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Kinderschutz – Was kann die Schule tun?

Kooperationsstrukturen zur Prävention und Intervention

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000261

Abstract

Zusammenfassung. Aus schulpsychologischer Sicht werden Erscheinungsformen von Kindeswohlgefährdungen in der Schule beschrieben. An Fallbeispielen werden Handlungsmöglichkeiten für Pädagoginnen und Pädagogen erläutert. Die Schule kann die Funktion eines Frühwarnsystems übernehmen und Resilienzfaktor sein. Wichtig dabei ist die enge Kooperation mit dem Jugendamt als zuständigem Fachdienst und anderen Helfersystemen.

Child protection – what can schools do? Cooperation structures for prevention and intervention

Abstract. From the perspective of school psychology, this article explains and categorizes the manifestation of child abuse and neglect in schools. Case studies describe opportunities of intervention for teachers and educators. Schools can take on the function of an early warning system and become a factor of child's resilience. A successful implementation depends on the close cooperation with the youth welfare office as responsible specialist service and other support systems.

Die Schule ist der einzige Ort, den alle Kinder besuchen. Hier sind sie mit altersentsprechenden Lernanforderungen, Verhaltensnormen und sozialen Werten konfrontiert. Daher werden oft erst mit der Einschulung und dem weiteren Schulbesuch Verhaltensauffälligkeiten, psychische Störungen und emotionale Belastungen durch die Familiensituation offensichtlich.

„Sollen Lehrkräfte und Erzieherinnen jetzt auch noch für das Wohl der Kinder in den Familien verantwortlich sein?“ „Gibt es dafür nicht das Jugendamt?“ „Ich bin doch kein Sozialarbeiter!“ So oder ähnlich denken viele Pädagoginnen und Pädagogen.

Andere wiederum nehmen ihren Fürsorge- und Erziehungsauftrag sehr ernst und sind hochsensibel für das Wohl ihrer Schülerinnen und Schüler:

„Jessica verhält sich so sexualisiert. Gibt es hier vielleicht einen Missbrauch in der Familie?“

„Kevin ist so aggressiv. Vermutlich wird er zu Hause vom Vater geschlagen.“

„Die Mutter von Sarah wirkt psychisch krank. Kann sie sich überhaupt um ihre Kinder kümmern?“

„Der Vater von Pit ist Alkoholiker. Pit kommt auch im Winter oft im T-Shirt und einer dünnen Jacke in die Schule. Ein Pausenbrot hat er fast nie dabei. Schon häufiger ist es vorgekommen, dass er Mitschülern Essen aus der Frühstücksbox gestohlen hat. Müssen wir das Jugendamt einschalten?“

„Die Eltern von Sabrina leben getrennt und streiten ständig über Rechtsanwälte um den Umgang mit dem Kind. Mutter und Vater erzählen mir beim Abholen der Schülerin, wie schlecht es Sabrina beim anderen Elternteil hat und was alles falsch läuft“.

„Fatma hat mir erzählt, dass sie in den Sommerferien mit einem Cousin in der Türkei verheiratet werden soll. Sie ist doch erst 15 und will ihren Schulabschluss machen. Müssen wir da nicht etwas unternehmen?“

„Daniel hat in diesem Halbjahr schon 30 Tage gefehlt. Meistens fehlt er unentschuldigt. Die Eltern haben wir schon mehrmals zu einem Gespräch eingeladen, aber sie kommen nicht. Eine Schulversäumnisanzeige haben wir bereits gestellt.“

Was können Pädagoginnen und Pädagogen in der Schule tun?

Lehrkräfte und Erzieherinnen haben oft eine sehr vertrauensvolle Beziehung zu Kindern. Sie beobachten, wie es den Kindern körperlich und psychisch geht, ob sie emotional belastet sind und erhalten Informationen über das Familienleben der Schülerinnen und Schüler.

Die Schule ist daher ein wichtiger Ort, an dem eine Kindeswohlgefährdung frühzeitig erkannt werden kann. Doch ist die Bewertung einer Gefährdungssituation sehr schwierig und sollte grundsätzlich im Gespräch mit der Kinderschutzbeauftragten des Jugendamtes oder der zuständigen Schulpsychologin erfolgen. Differenzierte Checklisten und Einschätzbögen helfen hierbei, eine Situation professionell einzuschätzen (Jugendamt Stuttgart, 2003; Kinderschutzzentrum Berlin, 2009; Kommunalverband für Jugend und Soziales [KVJS], 2015; Landkreis Görlitz, 2014).

Die Schulpsychologie sollte regelmäßige Sprechstunden an Schulen anbieten, in denen Lehrkräfte, Eltern und auch Schüler sich beraten lassen können.

Das Jugendamt sollte jeder Schule eine Kontaktperson benennen, die im Bedarfsfall für eine telefonische Beratung oder persönliche Fallbesprechung zur Verfügung steht.

Außerdem hat es sich sehr bewährt, wenn die Kinderschutzbeauftragte des zuständigen Jugendamtes das Kollegium einer Schule insgesamt über Risikofaktoren, Möglichkeiten und Grenzen des Kinderschutzes informiert.

Manche Kinder erzählen in der Schule Vorkommnisse in der Familie, um die Aufmerksamkeit und Zuwendung der Lehrerin oder von Mitschülern zu erhalten. Wenn dann die Schule und das Jugendamt intervenieren, kommen die Kinder in ein Loyalitätsdilemma und widerrufen unter Umständen ihre Aussagen. Sie solidarisieren sich mit ihren Eltern.

Gerade Kinder, die wenig Aufmerksamkeit und Zuwendung von ihren Eltern erhalten, sind oft besonders emotional gebunden und identifiziert. Bei einer Intervention durch das Jugendamt kann es passieren, dass für das Kind „die Bösen“ dann nicht mehr der schlagende Vater oder die vernachlässigende Mutter sind, sondern die Sozialarbeiterin des Jugendamtes, die für eine Heimunterbringung sorgt oder die Lehrkraft, die das Jugendamt eingeschaltet hat.

Andere Kinder versuchen, die Defizite in der Versorgung durch ihre Eltern zu kompensieren. Sie übernehmen Elternfunktionen, versorgen den Haushalt, pflegen die kranke Mutter oder den alkoholabhängigen Vater. Es findet eine Parentifizierung statt und sie versuchen, die mangelnde Versorgung zu verheimlichen.

Was ist eine Kindeswohlgefährdung?

Eine Kindeswohlgefährdung ist ein „unbestimmter Rechtsbegriff“, für den es keine klare gesetzliche und objektive Definition gibt. Deshalb ist es auch für Lehrkräfte und Erzieherinnen so schwierig, die Gefährdung eines Kindes zu beurteilen. In jedem Einzelfall muss daher von Experten des Jugendamtes geklärt werden, ob eine Kindeswohlgefährdung vorliegt.

Man unterscheidet folgende Formen von Kindeswohlgefährdung: Misshandlung: Körperliche Misshandlung, Seelische Misshandlung; Vernachlässigung; Sexueller Missbrauch.

  • Damit eine Kindeswohlgefährdung vorliegt, muss eine Schädigung des Kindeswohls aktuell gegeben sein.
  • Oder die Schädigung muss sich mit ziemlicher Sicherheit vorhersehen lassen, sofern sie noch nicht eingetreten ist.
  • Die aktuelle oder zukünftige Schädigung muss erheblich sein (www.KinderschutzinNRW.de).

Kritische Lebenslagen und Hilfen zur Erziehung

Eltern können durch eine Vielzahl von Faktoren in kritische Lebenslagen geraten: Arbeitslosigkeit, Erkrankung, Sucht, Behinderung und mangelnde Lebenskompetenz, Trennung oder andere Krisen. Oft sind sie dadurch nur eingeschränkt in der Lage, sich um das Wohl ihrer Kinder zu kümmern. Wenn Kinder vorübergehend nur ein Mindestmaß an Aufmerksamkeit, Zeit, Versorgung und emotionaler Zuwendung erhalten, ist dies noch keine Kindeswohlgefährdung. Hier sollen die Hilfen zur Erziehung Eltern stärken, damit sie diese Lebenskrisen bewältigen und ihre Erziehungsaufgaben wieder besser wahrnehmen können (SGB VIII, § 27–35) (Wiesner et al., 2011).

Wenn Kinder aber dauerhaft in ihrer Entwicklung beeinträchtigt sind, Jugendhilfemaßnahmen nicht angenommen werden oder erfolglos waren, die Kinder vernachlässigt, misshandelt, missbraucht werden, sie nicht mehr zur Schule gehen, keinen Schulabschluss machen, in kriminelle Milieus, Prostitution oder Drogenmissbrauch abdriften, kann von einer Gefährdung des Kindeswohls gesprochen werden. Es ist jedoch nicht die Aufgabe der Schule und der Schulpsychologie, entsprechend zu intervenieren. Vielmehr sind Lehrkräfte und Schulpsychologen verpflichtet, dem Jugendamt als zuständigem Fachdienst eine Kindeswohlgefährdung anzuzeigen, das dann prüft, ob die Gefährdung vorliegt, ob eine Intervention, z.B. eine Inobhutnahme erfolgen muss und ob beim Familiengericht ein Antrag auf Entzug des Aufenthaltsbestimmungsrechts oder des Sorgerechts gestellt wird.

Schule als Frühwarnsystem

Die Aufmerksamkeit und Fürsorge der Lehrkräfte und Erzieherinnen einer Schule sind ein wichtiges Frühwarnsystem beim Erkennen einer Kindeswohlgefährdung. Doch sollten sie nicht von sich aus aktiv werden und Eltern konfrontieren, sondern sich vom Sozialpädagogen der Schule, der zuständigen Schulpsychologin oder der Kinderschutzbeauftragten des Jugendamtes beraten lassen, ob die Anzeige einer Kindeswohlgefährdung erforderlich ist. Ein Überengagement zum Wohle des Kindes und eine zu starke Helfermotivation sind hierbei eine Gefahr. Durch projektive Identifikation kann die Motivation entstehen, stellvertretend für das Kind handeln.

Bei bestehender oder drohender Gefährdung des Kindes ist es sinnvoll, in einer Fallberatung mit schulexternen Experten zu beraten, welche Jugendhilfemaßnahmen in der Familie und welche pädagogischen Maßnahmen in der Schule erforderlich sind. Das Jugendamt wird dann in einer Hilfeplanung in Absprache mit der Familie geeignete Maßnahmen einleiten. Ein Grundsatz bei allen Maßnahmen ist es, zuerst die Eltern in ihrer Erziehungskompetenz zu unterstützen und zu stärken. Nur wenn dies nicht gelingt, sollten Maßnahmen zur Einschränkung der elterlichen Sorge durch das Familiengericht erwogen werden. In vielen Fällen sind auch psychotherapeutische oder kinder- und jugendpsychiatrische Behandlungen notwendig. Bei Gewaltvorfällen, Missbrauch oder anderen Straftaten sollten Strafanzeigen bei der Polizei gestellt werden.

Was brauchen Kinder, deren Entwicklung gefährdet ist?

Kinder und Jugendliche, die in ihrer Entwicklung gefährdet sind, brauchen das, was alle Menschen brauchen:

  • Stabile Beziehungen
  • Halt und Orientierung
  • Erfolge
  • Ziele und Perspektiven

Doch erleben gerade diese Kinder und Jugendlichen viele Beziehungsabbrüche in der Familie oder auch durch Schulwechsel in der Schule. Häufig fehlen ihnen pädagogisch sinnvolle Grenzen in der Erziehung oder sie erfahren eine zu autoritäre, gewalttätige Erziehung, die ihre Entwicklung einschränkt. Aufgrund ihrer oft traumatisierenden Lebenserfahrungen und Krisen sind ihre Schulleistungen schlecht, sie haben wenig Leistungserfolge und Freundschaften in der Schule. Sie sind mit der Bewältigung ihrer aktuellen Lebenssituation beschäftigt, eigene Ziele und Perspektiven gehen verloren.

In Deutschland ist das psycho-soziale Beratungs- und Unterstützungssystem gut ausgebaut. Leider arbeiten Institutionen noch zu oft ohne Abstimmung und gegenseitige Information. Hier bedarf es eines gezielten, professionellen Fallmanagements, um die Unterstützungsmaßnahmen und Hilfen von verschiedenen Professionen und Helfersystemen fachlich und zeitlich aufeinander abzustimmen (Seifried, 2016a, 2016b):

  • Schule
  • Schulsozialarbeit
  • Schulpsychologie
  • Sonderpädagogische Förderung
  • Jugendhilfe
  • Familiengericht
  • Polizei
  • Psychotherapeuten, Ärzten
  • Kinder- und Jugendpsychiatrie

Fallmanagement und Kooperationsvereinbarungen

Häufig weiß die Klassenlehrerin nicht, dass bei einem Kind ein Familienhelfer vom Jugendamt eingesetzt wurde. Oft fühlt sich der Familienhelfer nicht für die schulischen Probleme des Kindes zuständig. Noch zu selten finden Fallkonferenzen in der Kinder- und Jugendpsychiatrie statt bevor ein Kind entlassen wird. Geklärt werden müsste mit allen Beteiligten, welcher Nachteilsausgleich in der Schule für eine erfolgreiche Rückführung und Inklusion notwendig ist.

Manchmal ist es schwierig, in der Zusammenarbeit zwischen Schule, Jugendhilfe, Schulpsychologie, Sonderpädagogik, Psychotherapeuten oder Ärzten eine gemeinsame Sprache und ein gemeinsames Fallverständnis zu finden. Hier bietet sich die „Internationale Klassifikation der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit für Kinder und Jugendliche» (ICF-CY) an (Hollenweger & Craus de Camargo, 2012). Anhand verschiedener Skalen können alle Professionen mit einem gemeinsamen Diagnostikinstrument arbeiten. Die ICF stellt ein mehrdimensionales, „bio-psycho-soziales Verständnis“ der Teilhabeeinschränkung dar, das eine neutrale Beschreibung der Kompetenzen, Ressourcen und Problemdimensionen zulässt und soziale Umweltfaktoren und persönliche Faktoren einbezieht (Seifried, 2016b).

In den genannten Beispielen wäre ein Fallmanagement zur Abstimmung der Ziele und Maßnahmen erforderlich. Hier stehen die psycho-sozialen Versorgungssysteme noch am Anfang. Verbindliche Kooperationsvereinbarungen zwischen dem Jugendamt, den Schulen, der zuständigen Kinder- und Jugendpsychiatrie, der Polizei u.a. müssen geschlossen werden, um die Kooperation und das Fallmanagement zu verbessern. Datenschutzbestimmungen sollten dabei kein Hindernis sein (Seifried, 2016a).

Schule als Stabilitäts- und Resilienzfaktor

Gerade wenn in der Herkunftsfamilie stabile Beziehungen, Halt und Orientierung fehlen, ist es besonders wichtig, in der Schule Alltagsstrukturen zu schaffen, die dem Kind oder Jugendlichen in dieser Krisensituation Halt und eine feste Bezugsperson geben. Häufig ist die Entwicklung dieser Kinder durch Beziehungsabbrüche oder ambivalente Haltungen in der Familie geprägt. Diese Ambivalenz setzt sich dann auch in der Schule fort, wenn die Kinder aggressiv, verhaltensauffällig oder unmotiviert sind. Gerade Kinder mit frühkindlichen Bindungsstörungen provozieren und belasten die pädagogischen Beziehungen in der Schule, der Pflegefamilie oder im Heim und bringen Lehrkräfte und Erzieherinnen an ihre Grenzen. In diesen Fällen ist eine Fallberatung und Supervision besonders wichtig, um die Beziehungsdynamik zu reflektieren und wieder eine professionelle Distanz zum Kinder herstellen zu können.

Fallbeispiele

„Jessica verhält sich so sexualisiert. Gibt es hier vielleicht einen Missbrauch in der Familie?“

Die Klassenlehrerin kommt in die Sprechstunde der Schulpsychologin, weil Jessicas Verhalten für sie sehr auffällig ist. Jessica ist neun Jahre alt und besucht die dritte Klasse. Die Schulpsychologin schlägt vor, die Eltern zu einem gemeinsamen Gespräch einzuladen. In diesem Gespräch wirken die Eltern reflektiert und sehen das Verhalten von Jessica ähnlich wie die Klassenlehrerin. Sie berichten, dass Jessica ein „Nachzügler“ ist, einen sechs Jahre älteren Bruder und eine acht Jahre ältere Schwester hat. Jessica ist sehr mit ihrer 17-jährigen Schwester identifiziert, möchte ähnliche Kleider tragen, sich schminken und die Fingernägel lackieren. Die Eltern geben diesen Wünschen meist nach. Die Eltern berichten, dass Jessica seit ihrer Geburt von allen Familienmitgliedern sehr verwöhnt wurde, die „kleine Prinzessin“ ist und stets versucht, im Mittelpunkt zu stehen.

Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch scheint unbegründet. Jessica versucht, das Verhalten ihrer Schwester zu imitieren und dadurch Aufmerksamkeit zu erwecken. Die Klassenlehrerin ist erleichtert und kann mit Jessica jetzt entspannter umgehen und Grenzen setzen. Die Schulpsychologin rät den Eltern, sich bei der Erziehungsberatungsstelle beraten zu lassen, wie sie mit Jessica konsequenter umgehen und altersangemessenes Verhalten fördern können.

Eine differenzierte Hilfe zur Einschätzung von sexueller Gewalt und möglichen Interventionen in der Schule bietet Miosga (Miosga & Schele, 2018).

„Kevin ist so aggressiv. Vermutlich wird er zu Hause vom Vater geschlagen.“

Kevin ist in fast jeder Pause in Konflikte mit Mitschülern verwickelt. Manche Kinder in der Klasse haben regelrecht Angst vor ihm. Die Klassenlehrerin lädt in Absprache mit der Schulleiterin zu einer Schulhilfekonferenz ein. Eingeladen werden die Eltern, der zuständige Schulpsychologe, eine Mitarbeiterin des Jugendamtes und die Sonderpädagogin der Schule.

Kevins Vater verhält sich in der Konferenz vorwurfsvoll und aggressiv. Zu Hause habe er keinerlei Probleme mit Kevin. Auch habe er seinem Sohn immer eingeschärft, sich zu wehren, wenn er von anderen geärgert wird. Die Probleme lägen vermutlich darin, dass sich die Klassenlehrerin bei den Kindern nicht richtig durchsetzen könne. „Kinder brauchen Autorität“. Die Mutter sagt fast nichts und stimmt ihrem Mann zu.

Der Schulpsychologe schlägt vor, die Schulhilfekonferenz zu vertagen. Kevin und seine Eltern werden in das Beratungszentrum zu einem weiteren Gespräch und zur Diagnostik eingeladen. Da der Vater als Fernfahrer viel unterwegs ist, kommt die Mutter mit Kevin allein. Während Kevin in einer Spielecke spielt, berichtet die Mutter, dass es in der Familie viel Streit und Gewalt gibt. Wenn der Vater freie Tage hat, sei er zu Hause und alle müssen „nach seiner Pfeife tanzen“. Die Kinder und auch sie als Frau würden geschlagen, wenn sie etwas falsch machen. Die Mutter wirkt verzweifelt und berichtet, dass sie zum ersten Mal jemanden habe, mit dem sie darüber reden könne.

Es wird weiteres Gespräch mit der Mutter verabredet, diesmal gemeinsam mit einer Psychologin der Erziehungs- und Familienberatungsstelle. Mit Kevin wird parallel Intelligenz- und Schulleistungsdiagnostik durchgeführt. Bei den Tests stellt sich heraus, dass Kevin über eine gut durchschnittliche Intelligenz verfügt. Besonders im mathematischen Verständnis zeigt er Stärken. Seine schulischen Leistungen sind aber aufgrund der vielen Konflikte, Verhaltensprobleme und der mangelnden Mitarbeit im Unterricht nur ausreichend.

Im folgenden Beratungsgespräch freuen sich die Eltern über die positiven Testergebnisse. Mit den Eltern wird das Ziel abgesprochen, Kevins Leistungen in der Schule zu verbessern und am Ende der Grundschulzeit eine Empfehlung für das Gymnasium anzustreben. Dafür sei es aber notwendig, dass Kevin mehr Unterstützung von seinen Eltern erhält und sie täglich zu Hause seine Hausaufgaben kontrollieren. Vor allem brauche die Schule die Unterstützung der Eltern, um Kevins Verhalten in der Schule zu verändern. Dazu soll Kevin sonderpädagogischen Förderbedarf „emotionale und soziale Entwicklung“ erhalten und für zwei Stunden täglich eine temporäre Lerngruppe der Schule besuchen. Ziele sind Aggressionsabbau, Impulskontrolle und Leistungserfolge. Der Vater ist mit diesen Absprachen einverstanden.

Die Psychologin der Erziehungsberatungsstelle lädt die Mutter zu weiteren Einzelgespräch ein, um über ihre Gewalterfahrungen zu sprechen. Die Mutter wirkt sehr hilflos und verzweifelt. Sie habe schon oft überlegt, ihren Mann zu verlassen, wolle das aber den Kindern nicht antun. In den folgenden Beratungsgesprächen wird die Mutter gestärkt, ihrem Mann Grenzen zu setzen und ihn zu konfrontieren: Wenn er nicht aufhört, die Kinder und sie zu schlagen wird sich die Mutter trennen. Damit hat die Mutter Erfolg. Der Versuch, den Vater in die Beratungsgespräche einzubeziehen scheitert aber.

„Die Mutter von Sarah wirkt psychisch krank. Kann sie sich überhaupt um ihr Kind kümmern?“

Die Klassenlehrerin lässt sich von der Kinderschutzbeauftragten des Jugendamtes beraten. Die Sozialpädagogin empfiehlt, die Mutter zu einem gemeinsamen Gespräch in die Schule einzuladen. Die Mutter erscheint verspätet zum Gespräch, wirkt sehr hektisch und unkonzentriert. Sie berichtet, dass sie aufgrund einer Erkrankung ihre Arbeit verloren habe. Manchmal gehe es ihr auch sehr schlecht und sie müsse auch tagsüber im Bett bleiben. Die Sozialpädagogin bietet einen Hausbesuch an, um das Gespräch fortzusetzen. Beim Hausbesuch stellt sich heraus, dass die Mutter schon mehrfach aufgrund einer manisch-depressiven Erkrankung (bipolare affektive Störung) stationär in psychiatrischer Behandlung war. Sarah war dann bei ihrer Oma. Die Mutter berichtet, dass die Versorgung ihres Kindes ihr oft zu viel sei. Vor allem in der depressiven Phase habe sie nicht die Energie, sich um ihre Tochter zu kümmern. In der manischen Phase gäbe es ständig Streit und Konflikte mit Sarah. Die Oma wird in das nächste Gespräch einbezogen. Sie bietet an, dass Sarah dauerhaft bei ihr leben könne, bis sich ihre Tochter wieder stabilisiert habe.

„Der Vater von Pit ist Alkoholiker. Müssen wir das Jugendamt einschalten?“

Pit ist elf Jahre alt und besucht die sechste Klasse. Er ist ein ruhiger und stiller Schüler. Er hat keine Freunde in der Klasse. In den Pausen ist er meistens allein. Er kommt immer regelmäßig und meistens pünktlich zum Unterricht. Die Kleidung wirkt abgetragen. Oft hat Pit Flecken oder Löcher im T-Shirt oder der Hose. Im Winter kommt er manchmal im T-Shirt und einer dünnen Jacke. Ein Pausenbrot hat er nie. Es ist schon mehrmals vorgekommen, dass er heimlich die Pausenbrote von Mitschülern nahm. Herr Müller, der Klassenlehrer, bringt Pit häufig etwas zu essen mit. Für Ausflüge und Wandertage bekommt Pit kein Geld von zu Hause. Herr Müller finanziert das stets aus der Kasse des Fördervereins der Schule.

Pit’s Mutter hat vor zwei Jahren den Vater verlassen, weil er Alkoholiker ist. Sie lebt mittlerweile bei einem anderen Mann, mit dem sie ein gemeinsames Kind hat. Deshalb ist in der neuen Familie für Pit kein Platz und er wohnt beim Vater. Der Vater ist arbeitslos, lebt von Sozialhilfe (ALG II) und ist alkoholabhängig.

Der Klassenlehrer hat schon mehrfach versucht, den Vater in die Schule zu bestellen, leider erfolglos. Er berät sich mit der Sozialarbeiterin der Schule und sie schicken eine Anzeige über Kindeswohlgefährdung an das Jugendamt.

Die zuständige Sozialpädagogin des Jugendamtes macht einen Hausbesuch und stellt katastrophale Verhältnisse fest. Pit hat seit dem Auszug der Mutter versucht, den Haushalt aufrecht zu erhalten. Der Vater ist meistens betrunken und kümmert sich kaum um seinen Sohn. Geld zum Einkaufen bekommt Pit nur am Monatsanfang. Manchmal geht er zu seiner Mutter oder zur Nachbarin, um zu essen.

Die Sozialpädagogin bespricht sich mit ihrer Gruppenleiterin und sie entscheiden, das Kind in Obhut zu nehmen. Beim Familiengericht wird ein Antrag auf Entzug des Sorgerechts des Vaters gestellt. Das Jugendamt wird prüfen, ob Pit bei seiner Mutter leben kann oder eine Fremdunterbringung notwendig ist.

Fazit

Die Fallbeispiele zeigen, dass auffälliges Verhalten von Kindern und Jugendlichen sehr verschiedene Ursachen haben kann. Auch wenn die Symptomatik eine Kindeswohlgefährdung vermuten lässt, ist dies häufig nicht der Fall. Pädagoginnen und Pädagogen sollten sich nicht zu vorschnellen Interventionen verleiten lassen. Bei Verdacht auf eine Kindeswohlgefährdung sollten sie sich zuerst beraten lassen, bevor sie das Jugendamt einschalten. Auch bei einer Gefährdung des Kindeswohles sollte stets versucht werden, durch Beratung und gezielte Hilfen zur Erziehung die Familie zu stabilisieren. Die Herausnahme eines Kindes aus der Familie kann nur die letzte Maßnahme sein. Viel wichtiger sind frühzeitige präventive Maßnahmen und eine gute Kooperation zwischen Schule, Jugendhilfe und anderen Hilfesystemen. Das Thema Schuldistanz wird im folgenden Artikel von Siegfried Arnz bearbeitet.

Klaus Seifried, Am Steinbergpark 59, 13437 Berlin, Deutschland, [email protected]

Literatur

Klaus Seifried, Am Steinbergpark 59, 13437 Berlin, Deutschland,