Skip to main content
Free AccessDiskussionsforum

Fachgruppe Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik. Ein Kulturwandel ist nur möglich mit den Wissenschaftler_innen von morgen

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000566

Fachgruppe Differentielle Psychologie, Persönlichkeitspsychologie und Psychologische Diagnostik

Ein Kulturwandel ist nur möglich mit den Wissenschaftler_innen von morgen

Im Leitartikel „Replikationskrise, p-hacking und Open Science – Eine Umfrage zu fragwürdigen Forschungspraktiken in studentischen Projekten und Impulse für die Lehre“ werden wichtige empirische Befunde präsentiert, die aufzeigen, inwieweit sich die Weiterentwicklung der psychologischen Wissenschaft aufgrund der Replikationskrise in der deutschsprachigen Psychologieausbildung niederschlägt. Auf Basis der Ergebnisse lässt sich positiv hervorheben, dass drei Viertel aller Befragten im Rahmen ihres Studiums mit dem Thema „Replikationskrise“ in Berührung gekommen sind und fast alle Befragten das Thema in Verbindung mit Open Science als wichtig erachten. Weiterhin zeigen die Ergebnisse, dass die Verwendung fragwürdiger Forschungspraktiken im Laufe des Studiums abnehmen. Zusammenfassend dokumentieren die Befunde eindrücklich, dass die Weiterentwicklung der Psychologie nicht nur in der Forschung, sondern auch in der Lehre vorangetrieben und seitens der Dozierenden und Studierenden ernst genommen wird. Gleichzeitig werfen die Studienergebnisse aber auch wichtige Implikationen für die Weiterentwicklung der Lehre im Fach Psychologie auf, von denen wir hier drei aus unserer Sicht besonders relevante herausstellen möchten.

Die Replikationskrise, welche auch das öffentliche Vertrauen in die Psychologie beeinflusst (z. B. Anvari & Lakens, 2018), kann als eine der größten Herausforderungen und gleichzeitig als immense Chance für unsere Disziplin angesehen werden. Dringender Handlungsbedarf ist daher angezeigt, wenn etwa ein Fünftel der Befragten laut eigener Angaben weder im Bachelor- noch im Masterstudium mit dem Thema Replikationskrise in Berührung gekommen ist und ein Drittel der Befragten sich bzgl. des Themas als unzureichend informiert einschätzt. Dabei sollte offenkundig sein, dass das Bewusstsein für fragwürdige Forschungspraktiken und die Umsetzung von Open Science Praktiken kompetenter Anleitung sowie praktischer Übung bedürfen – was spätestens dann deutlich wird, wenn man sich das erste Mal mit den verschiedensten Präregistrierungstemplates (z. B. Mellor et al., 2021) und Methoden der Stichprobenplanungen (z. B. Lakens, 2021) konfrontiert sieht. Da die Anzahl der empirischen Projekte im Studium zwangsläufig begrenzt ist (wie auch im Leitartikel herausgestellt wird), sollte unserer Meinung nach jede Möglichkeit genutzt werden, Studierenden die Umsetzung guter wissenschaftlicher Praxis nahezubringen. Die im Leitartikel dargestellten Ergebnisse zeigen auch auf, dass die methodischen Fächer hier eine Vorreiterrolle einnehmen. So wird es beispielsweise an immer mehr Instituten zum Standard, Präregistrierungen in Experimentalpraktika zu integrieren. Aus unserer Sicht sollten in Zukunft auch die diagnostischen Fächer einen größeren Beitrag in der praktischen Umsetzung von Open Science leisten. So ließen sich beispielsweise in Veranstaltungen zur Test- und Fragebogenkonstruktion empirische Projekte relativ leicht integrieren, in denen ebensolche Praktiken der offenen und transparenten Forschung umgesetzt werden können.

Gleichzeitig sehen wir aber auch die Notwendigkeit, die Replikationskrise und Open Science Praktiken in den nicht-methodischen Fächern stärker zu thematisieren. Die aufgeworfenen Probleme betreffen nämlich die gesamte Psychologie, einschließlich praktisch arbeitender Psycholog_innen, die evidenzbasiert vorgehen sollten und somit auf eine solide wissenschaftliche Grundlage bauen müssen. Wie im Leitartikel angemerkt, wird Lehrbüchern dabei eine besondere Rolle zuteil: Aufgrund des relativ langsamen Entstehungsprozesses hinken Lehrbücher den aktuellen Entwicklungen und Erkenntnissen häufig (und zwangsläufig) hinterher. Dadurch kann es durchaus vorkommen, dass sich Studierende Wissen aneignen, welches aufgrund gescheiterter Replikationen in der Fachliteratur bereits kritisch hinterfragt wird. Open Educational Resources (OER; z. B. Pownall et al., 2021) bieten hier eine erstrebenswerte Alternative zu traditionellen Lehrbüchern – eben nicht nur, weil sie auch frei zugänglich und offen sind, sondern weil sie schneller an aktuelle Befunde angepasst werden und z. T. sogar als dynamische „living documents“ verfasst sein können. Außerdem sollten Dozierende in der Lehre explizit auf Befunde ihres Fachgebiets hinweisen, die der Replikation nicht standhalten konnten, sowie besprechen, warum dies der Fall ist. Dadurch kann einerseits das Bewusstsein der Studierenden für die kritische Auseinandersetzung mit Lehrbuchinhalten gefördert werden; andererseits wird die Sicherheit der Studierenden erhöht, zwischen belastbaren und nicht belastbaren Befunden trennen zu können. Des Weiteren lernen sie so auch etwas über meta-wissenschaftliche Hintergründe (z. B. was Falsifikation bedeutet, warum Wissenschaft kumulativ sein sollte, weshalb Synthese und Integration wichtig sind, was die Rolle von Theorie sein könnte).

Lehre, die Open Science bzw. ihre Werte, Tools (Portale, Programme etc.) und Praktiken zum Inhalt hat, sollte neben Fachwissen und Übungen auch das kritische Denken fördern. Hierzu gehört auch die kritische Auseinandersetzung mit den „neuen“ Praktiken selbst. Einige Praktiken sollten sicherlich zum (minimalen) Standard sauberer Wissenschaft gehören (z. B. die Reproduzierbarkeit von Ergebnissen in einem Artikel gewährleisten und alle Schritte transparent dokumentieren). Andererseits sind viele Praktiken per se noch kein Qualitätskriterium für gute Forschung – sie sind vielleicht notwendig, aber nicht hinreichend. Zum Beispiel kann eine Präregistrierung unzureichend oder schlecht gemacht sein, oder die offen zur Verfügung gestellten Materialien und Daten folgen nicht den FAIR Prinzipien (d. h. sie sind nicht findable, accessible, interoperable und reusable; Wilkinson et al., 2016). Open Science Praktiken können zwar das Vertrauen in Ergebnisse erhöhen (Vazire, 2017), aber sie müssen nicht unbedingt die Qualität von Forschung an sich verbessern. Es ist daher wichtig, dass sie nicht unreflektiert und ritualistisch abgespult werden (Buck, 2021), um – ggf. mit Badges als Signalwirkung – den Anschein zu erwecken, die Forschung sei gut. Ganz im Gegenteil: Open Science Praktiken sollten stets kritisch, umsichtig und sorgfältig implementiert werden, denn nur so können sie optimal wirken. Ferner sollten sie nicht entkoppelt als „nettes“ Addendum gesehen werden, sondern vielmehr vollends integriert werden in den wissenschaftlichen Prozess.

Zusammenfassend können wir dem Ausblick im Leitartikel uneingeschränkt zustimmen: Um den zur Überwindung der Replikationskrise notwendigen Kultur- und Wertewandel zu erreichen, müssen die Studierenden als Wissenschaftler_innen von morgen zwingend mit einbezogen werden. Dazu sollte im Studium ein kritisches Bewusstsein für die Herausforderungen und Chancen der Replikationskrise geschaffen sowie offene und transparente Forschungspraktiken frühzeitig geübt werden. Das große Interesse der Studierenden an der Thematik stellt eine optimale Voraussetzung für den Erfolg dieser Maßnahmen dar. Denn die Überwindung der Krisen und Nutzung der inhärenten Chancen wird nur mit und durch die kommenden Generationen möglich sein – sie tragen bereits gesetzte Weichen weiter, aber sollen auch neue (und bessere) Wege gehen können.

Literatur