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Experimentelles Arbeiten mit Kindern aus verschiedenen (Sprach-)Kulturen und mit familiären Herausforderungen

Published Online:https://doi.org/10.1026/2191-9186/a000666

Kinder mit Migrationshintergrund, familiären Herausforderungen oder anderen Risikofaktoren sind in vielen experimentellen und (neuro-)physiologischen Entwicklungsstudien unterrepräsentiert (Ibrahim & Sidani, 2014). Gleichzeitig haben diese Kinder häufiger Schwierigkeiten in ihrer Schullaufbahn. Eine erhöhte Repräsentation von Kindern mit einem größeren Risiko für Bildungsnachteile in experimentell-empirischen Studien ist somit wichtig für ein besseres Verständnis von Entwicklungs- und Bildungsunterschieden. Im Rahmen der Bremer Initiative zur Stärkung frühkindlicher Entwicklung (BRISE) wurde an der Universität Bremen ein Forschungslabor etabliert, das Erhebungen in der häuslichen Umgebung ergänzt (Schütte, Köller, Anders & Petermann, 2020). Im Folgenden werden Strategien vorgestellt, damit experimentell, (neuro-)physiologisch und längsschnittlich ausgerichtetes Forschen mit Kindern aus belasteten, möglicherweise forschungsskeptischen Familien und multilingualem Hintergrund gelingen kann.

Barrieren und Motivationsfaktoren für Studienteilnahmen

In BRISE organisieren bereits vertraute Personen die Terminfindung mit den Familien (vor Ort, telefonisch oder per E-Mail), informieren über Gründe und Abläufe der Laborerhebungen, beschreiben die Anfahrt und stehen für Rückfragen zur Verfügung. Diese direkte Kontaktaufnahme durch Vertrauenspersonen sowie leicht verständliches und mehrsprachiges Informationsmaterial helfen, dass die Studie besser verstanden, akzeptiert und Unsicherheit darüber, was die Familie erwartet, abgebaut wird (Ibrahim & Sidani, 2014).

Für belastete Familien stellt der Laborbesuch einen hohen Aufwand dar. Flexibilität bei der Terminfindung und Erinnerungen helfen der familiären Organisation. Bedarfe der Familie werden mit dem Laborpersonal abgestimmt. Für eine Mutter mit einem zweiten Kind in der Kita oder wenig Deutschkenntnissen darf der Weg und die Orientierung vor Ort keine zusätzliche Zeit kosten oder Belastung darstellen. Daher bieten wir Fahrdienst und Geschwisterbetreuung an. Vor Ort wird alles vorgehalten, was die Familie während ihres Besuches brauchen könnte (z.B. Spielzeug, Windeln, altersgerechte Snacks, Rückzugsort zum Stillen).

Der Verlauf des Laborbesuchs ist entscheidend für die Panelpflege. Es muss ein Ort sein, mit dem sich die Familien gerne identifizieren, an dem sie sich wohlfühlen und zu dem sie gerne zurückkehren. Das den Familien bekannte BRISE-Symbol leitet die Familien durch das Labor. Es gibt Familien einen Bezug, unterstreicht die Bedeutung des Besuchs und macht das Labor zu einem Ort, der für sie und durch sie existiert. Ein Familienzimmer dient einem familienfreundlichen, spielerischen Ankommen. Labore enthalten reizarme, möglichst wenig technisch wirkende Areale für die Erhebung und durch einen Sichtschutz getrennte kinderfreundliche Areale für die Vor- und Nachbereitung.

Das Team ist trainiert, auf multikulturelle Hintergründe und herausfordernde Lebenssituationen sensibel und tolerant zu reagieren, Fragen entsprechend des Vorwissens und der Sprachkenntnisse der Familien verständlich zu beantworten und potenzielle negative Erfahrungen mit medizinischen Einrichtungen nicht zu wiederholen. Es ist geübt, sich parallel Eltern und Kind zuzuwenden und insbesondere das Vertrauen des Kindes zu gewinnen. Für alle Studien mit Kindern empfehlen wir regelmäßige Schulungen über Kindeswohlgefährdung.

Ein für die Familien entspannter und reibungsloser Ablauf sowie die effiziente Ausnutzung der Aufmerksamkeitsphasen der Kinder gelingt durch detaillierte Vorbereitung und schriftlich festgelegte, geübte Ablaufroutinen, die alle Handgriffe während der Erhebung minimieren und standardisieren. Eine zweite Person kann in kritischen Momenten, z.B. beim Aufziehen der EEG-Kappe, das Kind gezielt ablenken.

Familien bekommen neben einer monetären Aufwandsentschädigung und angefallenen Fahrtkosten auch ein Geschenk für das Kind und Erinnerungen an den Laborbesuch (z.B. eine Urkunde). Dies verankert die Langzeitstudie im familiären Alltag.

In der Summe sind diese Aspekte für viele Studien relevant. Das Einbinden von Familien mit multikulturellen Hintergründen, wenig Erfahrung mit Forschungsinstitutionen und Alltagsbelastungen bedarf vor allem mehr Sensibilität hinsichtlich Informations-, Sprach-, Kultur- und organisatorischer Barrieren sowie einen dahingehend höheren Aufwand für Planung, Training und Durchführung der Studie.

Abbildung des Entwicklungsstandes in multikulturellen und multilingualen Gruppen

Ein kultureller Bias in kognitiven Leistungstests wird durch den Grad der Vertrautheit mit der Testsprache, der Aufgabenstellung und dem Stimulusmaterial hervorgerufen. Minimierung von oder Umgang mit Verzerrungen aufgrund Sprachbarrieren oder kulturspezifischer Entwicklungstrajektorien kann durch Reduktion von Sprache und Semantik in den Paradigmen optimiert werden (Frischkorn, Hilger, Kretzschmar & Schubert, 2022). Diese Richtlinien haben wir in BRISE bspw. für ein Aufmerksamkeitsparadigma in Kombination mit elektroenzephalografischen Messungen (EEG) umgesetzt. Den Säuglingen und Kindern werden wiederholt einfache Töne vorgespielt, die selten und unvorhersehbar in der Tonhöhe verändert werden („Oddball“). Diese Veränderungen rufen eine automatische Aufmerksamkeitserhöhung hervor. Das Paradigma erlaubt, sprachfrei sowie aufgrund des minimalistischen Stimulussets kulturübergreifend einen grundlegenden kognitiven Prozess und dessen neuronale Korrelate ab dem Säuglingsalter längsschnittlich zu erfassen und mit internationalen Studien zu vergleichen (Norton et al., 2021).

Schwieriger ist es, experimentell die frühe Sprachentwicklung zwischen Kindern aus verschiedenen Sprachkulturen vergleichbar zu erheben. Studien zu phonological universals geben Hinweise, dass einige grundlegende Regeln für Wahrnehmung und Nutzung von Lauten und Silben über viele Sprachgruppen ähnlich sind (Xie et al., 2018). Dies kann man für die Auswahl des Testmaterials nutzen. Die Konstruktion einfacher Pseudowörter ermöglicht bspw. das Testen der phonologischen Bewusstheit, einem wichtigen Baustein für Sprache und Lesefähigkeiten (McBridge-Chang & Kail, 2002). Ein Eye-Tracker ermöglicht, Reaktionen sprachunabhängig aufzuzeichnen. Der Vergleich über Kinder mit unterschiedlichen Erstsprachen ist jedoch eingeschränkt, da die Erstellung über Landessprachen hinweg generalisierbarer Stimuli schwierig bleibt und Kinder bereits in ihrem ersten Lebensjahr differenziert auf Charakteristika bekannter und unbekannter Sprachen reagieren (Weinert, 2020). Zusätzlich werden Testleistungen mit Pseudowörtern oft durch Gedächtnisprozesse beeinflusst (Verhagen, Boom, Mulder, de Bree & Lesemann, 2019).

Ebenfalls schwierig ist die Einschätzung der sozio-emotionalen Entwicklung. Theory-of-Mind-(ToM)-Aufgaben testen die Fähigkeit zur Abgrenzung eigener Wünsche und Überzeugungen von Dritten (Wellman & Liu, 2004). Trotz bildhafter Darstellung von Szenen nutzen ToM-Aufgaben oft verklausulierte Zielfragen und erbitten eine verbale Reaktion (z.B. „Was glaubst du, wo wird XX zuerst suchen?“). Sprachverständnis und -produktion können somit die Testleistungen beeinflussen. Vergleichbare Übersetzungen oder Analysestrategien, die nach Familiensprache stratifizieren (Buac & Kaushanskaya, 2019), bieten sich für vielsprachige Gruppen kaum an. Darüber hinaus konnten Taumoepeau und Kolleginnen (2019) zeigen, dass die bessere kindliche ToM-Leistung in individualistischen im Gegensatz zu kollektivistischen Kulturen von dem Umfang, in dem Mütter die mentalen Zustände ihrer Kinder adressieren, mediiert wird. Dementsprechend lassen sich bessere Leistungen im Zusammenhang mit dem Blick auf das Individuum gerichtete Sozialisationserfahrungen deuten.

Derartige Einschränkungen können durch ergänzende Informationen minimiert werden. Dazu gehören Fragebögen zur Kulturzugehörigkeit und Sprachfamilie der Familie, zusätzliche Einschätzungen möglicherweise konfundierender Leistungen (wie Gedächtniskapazität und Sprachstand der Testsprache) und Erhebungen aufgabenunabhängiger Marker der neuronalen Entwicklung.

Für Bildungsprojekte ist sowohl zentral, wie gut Kinder die Unterrichts- und Landessprache verstehen und anwenden können, als auch, wie gut Kinder kognitive und sozio-emotionale Anforderungen erfüllen, die für erfolgreiche Bildungsbiografien und Integrationschancen relevant sind. Daher werden in BRISE Prädiktoren für spätere (vor-)schulische Leistungen erhoben, die folgerichtig nicht unbedingt kulturfair sind. Zusammen mit den beschriebenen Erhebungsstrategien dienen sie einer Differenzierung zwischen Risiken für Bildungsbiografien und der kindlichen Entwicklungseinschätzung. Diese Differenzierung ist wichtig, um Förderbedarfe besser zu verstehen (Pace, Luo, Hirsh-Pasek & Golinkoff, 2017).

Zusammengenommen ist es abgestuft möglich, Verzerrungen in der Erhebung des Entwicklungsstands eines Kindes durch familiäre Sprach- und Kultureinflüsse zu minimieren oder über kombinierte Erhebungsinstrumente zu kontrollieren oder zumindest zu charakterisieren. Die Nutzung und Verbesserung kulturfairer Teststrategien bleibt notwendig, um die steigende Internationalisierung in deutschen Bildungseinrichtungen genauer abzubilden.

Wir danken Dr. C. Zierul und J. Ruge für Unterstützung bei Aufbau und Weiterentwicklung des Labors und zusammen mit J. Jakob und R. Kayser für Vorarbeiten zum Manuskript.

Literatur

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