Skip to main content
Open AccessOriginalarbeit

Soziale Netzwerke von Kindern mit psychischen Störungen

Published Online:https://doi.org/10.1024/1422-4917/a000902

Abstract

Zusammenfassung. Die Studie vergleicht die sozialen Netzwerke von Kindern mit psychischen Störungen mit einer nichtklinischen parallelisierten Vergleichsgruppe (n = 75/75, männlich 69 %/69 %, Alter: 9.4/9.0 Jahre). Zudem wurden die Quantität und Struktur der sozialen Netzwerke sowie Belastungen und Ressourcen in der Patientengruppe allgemein und bei spezifischen Störungen (hyperkinetische Störung [HKS] und emotionale Störung des Kindesalters) untersucht. Die sozialen Netze wurden mit einer Revision des Sozialen Beziehungstests für Kinder (SoBeKi-R) und die psychischen Störungen über klinische Diagnosen, Child Behavior Checklist und Strengths and Difficulties Questionnaire erfasst. Die Patient_innen berichteten von insgesamt kleineren Netzwerken (AM/SD: 13.7/4.9 vs. 15.8/5.2) und signifikant geringeren sozialen Ressourcen als die Vergleichsgruppe, v. a. im außerfamiliären Bereich. Während bei emotionalen Störungen sogar von weniger sozialen Belastungen als in der Vergleichsgruppe berichtet wurde, hatten Kinder mit HKS pro Netzwerkperson tendenziell höhere Belastungswerte; externalisierende Symptome waren hingegen deutlicher mit höheren Belastungen im sozialen Netz assoziiert. Die je nach Störungsbild unterschiedlichen Ergebnisse deuten darauf hin, dass komplexe störungsspezifische Zusammenhänge zwischen den Syndromen und den berichteten Ressourcen und Belastungen im sozialen Netz bestehen.

Social Networks of Children with Mental Disorders

Abstract. The study compares the social networks of children with mental disorders with a matched control group (n = 75/75, male 69 %/69 %, age: 9.4/9.0 years). In addition, we examined the quantity and structure of social networks as well as the stresses and resources in the respective patient group in general and regarding specific disorders (hyperkinetic disorder, HKS, and childhood emotional disorder). We assessed their use of social networks with a revision of the Social Relationship Test for Children (SoBeKi-R) and their mental disorders via clinical diagnoses, CBCL, and SDQ. The patients reported significantly smaller networks overall and fewer social resources, particularly in the nonfamily domains. While children with emotional disorders were found to have fewer social strains than the comparison group, children with ADHD tended to have higher strain scores per network person, and externalizing symptoms were significantly associated with higher network strains. The results, which vary by disorder, suggest complex disorder-specific associations between the syndromes and the reported social network resources and strains.

Personale Netzwerke von Kindern mit psychischen Störungen

Die Entwicklung von Kindern ist in komplexe und entwicklungsrelevante soziale Netzwerke eingebettet, die über die Familie hinausreichen (Betz, Bollig, Joos & Neumann, 2018; Schmidt-Denter, 2005). Spätestens mit Beginn der mittleren Kindheit beginnen Kinder, ihre sozialen Netzwerke eigenständiger zu gestalten, sich an Peers und außerfamiliären Erwachsenen zu orientieren und ihre „soziale Persönlichkeit“ zu entwickeln (Delfos & Kiefer, 2015; Havighurst, 1981). Über die grundlegende Bedeutung der familiären Beziehungen hinaus (Schneewind, 2021) tragen außerfamiliäre Beziehungen zur Befriedigung grundlegender sozialer Bedürfnisse (Fries & Grawe, 2006; Ryan & Deci, 2000), zum Wohlbefinden (Hurrelmann, Andresen, Schneekloth & Pupeter, 2014) sowie zur Resilienz und psychischen Gesundheit von Kindern bei (Fröhlich-Gildhoff & Rönnau-Böse, 2011). Sie sind zudem die Basis vielfältiger Lernprozesse von Kindern (z. B. Harwardt-Heinecke & Ahnert, 2013; Vygotskij, 1932–34/2003). Beziehungen zu Peers, Pädagog_innen und anderen Personen können jedoch auch belastend oder dysfunktional sein (Nestmann & Wehner, 2008; Steinhausen, 2006). Die subjektive Wahrnehmung dieser sozialen Ressourcen und Belastungen im sozialen Umfeld durch das Kind ist eine Vorrausetzung dafür, dass das Kind die Ressourcen gewinnbringend nutzen (Fingerle, 2011) und Belastungen erfolgreich bewältigen kann (Lohaus, Beyer & Klein-Heßling, 2004). Insofern bieten Verfahren, die soziale Ressourcen und Belastungen aus Sicht der Kinder erfassen, wichtige Informationen und Ansatzpunkte für Therapie und Beratung.

Für die Diagnostik von sozialen Netzwerken von Kindern bieten sich sog. personale (egozentrische) Netzwerkverfahren an, die die direkten Beziehungen zu anderen (Alteri) aus Sicht eines Akteurs bzw. einer Akteurin (Ego) beschreiben. Hierfür kann zwar auf zeichnerische oder gestalterische Verfahren zurückgegriffen werden, wie z. B. die VIP-Karte (Herwig-Lempp, 2012) oder auch computergestützte Verfahren (Gamper & Kronenwett, 2012), die allerdings entweder hinsichtlich ihrer testpsychologischen Güte oder ihrer Differenziertheit Beschränkungen aufweisen. Differenziertere und testmethodisch geprüfte deutschsprachige Erhebungsverfahren für Kinder sind jedoch rar (Wünn, 2007). Genannt werden können das umfangreiche „Interview zum Sozialen Netzwerk und zur Sozialen Unterstützung für Kinder“ (SONET 4-K; Laireiter & Baumann, 2003) und der Soziale Beziehungstest für Kinder (SoBeKi; Berger, 2000; Berger, Lehmkuhl, Titze, Lenz & Göbel, 2003; Roos, Lehmkuhl, Berger & Lenz, 1995; Titze, 2022). Das letztgenannte Verfahren basiert auf theoretischen Vorarbeiten u. a. von Lewis und Rosenblum (1979) sowie Furman und Buhrmester (1985), die die Funktion und Qualität von verschiedenen sozialen Interaktionsmerkmalen, wie Schutz, Spiel, Lernen, Unterstützung oder Kontrolle, zur Beschreibung von Beziehungsnetzwerken nutzten und daher detaillierte Informationen über relevante Beziehungen liefern können.

Die vorliegende Studie basiert auf einer Revision des SoBeKi, welcher verständlicher und weniger aufwendig als die Vorgänger das personale soziale Netzwerk aus der Sicht von Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren erfassen soll (SoBeKi-R; Titze, 2022). Die empirischen Befunde mit den Vorgängerversionen des SoBeKi deuten darauf hin, dass Kinder mit psychischen Störungen geringere Netzwerkgrößen und in einigen Bereichen weniger soziale Ressourcen und höhere soziale Belastungen aufweisen (Berger, 2000; Roos et al., 1995). Bisher fehlen jedoch Befunde zu differenziellen Merkmalen personaler Netzwerke bei spezifischen Störungsbildern. Häufige Diagnosen im mittleren Kindesalter sind die emotionalen Störungen des Kindesalters (ESK, ICD-10 F93 [International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems]) und hyperkinetischen Störungen (HKS, ICD-10 F90), für die im Folgenden exemplarisch mögliche störungsspezifische Besonderheiten im sozialen Netz analysiert werden.

Die Symptomatik der ESK ist eher internalisierend, also mit inneren Spannungen, Unwohlsein und negativen Vorstellungen verbunden (Forns, Abad & Kirchner, 2011). Sozial wird sie u. a. mit sozialer Absonderung, Schulvermeidung und niedriger Peerakzeptanz in Verbindung gebracht (Stöckli, 2007). Greco und Morris (2005) fanden jedoch keine Zusammenhänge zwischen sozialer Ängstlichkeit sowie Peerakzeptanz oder der Anzahl der engen Freundschaften. Auch Stöckli (2007) berichtete, dass sozial ängstliche Kinder grundsätzlich nicht weniger akzeptiert waren als andere Klassenkamerad_innen, sondern nur dann, wenn sie gleichzeitig sozial zurückgezogen waren.

HKS verursacht v. a. andauernde Einschränkungen und Belastungen im sozialen und schulischen Bereich, in der Familie, mit Gleichaltrigen und Lehrer_innen (Arbeitsgemeinschaft der Wissenschaftlichen Medizinischen Fachgesellschaften, 2017). Owens, Goldfine, Evangelista, Hoza und Kaiser (2007) summierten Studienergebnisse zu den sozialen Auswirkungen dahingehend, dass Kinder mit HKS weniger enge Freundschaften aufweisen, von Klassenkamerad_innen häufiger abgelehnt werden und mehr negative Interaktionen mit ihren Müttern haben als Gleichaltrige ohne diese Diagnose. Die betroffenen Kinder unterschieden sich jedoch in der (subjektiven) Selbstbeurteilung ihrer Kompetenzen trotz der offenkundigen Defizite häufig nicht von anderen Kindern. Im Vergleich zu (objektiveren) Fremdbeurteilungen ihrer schulischen und sozialen Kompetenzen wurde deutlich, dass sie sich deutlich überschätzen, und zwar mehr, als dies Kinder üblicherweise tun (Positiv illusorisches Selbstkonzept; Owens et al., 2007). Zutz (2001) verglich Patient_innen mit HKS anhand des SoBeKi mit einer Vergleichsgruppe und fand im Unterschied zu den beiden o. g. Studien von Berger (2000) und Roos et al. (1995), dass HKS-betroffene Kinder signifikant mehr Freunde bzw. Freundinnen angaben als die nichtbetroffene Vergleichsgruppe. In den anderen Funktionsbereichen des SoBeKi bestanden keine signifikanten Unterschiede.

Hinsichtlich der sozialen Dynamik psychischer Störungen besteht weiter Forschungsbedarf, der auch die Entwicklung entsprechender Instrumente einschließt. Diese Studie soll einen Betrag leisten, indem sie ein weiterentwickeltes Verfahren zur personalen Netzwerkanalyse von Kindern vorstellt und ausgehend von den Vorbefunden analysiert, ob und wenn ja hinsichtlich welcher quantitativen und qualitativen Netzwerkmerkmale sich Patient_innen einer kinder- und jugendpsychiatrischen Klinik (PG) von einer nach Geschlecht, Alter und elterlichem Bildungsstatus parallelisierten Vergleichsgruppe (VG) unterscheiden. Darüber hinaus soll geprüft werden, ob Unterschiede zwischen Patient_innen mit ESK (ICD-10 F93) und HKS (ICD-10 F90) bestehen.

Methode

Durchführung

Die Befragung mit dem SoBeKi-R erfolgte in einer Einzelbefragung. Die Patient_innen wurden im Rahmen der testpsychologischen Untersuchung von Mitarbeitenden der Klinik befragt. Sowohl von den Kindern als auch den Erziehungsberechtigten wurde ein informiertes Einverständnis eingeholt. Ein positives Votum einer Ethikkommission lag ebenfalls vor (ek_01/2015).

Teilnehmende

Die Patientengruppe wurde an der Klinik für Psychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie des Kindes- und Jugendalters der Charité-Universitätsmedizin Berlin im Campus Virchow-Klinikum befragt (Tabelle 1). Die Patient_innen wurden konsekutiv und unselektiert aus dem ambulanten, teilstationären und stationären Bereich akquiriert. Von den ursprünglich 60 befragten Patient_innen wurden drei aufgrund der Ausschlusskriterien (Intelligenzminderung, fehlende Achse-I-Diagnose, unzureichende Kommunikations- oder Sprachfähigkeit) ausgeschlossen. Die Child Behavior Checklist (CBCL) und der Strength and Difficulties Questionnaire (SDQ) wurden von den Bezugspersonen ausgefüllt, bei einem Patienten fehlten Angaben bei der CBCL.

Tabelle 1 Untersuchungsgruppen: Alter, Geschlecht und Bildung der Eltern

Bei der Zusammenstellung der Vergleichsgruppe war ein Ziel, mögliche konfundierende Einflüsse durch das Alter, das Geschlecht der Kinder oder den Bildungsstatus der Eltern (Prädiktorvariablen) zu reduzieren. Hierzu wurden den 57 Kindern der Patientengruppe (PG) 57 möglichst ähnliche Kinder aus der Normierungsstichprobe (n = 571) des SoBeKi als Vergleichsgruppe (VG) anhand eines sog. Propensity-Score-Matchings (PSM) zugeordnet (Tabelle 1). Die Kinder der VG wurden überwiegend durch Studierende der Evangelischen Hochschule Nürnberg an 17 unselektierten, überwiegend bayrischen Schulen und Nachmittagseinrichtungen akquiriert, einzelne Teilnehmer_innen aus Berlin per Schneeballprinzip durch Mitarbeitende der Klinik.

Instrumente

SoBeKi-R

Der SoBeKi-R ist ein standardisiertes Befragungsinstrument, mit welchem das personale soziale Netzwerk von Kindern im Alter von 5 bis 12 Jahren hinsichtlich seiner quantitativen und qualitativen Strukturen differenziert erfragt wird. Die Kinder werden in einem Einzelinterview zu acht sozialen Ressourcen und acht Belastungen befragt (z. B. „Wer merkt, wenn du etwas gut gemacht hast?“, „Wer schlägt oder haut dich?“) und nennen hierzu ggf. passende Personen und bewerten für jede genannte Person die Häufigkeit bzw. Intensität des Merkmals auf einer fünfstufigen Antwortskala. Der Kurzinhalt dieser Items findet sich in Tabelle 3.

Als Maß für die quantitative Struktur des Netzwerkes werden die Anzahl der genannten Personen im Netzwerk, mit denen das Kind (in natura) Beziehungen hat, verwendet. Die Qualität der Netzwerkbeziehungen wird über die Summe der Ratingskalen der Ressourcen- bzw. Belastungsitems (Bewertungen) abgebildet.

Die Operationalisierung der Belastungs- und Ressourcensindizes folgt einem formativen Prinzip (Welpe, 2014). Die interne Konsistenz eignet sich daher nicht als Reliabilitätsmaß. Daher muss die Reliabilität durch die Test-Retest-Reliabilität geprüft werden. Diese lag in der Studie mit 147 Kindern bei einem Test-Retest-Intervall von bis zu 10 Tagen bei .91 bzw. bei .82 für die Belastungs- bzw. Ressourcensummenscores (Titze, 2022; Titze & Sommer-Himmel, 2019).

Für die Auswertungen wurden neben zusammenfassenden Angaben zum Gesamtsystem auf Ebene der Mikrosysteme die Familie (Kernfamilie und erweiterte Familie) sowie außerfamiliäre Kontakte (Schule, Nachmittagsbetreuung, Freizeit und andere) berücksichtigt. Darüber hinaus wurde zusätzlich zwischen den Subsystemen Erwachsene, Kinder, männlich und weiblich differenziert. Weitere Informationen hierzu finden sich bei Titze (2022).

Dimensionale Symptomerfassung

Zur Erfassung internalisierender und externalisierender Probleme sowie psychosozialer Kompetenzen wurde der Elternfragebogen über das Verhalten von Kindern und Jugendlichen verwendet (CBCL/4-18; Achenbach, Kinnen, Plück, Arbeitsgruppe Deutsche Child Behavior Checklist & Döpfner, 1998). Die Kompetenzskala summiert die Skalen Aktivität, soziale Kompetenz und Schule. Weiterhin wurden folgende Skalen verwendet: Internalisierung (Syndromskalen Sozialer Rückzug, Körperliche Beschwerden und Angst/Depressivität), Externalisierung (Dissoziales Verhalten und Aggressives Verhalten), Gesamtwert für Problemverhalten (alle acht Syndromskalen der CBCL). Zudem wurde die Elternversion des SDQs verwendet (Woerner et al., 2002).

ICD-10-Diagnosen

Die psychiatrischen Diagnosen wurden nach Abschluss der klinischen Standarduntersuchung (Eigen- und Fremdanamnese, Vorbefunde, psychopathologischer Befund, testpsychologische u. a. Untersuchungen) von den behandelnden Ärzt_innen und Psycholog_innen entsprechend den zum Zeitpunkt der Studie gültigen ICD-10-Kriterien und der multiaxialen Klassifikation (MAS) vergeben (Remschmidt, Schmidt & Poustka, 2017). Berücksichtigt werden hier bis zu drei Diagnosen auf der Achse I der MAS. Kinder mit den Diagnosen emotionalen Störungen des Kindesalters (ESK, F93.x) oder Hyperaktivitäts- und Aufmerksamkeitsstörungen (HKS, F90.x) wurden hinsichtlich störungsspezifischer Unterschiede verglichen (Doppeldiagnosen wurden ausgeschlossen). Unter der Diagnose F93 (ESK) werden vor allem Angststörungen verstanden (Trennungsangst, phobische Störungen und soziale Angst), die eher eine Verstärkung normaler Entwicklungstrends darstellen als eigenständige, qualitativ abnorme Phänomene (Remschmidt et al., 2017). HKS (F90) ist durch ein andauerndes und situationsübergreifendes Muster von Aufmerksamkeitsproblemen, Impulsivität und/oder starke körperliche Unruhe gekennzeichnet (Remschmidt et al., 2017).

Hypothesen

Netzwerkgröße, PG vs. VG (H1): Kinder mit psychischen Störungen (PG) haben im Vergleich zu einer nach Alter, Geschlecht und Bildungsstatus gematchten nichtklinischen Vergleichsgruppe (VG) sowohl insgesamt als auch in Mikrosystemen abweichende Netzwerkgrößen.

Netzwerkqualität, PG vs. VG (H2a): Die PG berichtet im Vergleich zur VG über weniger soziale Ressourcen und mehr Netzwerkbelastungen.

Netzwerkqualität und psychische Belastungen (H2b): Ressourcenmerkmale des SoBeKi-R korrelieren negativ mit Syndromskalen der CBCL und des SDQs, Belastungsmerkale hingegen positiv.

Netzwerkqualität und Kompetenzen (H2c): Ressourcenmerkmale des SoBeKi-R korrelieren positiv mit der Kompetenzskala der CBCL und des SDQs (Prosoziales Verhalten), Belastungsmerkale hingegen negativ.

Störungsspezifität bei HKS (F90) (H3a): Bei Kindern mit der Diagnose F90 werden kleinere außerfamiliäre Netzwerke als die Vergleichsgruppe sowie mehr familiäre und außerfamiliäre Belastungen und weniger Ressourcen erwartet.

Störungsspezifität bei ESK (F93) (H3b): Bei Kindern mit der Diagnose F93 werden als Folge der häufigen Angstproblematik ebenfalls tendenziell kleinere außerfamiliäre Netzwerke vermutet. Im Unterschied zu Kindern mit F90 werden weniger Konflikte und Belastungen im außerfamiliären Bereich erwartet.

Statistische Verfahren

Alle statistischen Analysen wurden in SPSS 28 berechnet. Aufgrund der zumeist linkssteilen Verteilung der SoBeKi-R-Variablen wurden für die Hypothesentestung, sofern nicht anders angegeben, verteilungsfreie Verfahren verwendet (Gruppenvergleiche: Mann-Whitney-U-Test; Korrelation: Spearman). Bei Gruppenvergleichen, bei denen der Effekt mehrerer unabhängiger SoBeKi-R-Variablen gleichzeitig interessierte, wurden zusätzlich orientierend multivariate Haupteffekte mittels MANOVA unter gleichzeitiger Kontrolle des Geschlechtseffektes geprüft (Wilks Lambda). Bei den gerichteten Hypothesen (H2 und H3) wurden einseitige Signifikanztests verwendet, ansonsten zweiseitige.

Zur Korrektur der Alpha-Fehler-Kumulierung bei explorativen Analysen wurde die Holm-Bonferroni-Korrektur durchgeführt und zusätzlich angegeben (Gaetano, 2013).

Bei der Zusammenstellung der Vergleichsgruppe war ein Ziel, mögliche konfundierende Einflüsse durch das Alter, das Geschlecht der Kinder oder den Bildungsstatus der Eltern (Prädiktorvariablen) zu reduzieren. Hierzu wurden Vergleichskinder anhand eines sog. Propensity-Score-Matchings (PSM) ausgewählt. Multilinearität wurde zuvor über Korrelationsanalysen geprüft. Die Abgleichstoleranz der PSM-Berechnung wurde auf 0.01 gesetzt. Unter diesen Bedingungen wurden den 57 Kindern der Patientengruppe (PG) 57 möglichst ähnliche Kinder als Vergleichsgruppe (VG) aus der Normierungsstichprobe (n = 571) des SoBeKi zugeordnet (Tabelle 1).

Ergebnisse

Demografische Daten und psychiatrische Diagnosen

Die demografischen Daten der Untersuchungsgruppen sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die beiden mit Abstand häufigsten Achse-I-Diagnosen auf Syndromebene in der Patientengruppe waren die emotionale Störung des Kindesalters (F93; 31 %) und die hyperkinetische Störung (F90; 26 %), gefolgt von anderen Verhaltens- und emotionalen Störungen mit Beginn in der Kindheit und Jugend (F98, 7 %), Zwangsstörung (F42, 6 %) und Essstörungen (F50, 6 %). Weitere zehn verschiedene Achse-I-Syndrome wurden jeweils seltener als fünfmal vergeben (22 %), 37 % der Diagnosen waren Mehrfachdiagnosen. PSM: Multilinearität wurde zuvor über Korrelationsanalysen geprüft. Die Abgleichstoleranz der PSM-Berechnung wurde auf 0.01 gesetzt.

Netzwerkgröße, Patienten- vs. Vergleichsgruppe (H1)

Der Gruppeneffekt wurde zunächst mittels einer zweifaktoriellen MANOVA (Gruppenzugehörigkeit, Geschlecht) über die Variablen zur Personenanzahl in den Mikro- und Subsystemen geprüft. Hier ergaben sich hochsignifikante Haupteffekte für die Gruppenzugehörigkeit (F(15;96) = 3.08, p < .000, Eta2 = .325) und für das Geschlecht (F(15;96) = 12.40, p < .000, Eta2 = .660). Es bestand keine signifikante multivariate Interaktion zwischen der Gruppenzugehörigkeit und dem Geschlecht der Kinder (F(15;96) = 1.7, p = .063, Eta2 = .210). Die Patient_innen hatten im Schnitt um 2.1 Personen signifikant kleinere Netzwerke als die VG (AM = 13.7, SD = 4.9 vs AM = 15.8, SD = 5.2; vergl. Tabelle 2). Mädchen der PG nannten im Schnitt 1.8 mehr Personen als Jungen; in der VG nannten die Jungen jedoch 0.4 Personen mehr als die Mädchen. Mädchen nannten deutlich mehr weibliche als männliche Personen; bei den Jungen war es umgekehrt. Dies betraf vor allem die Schulkontakte (PG: 5.8 vs. 1.4 resp. 1.7 vs. 5.3).

Tabelle 2 Durchschnittliche Anzahl von Personen in verschiedenen Mikro- und Subsystemen. Vergleich von nach Geschlecht, Alter und Bildungsstatus der Eltern gematchter Patienten- (PG) und Vergleichsgruppe (VG), getrennt für Jungen und Mädchen; Mann-Whitney-U-Test (MWU)

Mikro- und Subsysteme (Tabelle 2): In der PG wurden zwar insgesamt signifikant weniger Personen genannt als in der VG, insbesondere Erwachsene, jedoch aus der Schule im Schnitt 1.6 mehr Personen, vor allem mehr Kinder. In der Nachmittagsbetreuung und in der Freizeit hingegen wurden signifikant weniger Personen als in der Kontrollgruppe genannt. Hinsichtlich der Anzahl der genannten Familienangehörigen ergeben sich keine signifikanten Unterschiede; auch dann nicht, wenn zwischen den Familienmitgliedern, mit denen das Kind zusammenlebt (Kernfamilie, Eltern und Geschwister), und der erweiterten Familie (z. B. Großeltern, Cousins oder Cousinen) differenziert wird.

Da 21 der 57 Patient_innen (37 %) in stationärer oder teilstationärer Behandlung waren, hatten diese Kinder zumindest in dieser Zeit keine externe Nachmittagsbetreuung. In der Patientengruppe gaben entsprechend nur 20 Kinder (36 %) an, eine Nachmittagsbetreuung zu besuchen, während dies 49 (86 %) in der Kontrollgruppe waren. Zur multivariaten Überprüfung der Unterschiede zwischen VG und PG wurde die MANOVA ohne die abhängigen Variablen zur Nachmittagsbetreuung berechnet. Der signifikante Haupteffekt für die Gruppenzugehörigkeit blieb bestehen (F(12;99) = 3.35, p < .000, Eta2 = .289), ebenso für das Geschlecht (F(12;99) = 15.56, p < .000, Eta2 = .653) sowie eine fehlende signifikante multivariate Interaktion zwischen Geschlecht und Gruppenzugehörigkeit der Kinder (F(12;99) = 1.528, p = .127). Der Haupteffekt für die Gruppenzugehörigkeit bleibt für diese Variablengruppe auch dann bestehen, wenn die Nachmittagsbetreuung (nein = 0, ja = 1) statt des Geschlechts als zweiter Faktor verwendet wurde (Gruppenzugehörigkeit: F(12;98) = 2.52, p = .006, Eta2 = .236; Nachmittagsbetreuung: F(12;98) = 2.06, p = .026, Eta2 = .202). Eine signifikante Interaktion zwischen beiden Faktoren besteht nicht.

Netzwerkqualität, Gruppenvergleich (H2a)

Erwartungsgemäß war die Summe der Ressourcenbewertungen deskriptiv in der VG insgesamt deutlich höher als in der PG (AM = 109 vs. 90, SD = 35.8 vs. 32.2; t-Test: p = .002); die Summe der Belastungsbewertungen etwas niedriger, jedoch nicht signifikant (AM = 24 vs. 19, SD = 21.1 vs. 16.3; t-Test: p = .085). Zur Überprüfung des Gruppeneffektes wurden analog zum Verfahren bei der Hypothese 1 zunächst orientierend zweifaktorielle MANOVAs (Faktor Gruppenzugehörigkeit, Geschlecht) gerechnet, diesmal mit den (abhängigen) Variablen a) Ressourcenbewertungen und b) Belastungsbewertungen, jeweils in den verschiedenen Mikro- bzw. Subsystemen. Aus den o. g. Gründen wurde wieder mit und ohne die Variablen zur Nachmittagsbetreuung gerechnet. Die orientierenden MANOVAs erbrachten einen hochsignifikanten multivariaten Haupteffekt für die Gruppenzugehörigkeit über alle Ressourcenitems (F(15;96) = 3.71, p < .000, Eta2 = .427), auch ohne die Variablen zur Nachmittagsbetreuung (F(12;99) = 2.67, p = .004, Eta2 = .244).

Für die Belastungsitems ergab sich hingegen kein signifikanter Gruppeneffekt (F(15;96) = 0.94, p = .526 Eta2 = .128, resp. F(12;99) = 0.525, p = .894, Eta2 = .060). Der Geschlechtsfaktor ist multivariat signifikant, wobei Mädchen i. d. R. höhere Ressourcenbewertungen abgaben als Jungen, es bestand jedoch keine Interaktion mit dem Gruppenfaktor. Die Prüfung der Zwischensubjekteffekte mittels Mann-Whitney-U-Test zeigt, dass die PG im Bereich der Nachmittagsbetreuung signifikant weniger Ressourcen berichtete, nicht aber in der Familie, Schule oder Freizeit. Mit Blick auf die Items des SoBeKi-R zeigt sich, dass die Patient_innen signifikant geringere Ressourcenbewertungen bei den Items (2) Gern zusammen Erwachsene, (5) Beste/n Freund/in, (13) Bringt mir Neues bei sowie (16) Zusammen lachen im Vergleich zur VG aufweisen (Mann-Whitney-U-Test). Keine signifikanten Unterschiede bestehen bei den Belastungsitems.

Netzwerkqualität, Zusammenhänge zu CBCL/SDQ (H2b und c)

Die Tabelle 3 zeigt die Korrelationen zwischen den Bewertungen in den Items des SoBeKi (als Summe aller Ratings in einem Item) und den SDQ- und CBCL-Skalen (nur PG). Die signifikanten Korrelationen bewegen sich im Betrag zwischen r = .22 und r = .50. Nach der Holm-Bonferroni-Korrektur werden Zusammenhänge über r = .38 signifikant.

Die Vorzeichen der Korrelation entsprechen weitgehend der Richtung der vermuteten inhaltlichen Zusammenhänge zwischen Ressourcen- und Belastungsitems im SoBeKi und den Symptom- bzw. Syndromskalen (H2b). Ausnahmen sind zum einen eine positive Korrelation zwischen der SDQ-Skala Hyperaktivität und der Häufigkeit, mit der beste Freunde oder Freundinnen gesehen werden. Je höher die Bezugspersonen die Hyperaktivität ihres Kindes beurteilen, desto häufiger nennt das Kind Kontakte mit einem besten Freund bzw. mit besten Freunden. Zum anderen korreliert die SDQ-Skala Emotionale Probleme (Sorgen, unglücklich, anklammernd, Kopfschmerzen) mit den Items 2 (Gerne mit Erwachsenen zusammen) und Item 15 (Sich sicher fühlen) positiv.

Die Zusammenhänge zwischen den Belastungsitems des SoBeKi-R und der CBCL-Skala externalisierende Störung sowie den SDQ-Skalen Verhaltensprobleme, Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen und dem SDQ-Gesamtscore sind erwartungsgemäß deutlich (r < .40). Überraschend bestehen jedoch keine signifikanten Zusammenhänge zur CBCL-Skala internalisierende Störung. Symptome von Hyperaktivität (SDQ) sind geringer mit Belastungen im SoBeKi-R assoziiert als oppositionell-aggressive Verhaltensprobleme, Verhaltensprobleme mit Gleichaltrigen (SDQ) bzw. externalisierende Probleme (CBCL).

Die meisten Ressourcenitems des SoBeKi-R zeigen Zusammenhänge mit den Problemskalen des SDQ. Ausnahme sind hier die SoBeKi-Items 11 und 13 zur Kompetenzbezogenen Unterstützung sowie Item 16 (gemeinsam lachen können). Das Item 2 (Häufigkeit, mit der das Kind gerne mit Erwachsenen zusammen ist) korreliert, wie oben beschrieben, positiv mit der SDQ-Skala Hyperaktivität.

Bis auf eines korrelierten alle SoBeKi-Ressourcenitems deutlich mit der Kompetenzskala der CBCL, welche verschiedene Alltagskompetenzen (Aktivitäten, soziale und schulische Kompetenz) summiert (H2c). Überraschend ist, dass fast keine signifikanten Zusammenhänge zwischen den SoBeKi-Items und dem Elternurteil zur SDQ-Kompetenzskala Prosoziales Verhalten (SDQ) bestehen, welche sozial erwünschte Verhaltensweisen (rücksichtsvoll, gerne teilen, hilfsbereit und lieb zu jüngeren Kindern sein) erfragt. Die numerischen Zusammenhänge sind der Tabelle 3 zu entnehmen.

Tabelle 3 Korrelationen zwischen Bewertungen in den SoBeKi-R-Items (Summenscores) und SDQ- und CBCL-Skalen (Patientengruppe, n = 57)

Störungsspezifität bei F90 und F93 (H3a, b)

Kinder mit einer HKS (H3a) weisen hypothesenkonform um ca. ein Drittel signifikant kleinere außerfamiliäre Netzwerke (Personen) auf als die VG. Sie nannten im Schnitt weniger als halb so viele außerfamiliäre Erwachsene und nicht ganz ein Drittel weniger Gleichaltrige (Tabelle 4). Bezogen auf die Gesamtsumme der gerateten Belastungen zeigen sich zwar keine Unterschiede zur VG, jedoch berichteten sie von deutlich geringeren Ressourcen (Tabelle 4). Berücksichtigt man, dass die Kinder mit HKS signifikant weniger Personen nannten und gleicht den Einfluss des kleineren Netzwerkes dadurch aus, dass der durchschnittliche Belastungswert pro Person betrachtet wird, dann wird deutlich, dass die außerfamiliären Belastungswerte pro Person bei den entsprechenden Variablen deutlich höher liegen als in der VG, wenngleich der Vergleich knapp nichtsignifikant wird (Tabelle 5).

Tabelle 4 Vergleich Patient_innen mit Diagnosen F90 und F93 und Vergleichsgruppe (VG): Summe der Belastungs- und Ressourcenbewertungen.
Tabelle 5 Vergleich Patient_innen mit Diagnosen F90 und F93 und Vergleichsgruppe (VG): Summe der Belastungs- und Ressourcenbewertungen pro Person

Die außerfamiliären Ressourcen sind bei Kindern mit HKS insgesamt hochsignifikant um fast die Hälfte niedriger als in der VG, besonders bei den Kindern (Tabelle 4). Der Unterschied bleibt signifikant, selbst wenn die Ressourcen an der geringeren Anzahl der Personen relativiert werden (Tabelle 5).

Die innerfamiliären Bewertungen der Ressourcen und Belastungen zeigen keine signifikanten Unterschiede zur VG.

Auch Patient_innen mit einer ESK (F93) weisen signifikant kleinere außerfamiliäre Netzwerke (Personen) auf als die Kinder der Vergleichsgruppe (H3b). Sie nannten insbesondere unerwartet signifikant weniger (!) außerfamiliäre Belastungen als die Kontrollgruppe und auch als die F90-Patient_innen (Tabelle 4). Diese Unterschiede werden knapp nicht mehr signifikant, wenn die Werte an der Größe des sozialen Netzes (Personenzahl) relativiert werden (Tabelle 5). Wie auch die Kinder mit HKS berichtet die Gruppe mit der Diagnose F93 von hochsignifikant weniger außerfamiliären Ressourcen als die VG. Hier bliebt der Unterschied auch dann signifikant, wenn die Summe der Ressourcenbewertungen an der geringeren Anzahl der Personen relativiert wird (Tabelle 5).

Die innerfamiliären Bewertungen der Ressourcen und Belastungen zeigen auch bei den Kindern mit F93-Diagnose keine signifikanten Unterschiede zur VG.

Diskussion

Diese Studie untersucht personale Netzwerke von Kindern einer psychiatrischen Inanspruchnahmepopulation und vergleicht sie – im Unterschied zu früheren ähnlichen Studien (Berger, 2000; Roos et al., 1995; Zutz, 2001) – mit einer nach Geschlecht, Alter und Bildungsstatus der Familien parallelisierten nichtklinischen Vergleichsgruppe. Die vorliegenden Ergebnisse bestätigen Vorbefunde insofern (Berger, 2000; Roos et al., 1995), als dass die Kinder aus der PG insgesamt signifikant kleinere Netzwerke aufwiesen als die VG (H1). Die insgesamt um ca. zwei Personen kleineren Netzwerke der PG ließen sich statistisch nicht nur durch den geringen Anteil von Nachmittagsbetreuung bei den stationären und teilstationären Patient_innen erklären. Die weiteren Ergebnisse sprechen dafür, dass die geringen Netzwerkgrößen der PG mit verschiedenen anderen sozialen Ursachen bzw. Folgen der psychischen Störungen assoziiert sind (H1). Auch das Niveau der sozialen Ressourcen, nicht aber das der Belastungen, war in der PG deutlich geringer als in der VG (H2a). Die subjektiven Ressourcen- bzw. Belastungsmerkmale des sozialen Netzes korrelierten weitgehend erwartungsgemäß mit fremdberichteten Symptom- und Kompetenzskalen von SDQ/CBCL (H2b und c). Externalisierende Probleme (CBCL), wie dissoziales, oppositionelles und aggressives Verhalten, waren dabei besonders deutlich mit höheren Belastungen und niedrigeren sozialen Ressourcen assoziiert (Owens et al., 2007; Zutz, 2001), schulische und aktivitätsbezogene Kompetenzen (CBCL) hingegen mit höheren sozialen Ressourcen. Zusammengefasste internalisierende Probleme (CBCL) zeigten jedoch in Übereinstimmung mit Befunden von Greco und Morris (2005) sowie Stöckli (2007) keine Zusammenhänge mit den sozialen Ressourcen oder Belastungen des SoBeKi-R.

Die Hypothese, dass insbesondere Kinder mit HKS kleinere außerfamiliäre Netzwerke und geringere Ressourcen haben als die Kinder der VG, konnte bestätigt werden (H3a). Sie nannten weniger als halb so viele außerfamiliäre Erwachsene, deutlich weniger Kinder und um 44 % geringere außerfamiliäre Ressourcen als die VG. Die im Durchschnitt genannten Belastungswerte waren zwar nicht in der Summe erhöht, aber pro Person fast doppelt so hoch wie in der VG. Dieser Unterschied konnte jedoch aufgrund der geringen Stichprobengröße inferenzstatistisch nicht abgesichert werden. Diese Richtung der Ergebnisse entspricht zum einen den Vorbefunden, die höhere soziale Belastungen bei HKS belegen (Owens et al., 2007), zum anderen zeigen die Ergebnisse auch, dass die betroffenen Kinder entgegen deren Annahmen eines positiv illusorischen Selbstkonzeptes (ebd.) geringere soziale Ressourcen und erhöhte Belastungen zumindest nicht völlig ignorieren. In Übereinstimmung mit Zutz (2001) berichteten Kinder mit höheren Hyperaktivitätswerten jedoch im SDQ von häufigeren Kontakten mit besten Freund_innen als Kinder mit niedrigen HKS-Werten. Es wäre noch zu prüfen, ob die Stabilität und Qualität dieser besten Freundschaften mit denen nicht betroffener Kinder vergleichbar ist. Es erscheint jedoch nachvollziehbar, dass beste Freund_innen für von HKS betroffene Kinder ein besonders wichtiges soziales Refugium darstellen können. Im Unterschied zu den Ergebnissen bei HKS waren externalisierende Verhaltensprobleme (CBCL, SDQ) in Abhängigkeit vom Ausprägungsgrad mit deutlich höheren allgemeinen außerfamiliären Belastungen assoziiert, nicht aber mit niedrigeren Ressourcen. Kinder mit größeren Problemen mit Gleichaltrigen (SDQ) hatten hingegen sowohl niedrigere Ressourcen als auch höhere Belastungsscores.

Der Befund, dass Kinder mit emotionalen Störungen kleinere außerfamiliäre Netzwerke als nichtbetroffene Kinder aufwiesen, deckt sich mit den klinischen Erwartungen. Er ergänzt die bisherigen empirischen Befunde, die für sozial ängstliche Kinder nicht allgemein, sondern bei kontaktvermeidendem Verhalten eine geringere Akzeptanz bei Mitschüler_innen fanden (Greco & Morris, 2005; Stöckli, 2007). Interessanterweise und entgegen der vorherigen Annahme (H3b) weisen diese Kinder sogar geringere außerfamiliäre Belastungen als die VG auf. Möglicherweise ist dies eine Folge von angstbezogenen Konfliktvermeidungsstrategien oder außerfamiliäre Konflikte und Belastungen werden weniger wahrgenommen oder dissimuliert. Zudem waren Kinder mit mehr emotionalen Problemen (SDQ) häufiger mit Erwachsenen und Personen zusammen, bei denen sie sich sicher fühlen (H2b). Anscheinend bevorzugen Kinder mit ängstlich-emotionalen Problemen vermehrt sichere Beziehungen, die ihnen bei der Bewältigung ihrer emotionalen Probleme emotionale Unterstützung geben.

Zusammenfassend deuten die unterschiedlichen Ergebnismuster zu den Störungsbildern darauf hin, dass zwischen der jeweils spezifischen Symptomatik und den erlebten Ressourcen und Belastungen im sozialen Netz komplexe dynamische Beziehungen bestehen, die nicht einfach im Sinne eines kumulativen Ressourcen-Risiko-Modells (z. B. Titze, Schenck, Zulauf Logoz & Lehmkuhl, 2014) modelliert werden können.

Der Schwerpunkt dieser Studie lag auf den außerfamiliären Ressourcen und Belastungen von Kindern mit (spezifischen) psychiatrischen Störungen. Ein wichtiger Befund ist jedoch auch, dass bei dieser Methodik offensichtlich keine qualitativen Auffälligkeiten in den familiären Beziehungen bestanden. Gründe könnten sein, dass durch die Parallelisierung der VG hinsichtlich der elterlichen Bildung Unterschiede, die aufgrund eines geminderten Bildungs- und Sozialstatus zu erwarten gewesen wären, nivelliert wurden, oder auch, dass belastende Beziehungsaspekte zu den Eltern nicht ausreichend differenziert im Vergleich zu hierfür spezialisierten Verfahren erfasst wurden (z. B. Titze et al., 2010).

Die Studie weist weitere Beschränkungen auf. Soziale Ressourcen und Belastungen der Kinder über ein Selbstauskunftsverfahren zu erfassen, bietet Vor- und Nachteile. Damit soziale Ressourcen genutzt werden können, müssen sie vorhanden sein, wahrgenommen werden und schließlich positiv, z. B. zur Bewältigung von Belastungen, genutzt werden (Klein-Heßling & Lohaus, 2012). Über die objektive Verfügbarkeit von Ressourcen bzw. das Vorliegen von Belastungen können subjektive Netzwerkinformationen alleine keine zuverlässige Auskunft geben. Außerdem ist zu bedenken, dass soziale Ressourcen wie Unterstützung auch nicht immer funktional sind, sondern bestehende Problematiken verstärken können (Levitt et al., 2005; Rosenthal, Feiring & Taska, 2003). Hierzu müssen in der klinischen Diagnostik weitere Informationen herangezogen werden. Die Aussagekraft der vorliegenden Studie ist besonders für den Diagnosevergleich durch die kleine Stichprobe beschränkt und die Interpretation aufgrund der verschiedenen klinischen Settings und der künftigen Änderungen zur ICD-11 erschwert. Zudem ist die VG nicht für die Bevölkerung repräsentativ noch ist es die PG für die allgemeine klinische Inanspruchnahmepopulation, zumal alle Patient_innen aus nur einer Klinik kamen. Schließlich konnte für die gematchte VG nicht kontrolliert werden, in welchem Umfang hier ebenfalls psychische Störungen vorliegen.

Dennoch liefert die vorliegende Studie einige wichtige Belege, dass die von den Kindern subjektiv beurteilten außerfamiliären Beziehungen eine wichtige Rolle bei psychischen Störungen spielen, wobei die Netzwerkkonstellationen je nach Störungsbild spezifische Besonderheiten aufzuweisen scheinen. Die Erfragung der subjektiven Repräsentation des personalen sozialen Netzwerkes aus Sicht des Kindes erscheint daher nicht nur eine sinnvolle diagnostische Ergänzung für die klinische Praxis zu sein, um das gesamte soziale Netz des Kindes genau kennenzulernen, sondern auch, weil sie als eine Grundlage des psychischen Erlebens und sozialen Handelns entwicklungsrelevant für die psychische Gesundheit von Kindern ist (Titze & Lehmkuhl, 2010). Außer Frage steht, dass weitere Forschung zur Bedeutung und Funktion personaler sozialer Netzwerke von Kindern benötigt wird. Der SoBeKi-R kann hierzu einen Beitrag leisten.

Literatur

Anhang

CME-Fragen

  1. 1.
    Mit welchem Fachbegriff werden personale soziale Netzwerke noch bezeichnet? (Einfachantwort)
    • a)
      Individuumszentrierte Netzwerke
    • b)
      Egozentristische Netzwerke
    • c)
      Mikrosysteme
    • d)
      Egozentrische Netzwerke
    • e)
      Soziogramm
  2. 2.
    Welche der folgenden Forschungsergebnisse wurden im Literaturteil berichtet? (Mehrfachantwort)
    • a)
      Empirische Befunde mit den Vorgängerversionen des SoBeKi zeigten, dass sich die Größe des sozialen Netzwerkes bei Kindern mit und ohne psychischen Störungen insgesamt nicht unterschieden.
    • b)
      In einer Studie wurden keine allgemeinen Zusammenhänge zwischen sozialer Ängstlichkeit und Peerakzeptanz gefunden.
    • c)
      Eine Studie zeigte, dass sozial ängstliche Kinder nur dann weniger akzeptiert waren, wenn sie gleichzeitig sozial zurückgezogen waren.
    • d)
      In einer Studie wurden keine Zusammenhänge zwischen sozialer Ängstlichkeit und der Anzahl der engen Freundschaften gefunden.
    • e)
      Eine Studie zeigte, dass Kinder mit einer hyperkinetischen Störung (HKS) sich in ihren Kompetenzen häufig schwächer bewerten als anderen Kinder.
  3. 3.
    Welche Ergebnisse hinsichtlich der emotionalen Störungen des Kindesalters (ESK, ICD-10 F93) wurden berichtet? (Mehrfachantwort)
    • a)
      Kinder mit der Diagnose ESK nannten signifikant weniger Personen in ihren außerfamiliären Netzwerken als Kinder der Vergleichsgruppe.
    • b)
      Kinder mit der Diagnose ESK bewerteten ihre Ressourcen in den außerfamiliären Beziehungen signifikant niedriger als die Kinder der Vergleichsgruppe.
    • c)
      Kinder mit der Diagnose ESK bewerteten ihre Belastungen in den außerfamiliären Beziehungen signifikant höher als die Kinder der Vergleichsgruppe.
    • d)
      Kinder mit der Diagnose ESK bewerteten ihre Belastungen in den außerfamiliären Beziehungen signifikant geringer als die als Kinder der Vergleichsgruppe.
    • e)
      Die innerfamiliären Ressourcen und Belastungen unterschieden sich bei Kindern mit der Diagnose ESK nicht signifikant von Kindern der Vergleichsgruppe.
  4. 4.
    Welche Ergebnisse hinsichtlich der hyperkinetischen Störungen (HKS, ICD-10 F90) wurden berichtet? (Mehrfachantwort)
    • a)
      Kinder mit der Diagnose HKS wiesen signifikant kleinere außerfamiliäre Netzwerke auf als die Vergleichsgruppe.
    • b)
      Kinder mit der Diagnose HKS nannten weniger als halb so viele Gleichaltrige in ihrem sozialen Netz als die Vergleichsgruppe.
    • c)
      Die Summe der Belastungsbewertungen über alle Beziehungen im sozialen Netz war bei Kindern mit der Diagnose HKS fast doppelt so wie in der Vergleichsgruppe.
    • d)
      Die Summe der außerfamiliären Ressourcenbewertungen über alle Beziehungen im sozialen Netz lag war bei Kindern mit der Diagnose HKS um fast die Hälfte niedriger als in der Vergleichsgruppe.
    • e)
      Die Bewertung der innerfamiliären Ressourcen und Belastungen unterschieden sich bei Kindern mit der Diagnose HKS nicht signifikant von Kindern der Vergleichsgruppe.
  5. 5.
    Welche Aussagen treffen zu? (Mehrfachantwort)
    • a)
      Die von den Kindern im SoBeKi-R bewerteten sozialen Belastungen (Belastungssummenscore) korrelierten signifikant positiv mit den von den Eltern berichteten externalisierenden Symptomen der Kinder (CBCL-Skala Externalisierende Störung).
    • b)
      Die von den Kindern im SoBeKi-R bewerteten sozialen Ressourcen (Ressourcensummenscore) korrelierten stark positiv (r = .50) mit den von den Eltern berichteten Kompetenzen der Kinder (CBCL-Kompetenzskala).
    • c)
      Kinder mit einer emotionalen Störung des Kindesalters wiesen entgegen der Erwartung geringere außerfamiliäre Belastungen als die Vergleichsgruppe auf. Es wurde in Betracht gezogen, dass dies aus angstbezogenen Konfliktvermeidungsstrategien resultieren könnte.
    • d)
      Die Aussagekraft der Studie ist dadurch beschränkt, dass die Patientinnen-/Patienten- und Vergleichsgruppe hinsichtlich potenziell beeinflussender soziografischer Merkmale wie Geschlecht, Alter und Bildung der Eltern nicht vergleichbar war.
    • e)
      Die Ergebnisse zu den von Kindern mit HKS (ICD-10 F90) und ESK (ICD-10 F93) erlebten Ressourcen und Belastungen im sozialen Netz ließen sich weitgehend konsistent im Rahmen eines kumulativen Ressourcen-Risiko Modells interpretieren.

Um Ihr CME-Zertifikat zu erhalten (min. drei richtige Antworten), schicken Sie bitte den ausgefüllten Fragebogen mit einem frankierten Rückumschlag bis zum 02.07.2023 an die nebenstehende Adresse. Später eintreffende Antworten und solche ohne bzw. mit nicht frankierten Rückumschlägen können nicht mehr berücksichtigt werden.

Luisa Schula

LWL-Universitätsklinik Hamm der Ruhr-Universität Bochum

Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik

Heithofer Allee 64

59071 Hamm, Deutschland

Abbildung 1

Abbildung 1 Fortbildungszertifikat.