (Thompson et al., 2022a). Zu beobachten war zuletzt eine Zunahme von geburtsgeschlechtlichen Mädchen, deren geschlechtsdysphorisches Erleben sich erstmals in der frühen und mittleren Adoleszenz manifestiert (vgl. Thompson et al., 2022a). Zudem finden sich bei Kindern und Jugendlichen mit GD im Vergleich zur Gesamtpopulation gehäuft begleitende psychische Störungen (Kallitsounaki & Wiliams, 2023; für eine Übersicht über 32 Einzelstudien aus 11 Ländern vgl. Thompson, Sarovic, Wilson, Sämfjord & Gillberg, 2022b).

Die Stärke der vorliegenden Arbeit liegt in der breit angelegten Suchstrategie mit identischen Kriterien, wie in den letzten beiden NICE-Übersichtsarbeiten zu dieser Thematik, und in der Bewertung der Qualität der Evidenz mit der etablierten GRADE-Methodik.

Schlussfolgerungen zur derzeitigen Evidenzlage

Insgesamt ist die Evidenzlage bezüglich der Wirksamkeit einer Behandlung einer GD bei Kindern und Jugendlichen mit PB und/oder CSH im Sinne der Verhinderung der Verschlechterung der möglichen Effekte einer körperlichen Transition bzw. im Sinne des Beginns einer körperlichen Transition derzeit mangelhaft. Die Resultate der betreffenden NICE-Übersichtsarbeiten (NICE 2020a, 2020b) und unserer ergänzenden Literaturanalyse von seitdem veröffentlichen Studien mit PICO-Merkmalen lassen einen sicheren klinischen Nutzen hinsichtlich der hier betrachteten Zielvariablen für betroffene Minderjährige nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit nachweisen. Kontrollierte Langzeitstudien zu den positiven und negativen Wirkungen von PB und CSH auf psychische wie auch somatische Parameter bei Kindern und Jugendlichen mit GD fehlen bisher. Dies wirft die Frage nach dem Inhalt und dem evidenzbasierten Wert klinischer Schlussfolgerungen existierender Studienergebnisse zur PB- und CSH-Gabe auf. Dabei gilt es im Einzelfall zwischen einem möglichen „Schaden durch aktives Tätigwerden“ und einem „Schaden durch Abwarten“ im Rahmen eines dialogischen Prozesses und im Rahmen eines multiprofessionellen Diagnostik- und Behandlungskonzeptes abzuwägen. Orientierung geben können dabei die Entwicklungen in anderen europäischen und auch außereuropäischen Ländern.

Die europäische Perspektive

Vor dem Hintergrund der unzureichenden Evidenz zur Wirksamkeit und Sicherheit einer Behandlung einer GD bei Kindern und Jugendlichen mit PB und/oder CSH sind in Großbritannien, Schweden, Finnland und Norwegen gesundheitspolitische Konsequenzen gezogen worden.

In England können PB im staatlichen Gesundheitssystem NHS (National Health Service) zukünftig nur im Rahmen einer klinischen Studie eingesetzt werden (NHS England, 2023). Es wird betont, dass ein erheblicher Anteil der Kinder und Jugendlichen mit GD gleichzeitig psychische Belastungen, neurologische Entwicklungsstörungen oder persönliche, familiäre oder soziale Konfliktsituationen aufweist, die nach Ansicht des NHS den Wunsch nach einer Behandlung fördern könnten. Der Zusammenhang zwischen diesen Faktoren und dem Erleben von GD sei möglicherweise nicht ohne weiteres ersichtlich und werde häufig erst nach einer sorgfältigen Untersuchung erkannt.

Die primäre Intervention für Kinder und Jugendliche sollen in England demnach psychosoziale Interventionen einschließlich Psychoedukation und Psychotherapie darstellen, die das Hauptziel verfolgen, die mit dem Inkongruenzerleben verbundenen Belastungen zu lindern und das globale Funktionsniveau und Wohlergehen der jeweiligen betroffenen Person zu fördern. Gefordert wird, dass die klinische Praxis offen dafür sein müsse, alle entwicklungspsychologisch und psychosozial angemessenen Optionen für Kinder und Jugendliche mit einem geschlechtsspezifischen Inkongruenzerleben zu evaluieren. Berücksichtigt werden solle, dass es sich bei der GD besonders bei vorpubertären Kindern um eine vorübergehende Phase handeln könne. In diesem Zusammenhang wird betont, dass auch eine frühe soziale Transition Risiken aufweise, indem z. B. Kinder und Jugendliche Schwierigkeiten erleben könnten, auf eigenen Wunsch in ihre ursprüngliche Geschlechtsrolle zurückzukehren.

In Schweden hat das National Board of Health and Welfare (Socialstyrelsen) im Jahr 2022 eine Aktualisierung ihrer Leitlinien für die Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen unter 18 Jahren mit GD/Geschlechtsinkongruenz veröffentlicht und die Behandlung einer GD bei Kindern und Jugendlichen mit PB und/oder CSH stark eingeschränkt (Socialstyrelsen, 2023). Betont wird in Schweden die Notwendigkeit einer umfassenden Diagnostik, wobei das Vorliegen von Hinweisen auf Autismus-Spektrum-Störungen eine weitere zusätzliche Diagnostik erforderlich macht. Psychologische und psychotherapeutische Interventionen werden hier als Therapie der ersten Wahl für alle Kinder und Jugendlichen mit GD empfohlen. Hervorgehoben wird, dass der Therapieschwerpunkt auf einer Auseinandersetzung mit der Geschlechtsidentität liegen und die Therapie hinsichtlich des Behandlungsergebnisses offen gestaltet werden soll. Die Gabe von PB und/oder CSH soll in Schweden künftig nur in Ausnahmefällen und an wenigen hoch spezialisierten Zentren im Rahmen der Forschung angeboten werden. Voraussetzung für eine Pubertätsblockade bei Jugendlichen ist ein präpubertärer Beginn der GD und eine mindestens 5 Jahre lang andauernde, bis in die Pubertät bestehende GD, die ein deutliches Leiden verursacht. Nur in Einzelfällen kann bei Patient_innen mit postpubertär einsetzender GD, insbesondere bei biologisch männlichen Patienten, eine Behandlung mit PB angeboten werden. Die Eignung für eine PB- und/oder CSH-Gabe sowie die Einwilligungsfähigkeit bei Minderjährigen im Blick auf die Tragweite und Bedeutung der geplanten Interventionen werden in Schweden künftig von einem interdisziplinären klinischen Team beurteilt. Die PB-Gabe ist in Schweden erst ab dem Tanner-Stadium 3 mit einem Mindestalter von 12 Jahren möglich, eine CSH-Gabe ab einem Mindestalter von 16 Jahren.

Finnland hatte aufgrund der Empfehlungen des Council for Choices in Health Care bereits 2020 die Verwendung von PB strikt limitiert. Norwegen überarbeitet die dortigen Empfehlungen derzeit.

In den Vereinigten Staaten von Amerika (USA) finden sich laut Angaben von ABC News je nach Bundesstaat Informationen zu unterschiedlichen Regelungen und Gesetzen (Alfonseca, 2023). Einige Bundesstaaten erwägen geschlechtsangleichende Behandlungen für Minderjährige generell zu verbieten. Mindestens 18 Bundesstaaten (Alabama, Arkansas, Arizona, Florida, Georgia, Idaho, Indiana, Iowa, Kentucky, Mississippi, Missouri, Montana, Nebraska, North Dakota, Oklahoma, South Dakota, Tennessee, Utah) haben Gesetze oder Regulierungen in Kraft treten lassen, welche den Ansatz der sog. „Gender-affirming care“ (GAC) für Minderjährige einschränken. Dies betrifft hier Personen, die von ihrem Alter her „under the age of legal majority“ sind, was in den meisten US-amerikanischen Bundesstaaten ein Alter von 18 Jahren bedeutet. Die Gesetze in Alabama und Arkansas würden derzeit aufgrund verschiedener rechtlicher Aspekte blockiert, in Georgia würden die derzeitigen Gesetze transidenten jungen Menschen („trans youth“) eine Pubertätsblockade erlauben. In mindestens 14 weiteren Bundestaaten werden Gesetze und Regulierungen diskutiert oder sind eingeführt worden, die in ähnlicher Weise diese Art der medizinischen Behandlung (GAC) für junge transidente Menschen einschränken.

Aus Sicht der Autoren_innen der hier vorliegenden Arbeit ziehen England und die o. g. skandinavischen Länder angesichts der dargestellten Evidenzlage nachvollziehbare Schlussfolgerungen für die Diagnostik, Begleitung und Behandlung von Kindern und Jugendlichen mit GD. Sie berücksichtigen, dass das gegenwärtige klinische Bild der GD durch eine hohe Heterogenität und sehr variable Entwicklungsverläufe gekennzeichnet ist (vgl. Englert & Haas, 2023) und Ursachen für das Erleben von GD und die Selbstidentifikation als geschlechtsinkongruent vielfältig sein können.

Die skizzierten englischen und skandinavischen Regelungen entsprechen insgesamt den Empfehlungen und Überlegungen, die Thompson et al. (2023) in ihrer aktuellen Übersichtsarbeit geben und diskutieren. Diese vorgenannten Empfehlungen von Thompson et al. (2023) berücksichtigen (soweit im Rahmen des hier betreffenden sehr komplexen Sachverhalts und mit Blick auf die aktuelle Evidenzlage zu PB und CSH und teilweise sehr variable Entwicklungsverläufe bei Minderjährigen mit GD möglich) den ärztlich-therapeutischen Grundsatz „primum non nocere – zuerst einmal nicht schaden“. Aus kinder- und jugendpsychiatrischer bzw. psychotherapeutischer Sicht können eventuelle begleitende psychologische und psychotherapeutische Interventionen bei Minderjährigen mit GD je nach individueller Situation im Sinne einer Belastungsreduktion notwendig werden. Hierbei ist hervorzuheben, dass es sich dabei explizit nicht um therapeutische Interventionen im Sinne einer sog. Konversionstherapie mit dem Ziel einer Versöhnung mit dem biologischen Geburtsgeschlecht handelt, sondern um eine professionelle Begleitung und Belastungsreduktion. Eine solche Begleitung sollte auch die Diagnostik und Behandlung ggfs. begleitender psychischer Symptome bzw. Symptomatik(anteile) umfassen (siehe z. B. Kohls & Roessner, 2023).

Aktuell erfolgt die Behandlung von Minderjährigen mit GD in Deutschland mittels PB- und/oder CSH-Gabe sowie ggfs. auch eine Nichtbehandlung oftmals im Kontext von Einzelfallentscheidungen, wobei hier unterschiedliche Vorgehensweisen je nach Versorgungssituation, Zentrum und Kliniker_in sowie der jeweiligen Ressourcenverfügbarkeit nicht auszuschließen sind.

Sofern PB und CSH bei Minderjährigen mit GD nach strenger individueller Abwägung im Sinne eines sorgfältigen Klärungsprozesses, Einbezug relevanter Bezugspersonen, Berücksichtigung der adoleszenten Identitätsentwicklung und vorheriger multiprofessioneller Diagnostik eventueller begleitender psychischer Störungen oder Symptome sowie ggfs. folgender Behandlung ebendieser zum Einsatz kommen sollten, so könnte ein solches Vorgehen im Rahmen von Forschungsprojekten bzw. klinischen Studien, wie aktuell in England praktiziert, zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen und wichtige Daten liefern.

Mit Blick auf die sich derzeit in der Erarbeitung befindlichen AWMF-S3-Leitlinie zur hier betreffenden Thematik bei Minderjährigen mit GD kann die aktuelle Evidenzlage zur PB- und CSH-Gabe berücksichtigt und in einen klinischen Kontext mit entsprechenden Empfehlungen für Kliniker_innen überführt werden.

Zusammenfassung

  • Die Studienlage zur PB- und/oder CSH-Gabe bei Minderjährigen mit GD ist derzeit sehr begrenzt und basiert auf wenigen Studien mit unzureichender Methodik und Qualität. Kontrollierte Langzeitstudien fehlen.
  • Die Studien- und Evidenzlage zeigt derzeit nicht mit ausreichender Zuverlässigkeit gemäß PICO-Kriterien und Modified-GRADE-Methodik, dass sich die GD und die psychische Gesundheit durch PB- und/oder CSH-Gabe im Verlauf bei Minderjährigen bedeutsam verbessern.
  • Für eine eventuelle Kosteneffektivität von GnRH-Analoga bei Kindern/Jugendlichen mit GD im Vergleich zu einer oder mehreren psychosozialen Unterstützungen, sozialer Transition zum präferierten Gender oder keiner Intervention gibt es derzeit keine Evidenz.
  • Sofern bei Minderjährigen mit GD nach abgeschlossener, profunder und umfassender kinder- und jugendpsychiatrischer Diagnostik, sorgfältiger Einschätzung und Abwägung der Wahrscheinlichkeiten von möglichen Nutzen und Schäden des Abwartens, verschiedener Interventionen bezüglich der GD und ggfs. begleitender psychischer Probleme oder Störungen PB und CSH zum Einsatz kommen sollten, so könnte ein solches Vorgehen im Rahmen von Forschungsprojekten bzw. klinischen Studien – wie aktuell in England praktiziert – zum weiteren Erkenntnisgewinn beitragen und wichtige Daten liefern.

Die Autor_innen dieser Arbeit danken Frau Dr. Susanne Ratzka sowie Herrn Leonhard Marten und Herrn Dr. Konstantin Mechler für die Unterstützung im Rahmen der Literaturrecherche zu ebendieser systematischen Übersichtsarbeit.

Literatur

1 Angaben der deutschsprachigen Cochrane-Webseite im Wortlaut zur GRADE-Methodik (https://www.cochrane.de/ressourcen/grade, abgerufen am 11.10.2023): Die GRADE-Methodik (Grading of Recommendations, Assessment, Development and Evaluation) ist eine Methode, die Qualität von Evidenz und Stärke von Empfehlungen von Leitlinien einzustufen. Viele internationale Organisationen nutzen GRADE, um präzise und transparente klinische Versorgungsleitlinien sowie weitere Empfehlungen im Gesundheitswesen zu erstellen. GRADE wurde von der GRADE Working Group ausgearbeitet, einem Netzwerk von Methodiker_innen, Leitlinienentwickler_innen, Kliniker_innen und anderen interessierten Mitgliedern. Ihr Ziel ist die Entwicklung und Umsetzung einer allgemein verwendbaren, transparenten und sinnvollen Methode für die Bewertung von Qualität von Evidenz und Stärke von Empfehlungen im Gesundheitswesen.