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Published Online:https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000343

Literalität (geläufiger, aber nicht weniger vielschichtig, ist das englischsprachige Pendant literacy bzw. early literacy) erweist sich als Begriff nach wie vor sperrig und ist in der Kombination mit dem Attribut früh nicht einfacher handhabbar. Ein Grund für die terminologische Uneindeutigkeit kann in der Komplexität des Gegenstands gesehen werden. So umfasst nach Kress (2000) Literalität wissensgenerierende Erfahrungen mit allem Geschriebenen i.S. von „lettered representation“ (S. 116); und zwar sowohl die mediale, materielle Seite der Schrift und der Buchstaben betreffend als auch die konzeptionelle, sprachliche und textuelle Ebene der Schriftsprache. Als Frühe Literalität werden wiederum zumeist frühkindliche Lernprozesse bezeichnet, die sich in Verbindung mit Schrift von Geburt an vollziehen (Müller, 2015).

Schwierigkeiten einer systematisierenden Beschreibung von Literalität/Literacy werden durch Anleihen aus der englischsprachigen Literatur verstärkt, was sich darin zeigt, dass Begriffe medial und konzeptionell (bzw. prozedural und konzeptuell) anders verwendet werden als sie in germanistisch-linguistischer Tradition nach Koch und Oesterreicher (1985) zu verstehen sind. Zudem wird in englischsprachigen Forschungszusammenhängen häufig mit sog. „inside-out-skills“ und „outside-in-skills“ operiert, die die eigentlich textuell-sprachliche und literarische Dimension der Literalität wenig berücksichtigen (Whitehurst & Lonigan, 1998). Dabei ist das literarische Lernen ebenso genuiner Bestandteil literaler Bildungsprozesse. So wies Dehn bereits 1990 darauf hin, dass Literalität auch den Aspekt der Literarität impliziert, und Müller (2015) spricht ebenfalls von frühkindlicher Literalität als Schnittstelle sprachlichen und literarischen Lernens und entwickelt dazu ein differenziertes Modell, das die daran beteiligten sprachlichen, sozialen und kognitiven Faktoren mehrperspektivisch abzubilden versucht.

Angesichts der bestehenden Begriffsunklarheit stehen also konzeptionelle und terminologische Schärfungen noch aus. Mit Blick auf den Übergang zwischen Kindergarten und Grundschule ergeben sich wiederum Desiderate in Bezug auf die Frage, in welchem Alter, in welcher Form (mündlich, schriftlich) und unter welchen Bedingungen sich frühkindliche Literalitätsprozesse entfalten und wie diese frühzeitig diagnostisch erfasst werden können. So ist inzwischen „common sense“, dass der Schulanfang nicht mit dem Beginn des Schriftspracherwerbs gleichzusetzen ist und Kinder sehr heterogene Sprachlernvoraussetzungen mit unterschiedlichen Entwicklungsständen aufweisen.

Entsprechend unumstritten dürfte inzwischen sein, dass (frühe) Literalität ein unverzichtbarer Teil des Curriculums in vorschulischen Kindertageseinrichtungen ist bzw. sein sollte, wenngleich die Qualifizierung der pädagogischen Fachkräfte diesem Anspruch noch nicht immer gerecht wird und diagnostische Verfahren zur Erfassung von früher Literalität kaum vorliegen (Zach, Scherf, Müller-Brauers & Keuschnig, im Druck). So beziehen sich Diagnoseinstrumente zur Erhebung des literalen Entwicklungsstandes vor allem auf den Zeitpunkt der Einschulung und weniger auf die Jahre zuvor und nehmen nur einen Teil der frühen Literalität in den Blick. Dies trifft in besonderer Weise auf das Konstrukt der phonologischen Bewusstheit zu, was zur Folge hat, dass die Bedeutung von Schrifterfahrungen (bezogen auf den Gegenstand der Schrift) und konzeptionell schriftsprachlichen Fähigkeiten häufig diagnostisch außer Acht gelassen wird.

In diesem Schwerpunktheft wollen wir daher den Fokus auf Studien richten, die Frühe Literalität mit Hilfe unterschiedlicher Diagnoseverfahren zu erfassen versuchen, und auf solche, die die konzeptionell schriftliche Entwicklungsdimension in den Blick nehmen.

Im Beitrag von Petra Korntheuer geht es um die Adaption eines standardisierten Verfahrens zur Erfassung von schriftgebundenen und buchbasierten Wissensdomänen als Teil früher literaler Kompetenzen auf der Grundlage des englischsprachigen Verfahrens CaP („Concepts about Print“, Clay, 2000). Mit der Konzeption und Pilotierung eines deutschsprachigen, standardisierten Verfahrens, das diesen Bereich abdeckt, betritt die Autorin Neuland und schafft eine Grundlage für die Weiterentwicklung der Diagnostik in diesem Bereich.

Katrin Liebers und Beate Heger stellen eine Längsschnittstudie vor, die den Erwerb von Literalität am Übergang Kindergarten Grundschule über drei Messzeitpunkte hinweg erfasst und analysieren die Ergebnisse unter genderspezifischer Fragestellung. Als Methode ziehen sie Lesebücher heran, die z.B. das Interpretieren von Symbolen, Erfahrungen mit Büchern oder das alphabetische Wissen der Kinder abprüfen. Die Befunde zeigen, dass Mädchen offenbar nicht nur früher ein Einstieg in die alphabetische Strategie gelingt, sondern diese mit Schulbeginn auch schneller verlassen, während die Jungen in Teilkompetenzen der „out-side-in-skills“ wie dem Interpretieren von Symbolen zu einem frühen Zeitpunkt einen Vorsprung aufweisen, der sich aber über die Zeit hinweg verliert.

Die Beiträge von Müller-Brauers, Stark und von Lehmden und Sauerborn wenden sich dezidiert den kognitiv-sprachlichen Kompetenzen zu, die sich bei Kindern vor dem schulischen Schriftspracherwerb in der Interaktion mit geschriebener Sprache und Kinderliteratur belegen lassen. Sie nutzen diagnostische, teils konversationsanalytische Verfahren, die auch in der Sprachförderpraxis einsetzbar sind, und bieten mit ihrer Bezugnahme auf Kinderliteratur als Medium literalen Lernens Anknüpfungspunkte für den Literaturerwerb.

Auf der Basis einer qualitativen Studie zeigen Claudia Müller-Brauers, Linda Stark und Friederike von Lehmden, wie ein konversationsanalytisches Verfahren genutzt werden kann, um zu erfassen, wie Kinder den an sie beim Vorlesen von Kinderliteratur gerichteten Sprachinput produktiv nutzen, indem sie literate Strukturen aus vorgelesenen Texten übernehmen und in ihre mündlichen Geschichtenwiedergaben einpassen. Dabei scheint es sich zunächst um unanalysierte Übernahmen zu handeln, die aber im weiteren Spracherwerbsgeschehen, so ist anzunehmen, überarbeitet und flexibel gehandhabt werden können.

Hanna Sauerborns Beitrag schließt inhaltlich direkt an die Studie von Müller-Brauers, Stark und von Lehmden an und untersucht aus einer quantitativen Perspektive bei Vorschulkindern den Gebrauch von literaten Strukturen im Mündlichen. So geht Sauerborn der Frage nach, ob sich auf dem Weg der Entwicklung konzeptioneller Schriftlichkeit ein „Zwischenstadium“ dekontextualisierter Sprache beobachten lässt, und zwar bereits vor Schuleintritt. Anhand von Kinderdiktaten, bei denen Kinder, die noch nicht schreiben können, erwachsenen Skriptoren einen Text diktieren, wird gezeigt, wie die Verwendung zunächst kontextgebundener Sprache abgelöst wird vom Gebrauch zunehmend dekontextualisierter Sprache bis zur Ausbildung konzeptioneller Schriftlichkeit.

Literatur

  • Clay, M. (2000). Concepts about print. What have children learned about the way we print language? Auckland, NZ: Heinemann. Google Scholar

  • Kress, G. (2000). Before writing. Rethinking the paths to literacy . London, New York: Routledge. Google Scholar

  • Koch, P. & Oesterreicher, W. (1985). Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte. Romanistisches Jahrbuch , 36 , 15–43. Google Scholar

  • Dehn, M. (1990). Texte und Kontexte . Berlin, Düsseldorf: Volk und Wissen, Kamp. Google Scholar

  • Müller, C. (2015). Frühe Literalität an der Schnittstelle des sprachlichen und literarischen Lernens. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik , 45 (178), 7–27. CrossrefGoogle Scholar

  • Whitehurst, G. J. & Lonigan, C. J. (1998). Child development and emergent literacy. Child Development , 69 , 848–872. CrossrefGoogle Scholar

  • Zach, B. , Scherf, D. , Müller-Brauers, C. & Keuschnig, A. (im Druck). Diagnostik schriftsprachlicher Kompetenzen im Schulbereich. In C. Titz, S. Geyer, H. Wagner, S. Weber & M. Hasselhorn (Hrsg.), Bildung durch Sprache und Schrift (BISS) ( Band 1 ). Stuttgart: Kohlhammer Verlag. Google Scholar

Ingrid Barkow, Claudia Müller-Brauers, E-Mail , E-Mail