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Free AccessFokus Forschung

Kommentare zu . Die integrative Lerntherapie: Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 6 (2), 65–73

Kommentar aus mathematikdidaktischer Sicht

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000219

Der Beitrag ist sehr ausgewogen und umfassend. Er benennt alle wesentlichen Punkte, welche in einer Lerntherapie zum Tragen kommen sollten. Zudem wird deutlich, in welch vielen Bereichen eine Ausbildung zur Lerntherapeutin (auch hier wird die weibliche Form inklusiv für beide Genera verwendet) notwendig ist und daher umfangreich und anspruchsvoll ausfallen muss. Dies macht der interdisziplinäre Ansatz zwingend, der exzellent dargestellt wird.

Dies ist das eine. Aus mathematikdidaktischer Sicht seien aber einige Kommentare gestattet, die nicht als Kritik verstanden werden wollen, sondern lediglich zusätzliche Aspekte zu beleuchten versuchen.

Aus Sicht des schulischen Lernens lässt sich der Schriftspracherwerb in einer überschaubaren Lernzeit bewerkstelligen, zumindest in der deutschen Sprache: Hierfür sind lediglich zwei Schuljahre vorgesehen, dann sollte das Kind in der Lage sein, Goethe, Schiller, Kant und Hölderlin zu lesen (auch wenn es mit dem Verstehen etwas hapern dürfte, aber das gilt ja auch für die Erwachsenen). In ostasiatischen Sprachen hingegen ist ein lebenslanger Schriftspracherwerb vorgesehen, selbst in hohem Alter werden dort weiterhin Schriftzeichen erlernt. Diese zeitliche Einschränkung gilt für das mathematische Lernen nicht, es können in weit höheren Klassen Lernschwierigkeiten auftreten (Bruch- und Prozentrechnung, Algebra etc.).

Heißt dies, dass das Mathematiklernen komplexer ist als der Schriftspracherwerb? Wohl kaum, aber es ist anders und die Probleme stellen sich in der Lerntherapie auch verschieden dar.

Die Therapeutin muss mehr wissen, als die Therapiestunde ihr inhaltlich abverlangt, sie muss eine inhaltliche Expertise aufweisen. Natürlich ist es zu platt zu sagen, für den Schriftspracherwerb muss sie lesen und schreiben können, dies ist eine Selbstverständlichkeit. Sie muss über didaktische Konzepte verfügen, sie muss über die kognitiven Prozesse beim Lesen und Schreiben kundig sein und sie individuell diagnostizieren und remedial abgestimmte Maßnahmen ergreifen können. Und umgekehrt gefragt: Reicht es, rechnen zu können, um im mathematischen Bereich therapeutisch wirksam zu werden? Wieviel Mathematik muss die Therapeutin beherrschen oder wie umfangreich müssen die mathematischen Inhalte in der Ausbildung sein? Natürlich wird auch in diesem Lernbereich von der Therapeutin erwartet, dass ihr die didaktisch-methodischen Besonderheiten vertraut sind und sie geeignete Förderhandlungen durchzuführen weiß.

Aber Mathematik stellt sich im Alltag anders dar, als der Schriftspracherwerb. Sie wird als etwas prinzipiell Unverständliches akzeptiert, es wird sogar damit kokettiert, „In Mathe war ich immer schlecht“, wohingegen kaum zugegeben würde, dass man nicht lesen oder schreiben könne.

Auch wenn hier die Argumentation mathematikdidaktischen Sichtweisen folgt und damit eine eingeschränkte Perspektive darstellt, so soll keineswegs die Komplexität der Mathematik überschätzt werden, auch wenn viele Bürger darunter zu leiden scheinen. Allerdings sind schon die schulischen Zeitabläufe für das Lernen von Zahlen, Zahlzusammenhängen und Rechenoperationen langfristiger, die Wirkungen von Nicht-Verstehen in den Eingangsklassen der Grundschule können sich vier Jahre später in Lernschwierigkeiten in Klasse 5 und 6 bei der Bruchrechnung niederschlagen.

Es scheint ein Kennzeichen von (deutschem) Mathematikunterricht zu sein, dass er auf das Beherrschen von Fertigkeiten, das schnelle und präzise Ausführen von Algorithmen abzielt. Nicht nur Eltern, auch Lehrkräfte meinen, dass die flüssige Handhabung von Rechenverfahren bereits ein Zeichen von mathematischem Verständnis sei. Diese Sichtweise verkürzt den Unterricht auf das Einüben von Techniken, denen nicht notwendig ein Verständnis unterliegt. Hier aber liegt ein fundamentales Missverständnis vor: Das Verstehen von Beziehungen zwischen Zahlen, das flexible Anwenden von (Kopf-)Rechenverfahren und das sensible Umgehen mit Kontexten sollte das Ziel ausmachen und im Vordergrund des Lernprozessen stehen. Die Bildungsstandards versuchen dies abzubilden.

Die eingeschränkte Sichtweise der Eltern (und manchmal auch der Lehrkräfte) macht nun die Förderung für Integrative Lerntherapeuten schwieriger. Es sind neben der Entwicklung der Fähigkeiten der Kinder auch jene Perspektiven zu verändern, damit eine langfristige und aufwendige Therapie möglich und erfolgreich wird. Es ist zu vermuten (und dieser Beitrag könnte die Diskussion hierüber herbeiführen), dass sich bei einer Lese-Rechtschreib-Störung die zu erreichenden Ziele zwischen den Beteiligten leichter konsentieren lassen als bei einer Rechenstörung.

Während bei einer LRS sich die Symptomatik und daher die Behandlungsbedürftigkeit leichter beschreiben lassen und der Therapieverlauf wegen seiner Transparenz eher auf Akzeptanz stößt, verhält es sich bei einer Rechenschwäche-Therapie durchaus anders. Der in der Darstellung der Integrativen Lerntherapie formulierten „Beziehungsdialog“ entwickelt sich erfahrungsgemäß ungleich konfliktbehafteter. Es erscheint Eltern und Kind etwa im Fall eines rechenschwachen Gymnasialschülers der 8. Klasse (und solche Kinder hatten wir in unserer Beratungsstelle zuhauf) unplausibel, auf Lerninhalte der Grundschuleingangsklassen zurückzugehen, auch wenn sich zeigt, dass Multiplikation und Division nicht verstanden wurden. Der Hinweis, dass das Kind ja schriftlich dividieren könne, täuscht gerade über die Schwierigkeiten hinweg. Es zeigt, wie sich trotz massivem Unverständnis die Schülerin bzw. der Schüler durch das System Mathematikunterricht lavieren konnte, ohne ein Verständnis aufzubauen.

In diesem Aspekt, dem Konzept des Verstehens, unterscheiden sich wahrscheinlich eine LRS- und eine Rechenschwächetherapie. Während eine LRS-Therapie primär mit der Entwicklung enger, umschreibbarer Fertigkeiten befasst ist, zielt eine Rechenschwäche-Therapie auf kognitive Verstehensprozesse. Das heiβt aber auch, dass der Lerntherapeutin bzw. dem Lerntherapeut mehr Kenntnis in fachwissenschaftlicher Sicht abverlangt wird. Inwieweit dies in der Ausbildung tatsächlich gelingt, sei an dieser Stelle dahingestellt.

So scheint ein massives Problem aller Schülerinnen und Schüler, rechenschwachen Kindern im Besonderen, darin zu bestehen, Mathematik in Sach-/Textaufgaben anzuwenden. Ihnen gelingt die notwendige Transformation von Sprache/Text in Vorstellung und (damit) auf die symbolische Ebene nicht. Eine Förderung setzt falsch an, wenn sie sich auf die Manipulation auf der Zifferneben, das Rechnen, beschränkt. Der Beitrag in der Zeitschrift klammert dieses Problem allerdings aus. Er scheint, auch wenn er dies sicher nicht beabsichtigt, in der Beschreibung der Symptomatik (Bender et al., S. 67) die Rechenschwäche auf die Fertigkeit des Rechnens zu verkürzen. Damit wird der Zusammenhang zur Alltagswelt, die Anwendbarkeit von Mathematik sowohl als Ziel als auch als notwendige Fähigkeit ausgeklammert. Einen mathematischen Begriff erworben zu haben zeigt sich darin, dass er in den vier unterschiedlichen Repräsentationsformen, d.h. in Sprache, in Handlungen, in einem Bild und in der (mathematischen) Symbolik dargestellt und zwischen ihnen gewechselt werden kann. Anderenfalls bleibt er, wie dies bei rechenschwachen Kindern geschieht, auf der Symbolebene verhaftet und ist damit nicht übertrag- und anwendbar (s. Abb. 1).

Abbildung 1 „Begriff“ der Multiplikation einer Sekundarschülerin, mit Material gelegtes Handlungskorrelat der Aufgabe 3 × 5.

Dies alles muss in der Lerntherapie berücksichtigt werden und setzt daher bei der Therapeutin/dem Therapeuten ein umfangreiches Wissen über die Entwicklung mathematischer Ideen über viele Schuljahre voraus. Wie ändern sich die kindlichen Konzepte, an welchen Stellen gibt es Brüche, sogar Widersprüche, die Lernen erschweren bis verhindern (z.B. beim Übergang von natürlichen Zahlen zu Brüchen: Nun vergrößert die Multiplikation nicht mehr, sie kann auch kleiner machen)? Wie verändert sich der Multiplikationsbegriff, wenn es sich um die Multiplikation in der Algebra oder von Vektoren, Matrizen handelt?

Und sind in der Integrativen Lerntherapie auch andere Inhaltsbereiche jenseits der Arithmetik, d.h. des schlichten Rechnens, zu behandeln, in welchen Verständnis- und Lernschwierigkeiten in der Schule auftreten? Hierzu gehört sicher Wahrscheinlichkeitsrechnung resp. Stochastik. Es mag eingewendet werden, dass dies erst in höheren Klassenstufen auftrete und nicht zum Inhaltskanon der Grundschule gehöre (was nicht stimmt). Aber es ist zu diskutieren, ob solche mathematischen Ideen aus der Förderung ausgeklammert bleiben sollen, und wenn nicht, welche Konsequenzen dies für die Ausbildung der Lerntherapeuten bedeutet.

Dies gilt in entsprechender Form für die kognitiv anspruchsvolleren Lernziele wie die allgemeinen Kompetenzen: Überschlagen, Schätzen etc., das heißt die Entwicklung von Zahlensinn. Es wäre wünschenswert, wenn solche Ausbildungs- bzw. Weiterbildungskonzepte in den Therapiefachverbänden diskutiert würden.

Literatur

  • Bender, F., Brandelik, K., Jeske, K., Lipka, M., Löffler, C., Mannhaupt, G. …… von Orloff, M. (2017). Die Integrative Lerntherapie. Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen, 6 (2), 65–73. LinkGoogle Scholar

Prof. Dr. Jens Holger Lorenz, Frankfurt am Main,