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Open AccessOriginalarbeit

Achtsamkeit in der Suchtprävention bei Jugendlichen mit MBID

Literaturübersicht und Machbarkeitsstudie

Published Online:https://doi.org/10.1024/0939-5911/a000735

Abstract

Zusammenfassung.Zielsetzung: Diese Übersichtsarbeit berichtet den aktuellen Wissensstand zu achtsamkeitsbasierten Interventionen für die Prävention des Alkoholkonsums bei Kindern und Jugendlichen mit einer Mild to Borderline Intellectual Disability (MBID). Darüber hinaus werden Ergebnisse zur Machbarkeit derartiger Interventionen im Rahmen eines laufenden Studienprojektes vorgestellt. Ziel ist es, Schlussfolgerungen für die Entwicklung achtsamkeitsbasierter Präventionsprogramme zu ziehen. Methodik: Zielgerichtete Literaturrecherche in Datenbanken (Pubmed, Psycinfo (APA), Google Scholar) und Prüfung achtsamkeitsbasierter Präventionselemente im Rahmen einer Machbarkeitsstudie an insgesamt n = 32 Jugendlichen mit MBID. Ergebnisse: Die Literaturrecherche ergab nur wenige empirische Hinweise zur Wirkung und Durchführung von Achtsamkeit bei Individuen mit MBID. Die Machbarkeitsstudie zeigt, dass achtsamkeitsbasierte Übungen bei Jugendlichen mit MBID durchführbar sind. Auch als herausfordernd bewertete achtsamkeitsbasierte Elemente, wie formelle Meditationen, sind praktikabel, wenn sie in der Länge adjustiert und vorteilhafterweise mit sprachlichen Bildern unterstützt werden. Schlussfolgerungen: Die Studienlage zu präventiven achtsamkeitsbasierten Interventionen bei Individuen mit MBID ist bisher unzureichend. Ergebnisse der Machbarkeitsstudie deuten darauf hin, dass achtsamkeitsbasierte Interventionen in dieser Zielgruppe durchführbar und vielversprechend sind.

Mindfulness-Based Prevention of Addiction for Adolescent with MBID - Literature Review and Feasibility Study

Abstract.Objective: This review reports on the current state of mindfulness-based interventions to prevent alcohol use in children and adolescents with Mild to Borderline Intellectual Disability (MBID). Preliminary results of a feasibility study as part of an ongoing study on a mindfulness-based intervention for the prevention of alcohol use are reported. The aim is to draw conclusions for the development of mindfulness-based prevention programs. Methods: Focused literature search of databases (Pubmed, Psycinfo (APA), Google Scholar) and, as part of the feasibility study, assessment of mindfulness-based prevention elements on a total of n = 32 adolescents with MBID. Results: The literature revealed limited empirical evidence on the effectiveness and implementation of mindfulness in individuals with MBID. The feasibility study shows that mindfulness-based exercises can be carried out with adolescents affected by MBID. Even mindfulness-based elements, that are considered as challenging, such as formal meditations, are also feasible when adjusted in length and supported by linguistic imagery. Conclusions: The current evidence on preventive mindfulness-based interventions for individuals with MBID is insufficient. Results from our own feasibility study suggest that mindfulness-based interventions are viable and promising for this target group.

Achtsamkeitsbasierte Prävention von Alkohol- und Tabakkonsum bei männlichen Jugendlichen mit einer Lernbehinderung

Zusammenfassung des Teilprojekts 5 im IMAC-Mind Verbund: Nach eigenen Ergebnissen haben männliche Jugendliche mit einer Lernbehinderung (mild to borderline disability, MBID) ein erhöhtes Risiko, Alkohol auf riskante Weise zu konsumieren, wenn sie einmal mit dem Konsum begonnen haben. Verglichen mit Mädchen dieser Zielgruppe berichten sie häufiger Trunkenheitserlebnisse und Konflikte mit dem Gesetz. Achtsamkeitsbasierte Übungen stellen einen vielversprechenden präventiven Ansatz dar, sind jedoch nicht auf Machbarkeit bei Jugendlichen mit MBID für Alkohol untersucht worden. Das Projekt verfolgt das Ziel, mittels achtsamkeitsbasierter Übungen in der Übergangsphase zwischen dem Erstkonsum und der Eskalation letztere möglichst zu verzögern.

Durchgeführt wird eine zweiphasige Machbarkeitsstudie, die im ersten Teil (Feasibility) mittels adaptiver Trials achtsamkeitsbasierte Präventionsmaßnahmen für Jugendliche mit MBID erarbeiten soll. Die Übungen zielen auf eine Verbesserung kognitiv-affektiver Verhaltensregulation und sollen im Feld (Ambulanz, Schule, Einrichtungen der Jugendhilfe) mit einem personalisierten Ansatz durchführbar sein. In der zweiten Phase (Proof of Concept) werden die Übungen auf Wirksamkeit geprüft, indem in einem randomisiert-kontrollierten Design eine Interventionsgruppe gegen eine aktive Kontrollbedingung mit n=41 je Arm getestet wird.

Primäre abhängige Variable ist die Dauer zwischen Training und Trunkenheitserlebnissen während der letzten Woche, gemessen über app-basierte wöchentliche Rückmeldungen für einen Nachbefragungszeitraum von sechs Monaten. Sollte es gelingen, via achtsamkeitsbasierter Übungen nicht nur Emotions- und Verhaltensregulationen, sondern auch Konsummuster zu ändern, hätte dies weitreichende Implikationen für die Forschung zur Drogenprävention bei Kindern und Jugendlichen mit MBID. Achtsamkeitsbasierte Ansätze ließen sich dann auch in dieser Zielgruppe zur Alkoholprävention empfehlen und die Durchführung klinischer Studien erschiene erfolgversprechend.

Institution: Universität Rostock, Universitätsmedizin, Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie

Einführung

Bereits die „kognitive Wende“ der Psychotherapie warf die Frage auf, inwieweit Menschen von Interventionen profitieren können, die wesentlich auf logischen, semantischen oder wissensbasierten Prozessen beruhen (Hayes, 2004). Dieses „Verstand-Herz“ Problem wird möglicherweise noch vergrößert, wenn Menschen auf Grund einer kognitiven Einschränkung schlechtere Zugänge zu logik-basierten Interventionen haben (Patterson, Williams & Jones, 2019). Die „dritte Welle“ der Psychotherapie, die nach Hayes (2004) stärker auf das Erleben gerichtet ist und achtsamkeitsorientierte Prozesse in die kognitive Psychotherapie integriert, bezog sich auch auf Individuen mit kognitiven Einschränkungen. Für diese Zielgruppe liegen aus dem vergangenen Jahrzehnt mehrere Reviews zum Thema vor (Ashworth, Mooney & Tully, 2017; Chapman & Mitchell, 2013; Patterson et al., 2019; Singh, 2020). Keine dieser Übersichtsarbeiten richtete sich explizit auf Kinder und Jugendliche mit Substanzgebrauch.

Substanzgebrauch bei Individuen mit kognitiven Einschränkungen geht mit einem erhöhten Risiko einher, gesundheitsschädigend zu konsumieren (Didden, VanderNagel, Delforterie & van Duijvenbode, 2020; Reis, Wetzel & Häßler, 2017), weshalb Präventionsinstrumente benötigt werden, die auf diese Zielgruppe zugeschnitten sind (Didden et al., 2020). Die wenigen evaluierten Ansätze und Programme (z. B. Take it personal [Schijven, VanDerNagel, Otten, Lammes & Poelen, 2021]) setzen jedoch eher noch auf Techniken der „kognitiven Wende“ und sprechen Konsum- und Verhaltensweisen weitestgehend verhaltenstherapeutisch und/oder psychoedukativ an. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Resultate einer Literaturanalyse berichtet und anschließend die Ergebnisse der eigenen Machbarkeitsstudie referiert. Wesentliches Anliegen des Beitrages ist es, eine systematische Grundlage zur Ableitung von Elementen der „dritten Welle“ in die Alkohol-Prävention bei Individuen mit MBID (70<IQ<85) einzuführen. Die hier vorgestellte Übersicht zum vorhandenen Wissen hinsichtlich des Einsatzes achtsamkeitsbasierter Interventionen verfolgte diese Ziele: 1) Schaffung einer narrativen Übersicht von Studien zur präventiven oder therapeutischen Anwendung achtsamkeitsbasierter Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit problematischem Substanzkonsum, insbesondere Alkohol. 2) Ableitung von Richtlinien für die Erarbeitung einer achtsamkeitsbasierten verhaltenspräventiven Intervention für die besonders gefährdete Zielgruppe von Jungen mit MBID (Didden et al., 2020; Reis et al., 2017).

Literaturrecherche

Methodik

Die Literatursuche wurde im April 2021 durchgeführt. Titel und Abstracts der Datenbanken Pubmed, PsychInfo (APA) und Google Scholar wurden nach dem kombinierten Suchterm „intellectual disability“ OR „learning disability“ AND „mindfulnes“ durchsucht und ergaben 103 Treffer. Nach Exklusion von Doubletten und Arbeiten mit anderem Bezug (siehe Abbildung 1) ergaben sich insgesamt 58 Arbeiten, von denen sich allerdings keine explizit mit Alkoholprävention bei Kindern und Jugendlichen beschäftigte. Daher wurden auch Programme einbezogen, die Stichproben von Erwachsenen einschlossen und sich mit einem breiteren Spektrum problematischer Verhaltensweisen befassten. Die Suchergebnisse wurden dementsprechend nach Schwerpunkt und Altersgruppe kategorisiert. Eine Begrenzung auf Studien mit hoher methodischer Qualität (etwa randomisiert-kontrollierte Studien) wurde aufgrund der geringen Anzahl an relevanten Studien nicht vorgenommen.

Abbildung 1 Flussdiagramm der Literaturrecherche zum Thema Mindfulness und Disability.

Unter den identifizierten Studien gab es nur fünf RCT-Studien, von denen sich keine auf Alkoholgebrauch und drei auf Jüngere bezogen. In einer RCT-Studie mit 20 Grundschülerinnen und Schülern konnten positive Effekte für Lese- und Schreibfähigkeiten, sowie eine Verringerung von Ängstlichkeit gezeigt werden (Keller, Ruthruff & Keller, 2019). Bei 23 Grundschulkindern mit Intelligenzminderung wurden Verbesserungen des psychologischen Grundbedürfnisses nach Kompetenz beobachtet (Malboeuf-Hurtubise, Taylor & Mageau, 2019) und auch Gedächtnisleistungen konnten gesteigert werden (BadriGargari, Nemati & KhaniSalavat, 2020). Nur drei case-control-Studien haben zwei- oder einarmige Designs ohne Randomisierung und berichten bei Jugendlichen schwach positive Effekte (η2 = 0.25) für „oppositional defiant behavior“ (Haydicky, Wiener, Badali, Milligan & Ducharme, 2012) und eine signifikant verminderte Ängstlichkeit (Beauchemin, Hutchins & Patterson, 2008), aber keine Effekte für Selbstwirksamkeit (Bishara, 2021). Insgesamt 11 Übersichtsarbeiten, vor allem zur Machbarkeit und konzeptuellen Plausibilität achtsamkeitsbasierter Interventionen bei (überwiegend erwachsenen) Individuen mit eingeschränkten kognitiven Fähigkeiten, weisen auf eine sehr vorläufige Evidenz und einen Bedarf an aussagekräftigeren Studien hin. Das systematische Review von Patterson et al. (2019) vergibt das Prädikat „adequate“ nur für eine Studie, die achtsamkeitsbasierte Elemente prüft, und stuft alle anderen Studien - insbesondere aufgrund zu kleiner Stichproben und anderer methodischer Mängel - als „weak“ ein. Derzeit finden sich unter den gefundenen Studien überwiegend Pilot- und Machbarkeitsstudien (n = 15), Case Reports und qualitative Untersuchungen (n = 10) sowie ausgewiesene Studienprotokolle (n = 2).

Die Ergebnisse der Recherche werden im Folgenden geordnet nach inhaltlichen Schwerpunkten berichtet, beginnend mit den Befunden zum Substanzkonsum, gefolgt von Emotions- und Verhaltensregulation, der psychischen Gesundheit sowie dem Schwerpunkt Angst und Depression (siehe Abbildung 1).

Ergebnisse

Alle Arbeiten zum Substanzgebrauch beziehen sich auf Entwöhnungsprogramme bei Rauchern, darunter auch die nach Patterson et al. (2019) bisher hochwertigste Achtsamkeitsstudie von Singh et al. (2014). In dieser RCT-Studie an 51 Erwachsenen wurden alle achtsamkeitsbasierten Übungen in einer Einzelsituation ausgeführt, was sich bei Individuen mit einer leichten Intelligenzminderung als machbar erwies. Die Interventionseffekte wurden über einen sehr langen Zeitraum wöchentlich geprüft (1 Jahr). Die Interventionen betrafen lange Zeiträume (36 Wochen) und wurden stark individualisiert. Insbesondere wurden Trainings an die jeweilige Stufe der Veränderungsbereitschaft adaptiert („tailoring“) und von Woche zu Woche gleitende Ziele verwendet. Abhängige Variable war die Zahl der täglich gerauchten Zigaretten, die sich auch in weniger hochwertigen Studien aus dieser Arbeitsgruppe als brauchbarer Indikator erwiesen hatte. Alle weiteren aufgefundenen Studien stammen entweder ebenfalls aus der Gruppe um Singh oder sind Reviews, die Hinweise auf dessen Arbeiten geben.

Von den zehn aufgefundenen Arbeiten, die eine Verbesserung der Emotions- oder Verhaltensregulation zum Ziel haben, beschreibt der überwiegende Teil (n = 6, davon ein Review) Studien an Kindern und Adoleszenten. Abhängige Variablen waren Symptome einer hyperkinetischen Störung, Ärger- und andere Emotionsregulationen oder Impulsivität. Der Bedeutung derartiger Regulationen für die Suchtgenese wurde im IMAC-Schwerpunkt durch die verbindliche Einführung computergestützter experimenteller Paradigmen dieser Konstrukte Rechnung getragen (Nees et al., 2012). Die Studien dieser Gruppe variieren erheblich in der Stichprobengröße (von n = 14 bis n = 271) und decken die gesamte Altersspanne von sechs Jahren bzw. erster Klasse bis 18 Jahren ab. Insgesamt wurden in den vorliegenden Studien mindestens 400 Kinder und Jugendliche weltweit untersucht. Überwiegend waren die Teilnehmenden lernbehindert oder förderbeschult, jedoch auch bei schwerer eingeschränkten Kindern wurden Reduktionen verhaltenspsychologischer Probleme erzielt (Malboeuf-Hurtubise, Lacourse, Taylor, Joussemet & Ben Amor, 2017). Die Qualität der Studien variierte erheblich. In der anspruchsvollsten Studie von Gabriely, Tarrasch, Velicki und Ovadia-Blechman (2020) wurden an Erwachsenen zwei Interventionen, eine achtsamkeitsbasierte und eine digital angeleitete Atemübung, gegen eine Kontrollgruppe in einem randomisierten Wartegruppen-Design getestet. Die Ergebnisse an 73 jungen Erwachsenen mit ADHS und/oder Lernbehinderung sprechen für eine Überlegenheit der achtsamkeitsbasierten Intervention, was die Verbesserung hyperkinetischer Symptome, der Aufmerksamkeit und der gemessenen Achtsamkeit betrifft. Für die Reduktion von Stress, nachgewiesen mittels apparativer Messungen (Hautleitwiderstand), waren beide Interventionen gleich gut geeignet. Die sechs Studien, die sich explizit nur auf Kinder und Jugendliche beziehen, reichen von qualitativen Analysen zu Achtsamkeitsinterventionen, die mit Kampfkunst (Martial Arts) kombiniert wurden (Milligan, Badali & Spiroiu, 2015), über die Rolle elterlicher Achtsamkeit (Chan & Lam, 2017) bis zu Mehr-Gruppen-Studien (Haydicky et al., 2012), die auch im besonders präparierten Schulkontext (eigene Ruheräume) Effekte erzielten, wenn auch schwächere (Cevasco, 2017).

Insgesamt wurden sieben Arbeiten aufgefunden, die sich mit der Verbesserung der psychischen Gesundheit oder ähnlichen Konstrukten durch Achtsamkeit befassen. Vier davon beschäftigen sich mit Kindern und Jugendlichen, wovon zwei dieselbe Studie (Pilot- und RCT-Phase) betreffen und die dritte ein Review ist. Die Studie mit zwei Veröffentlichungen beschreibt eine Gruppenintervention bei kanadischen Grundschulkindern mit sonderpädagogischem Förderbedarf (Malboeuf-Hurtubise, Joussemet, Taylor & Lacourse, 2018; Malboeuf-Hurtubise et al., 2019). Ziel der Gruppenintervention war es, durch Achtsamkeitstraining eine kompetentere Befriedigung psychologischer Grundbedürfnisse („basic psychological need satisfaction“) und eine Verbesserung der psychischen Gesundheit zu erreichen. Während die Pilot-Studie signifikante Verbesserungen hinsichtlich dieser Konstrukte erbrachte, konnten die positiven Befunde in der RCT Studie nicht bestätigt werden. Dies wird durch die Autorinnen und Autoren auf die Kontextabhängigkeit des Wohlbefindens zurückgeführt. Da Kinder vor allem im Vergleich zu Erwachsenen weniger Einfluss auf ihre Situation in der Schule oder zuhause haben, so schlussfolgern die Autoren, dass Fortbildungen der zuständigen Lehrkräfte in Achtsamkeit für ein besseres Wohlbefinden der Schulkinder erforderlich seien. Für unsere Studie vermerken wir eine Schwäche von schulzentrierten Gruppeninterventionen, die ohne Bezugspersonen ablaufen. Durch die Unterstützung bei den Lehrkräften und in Familien fiel es den Jugendlichen leichter, das Erlernte auch in ihren Alltag zu integrieren und somit mehr von den positiven Effekten auf das Sozialverhalten und Wohlbefinden zu profitieren. Bereits Heifetz und Dyson (2017) sowie Crnic, Neece, McIntyre, Blacher und Baker (2017), skizzieren Vorteile durch den Einbezug von Betreuungspersonen bei der Schulung von Achtsamkeit bei Kindern- und Jugendlichen mit intellektuellen und entwicklungsbezogenen Einschränkungen. Zu dem Schluss, dass Teilnehmende mit eingeschränkten intellektuellen Fähigkeiten intensive Unterstützung beim Erlernen von Achtsamkeit benötigen, kamen McMahon, Cox und Miller (2020) in einer Studie zum Einsatz von individuellem Neurofeedback bei jungen Erwachsenen (n=5). Vom Neurofeedback konnten nur jene drei Teilnehmenden profitieren, die älter oder weniger eingeschränkt waren. Drei andere Arbeiten, die jedoch keine Kontrollgruppen enthielten, befassten sich mit Gruppeninterventionen (Burns & Waite, 2019; Heifetz & Dyson, 2017; Mahoney-Davies, Dixon, Tynan & Mann, 2017). Insgesamt wurden Gruppeninterventionen als sowohl ressourcensparend als auch hilfreich für mehr soziale Interaktionen beurteilt; die Ergebnisse hinsichtlich der psychischen Gesundheit sind jedoch heterogen. Burns und Waite (2019) erkannten zwar einen positiven Effekt auf die psychische Gesundheit der Teilnehmenden, konnten dabei jedoch nicht differenzieren, ob er durch Kunsttherapie oder Achtsamkeitstraining ausgelöst wurde, die in allen Sitzungen vermischt wurden. Mahoney-Davies et al. (2017) wiederum stellten zwar einen vermehrten Einsatz von Achtsamkeit im Alltag als Ergebnis fest, allerdings keine Verbesserung von Selbstbewusstsein und Wohlbefinden durch die Intervention. Sie führen das unter anderem auf zu komplexe Inhalte und eine zu große Menge an Informationen zurück.

Vier Arbeiten mit insgesamt 59 Teilnehmenden verfolgten den Ansatz, mittels eines Achtsamkeitstrainings die Belastung durch Angst und Depression zu verringern. Nur eine Studie davon betrifft Heranwachsende. In dieser Arbeit (Beauchemin et al., 2008) wurden 34 Privatschülerinnen und Schülern Achtsamkeitspraktiken in einem 5-wöchigen Programm beigebracht, wodurch Angst reduziert werden konnte. Jones und Finch (2020) konnten in einem Gruppentraining ebenfalls sowohl Angst als auch Wut durch Achtsamkeit reduzieren. Aufgrund der MBID-Diagnose traten Schwierigkeiten auf, die achtsamkeitsbasierten Techniken vollständig zu verstehen, was insbesondere das Verständnis abstrakter Konzepte betraf. Sie stellten allerdings fest, dass die Teilnehmenden auch ohne die vollständige Anwendung der Theorie auf die Praxis Achtsamkeitserfahrungen erlebten und sich auf die praktischen Übungen einließen. Dieser Befund unterstreicht die Anwendbarkeit bei Personen mit Lernbehinderung. Der Zusammenhang mit dem Ausmaß der individuellen kognitiven Einschränkungen wurde hingegen auch von Idusohan-Moizer, Sawicka, Dendle und Albany (2015) beschrieben. In einer Fallstudie an einer 18-jährigen mit stärkeren Einschränkungen beschrieben Brown und Hooper (2009) die Notwendigkeit, die Sitzungen individuell anzupassen, um positive Wirkungen zu erzielen. Ähnlich wie die Studien zur psychischen Gesundheit kamen die überwiegend an Erwachsenen durchgeführten Studien zu Angst und Depression zu dem Schluss, dass der Einschluss von Betreuungspersonen das Ergebnis verbessert.

Zusammenfassung

Der Stand der Literatur zu achtsamkeitsbasierten Ansätzen zur Prävention von Substanzkonsum und psychischen Störungen bei Individuen mit MBID lässt sich wie folgt zusammenfassen:

  • Die effektiven Studien zum Substanzgebrauch beschreiben eher Einzel- als Gruppeninterventionen. Letztere werden eher für andere abhängige Variablen beschrieben, erbringen aber überwiegend geringe Ergebnisse.
  • Die Effekte können sich mitunter erst spät in langen Nachbearbeitungszeiträumen einstellen, ein Phänomen, das in der Präventionsforschung wohlbekannt ist (Experten- und Expertinnengruppe „Kölner Klausurwoche“, 2014).
  • Achtsamkeitsbasierte Gruppeninterventionen sollten vorteilhafterweise mit ähnlich gelagerten Interventionen bei Angehörigen verbunden werden, was insbesondere den Schulkontext betrifft. Für den Schulkontext werden besonders präparierte (Ruhe-) Räume empfohlen.
  • Die Intelligenzminderung der Teilnehmenden variiert erheblich, wobei die Anwendung achtsamkeitsbasierter Techniken umso schwerer fällt, je ausgeprägter die Minderung ist.
  • Inwieweit ein Verständnis für das Konzept der Achtsamkeit selbst erforderlich für eine erfolgreiche Intervention ist, bleibt unklar. Je ausgeprägter die Intelligenzminderung zu sein scheint, desto schwieriger scheint die Anwendbarkeit abstrakter Konzepte auf die Achtsamkeitspraxis.
  • Die Zeiträume der berichteten Interventionen variieren erheblich, sowohl Kurzinterventionen als auch Interventionen über längere Zeiträume können signifikante und vergleichbare Effekte erzielen.
  • Nicht selten wurden achtsamkeitsbasierte Elemente mit anderen vermischt (Sport, Kunsttherapie), was die Identifikation spezifischer Effekte durch achtsamkeitsbasierte Interventionskomponenten des Achtsamkeitseffektes zwar erschwert, die Anwendung im Kinder- und Jugendbereich aber möglicherweise erleichtert.

Machbarkeitsstudie

Die Ergebnisse eigener Vorarbeiten und Erkenntnisse aus Literaturanalysen waren richtungsweisend für die Gestaltung des Studiendesigns der zweiten Projektphase. Die hier vorliegende Machbarkeitsstudie repräsentiert die erste Phase im Rahmen des adaptiven Studiendesigns des Teilprojektes 5 im IMAC-Mind Verbund (siehe Kasten). Wesentliches Ziel dieser Studienphase war es, eine achtsamkeitsbasierte Präventionsmaßnahme von Alkohol- und Tabakkonsum bei männlichen Jugendlichen mit MBID zu entwickeln und zunächst deren Machbarkeit zu untersuchen (Feasibility). Bei vorliegender Machbarkeit sollte das Projekt in eine Proof of Concept-Phase (PoC) überführt werden, deren Ziel es sein sollte, Wirksamkeit und Nutzen der neu entwickelten achtsamkeitsbasierten Prävention im Vergleich zu einer aktiven Kontrollbedingung ohne Achtsamkeit innerhalb einer sechsmonatigen Nachbeobachtungszeit zu untersuchen (ausführliches Studienprotokoll hierzu bei Waedel, Daubmann, Zapf & Reis, 2020). Mögliche Änderungen des Studienprotokolls als Ergebnisse der Machbarkeitsphase waren ausdrücklich Teil des Studienantrags beim Bundesministerium für Bildung und Forschung. Für das Studienvorhaben liegt ein positives Votum der Ethikkommission der Medizinischen Fakultät Rostock vom 08.01.2018 vor (erstes und zweites Amendment vom 12.05.2020 und 06.11.2020). Die Studie wurde am 19.03.2018 im Deutschen Register für klinische Studien registriert (DRKS00014042).

Methodik

Stichprobe und Design

Zum einen wurden Patienten der Kinder-und Jugendpsychiatrischen Universitätsklinik Rostock um Teilnahme gebeten, zum zweiten wurde eine lokale Förderschule als kooperierende Einrichtung gewonnen (siehe Abbildung 2). Insgesamt wurden für 32 Teilnehmer vollständige Einverständniserklärungen eingeholt, von denen etwa ein Drittel aus verschiedenen Gründen (z. B. wegen mangelnder Erreichbarkeit) für die Analyse verloren ging, womit für 23 Kinder und Jugendliche auswertbare Daten vorliegen. Diese Jungen waren zum Zeitpunkt der Teilnahme zwischen 10 und 17 Jahre alt (MW = 14, 66 Jahre, SD=1.53).

Abbildung 2 Rekrutierungsfluss Feasibility-Phase von IMAC-Mind Rostock.

Einschlusskriterien waren das männliche Geschlecht und Besuch einer Förderschule (mit Schwerpunkt „Lernen“) und/oder das Vorliegen von MBID (70 < IQ < 85). Ausschlusskriterien betrafen akut behandlungsbedürftige psychiatrische Störungen, das Vorliegen einer Diagnose im Autismus-Spektrum und größere kognitive Einschränkungen (IQ < 70). Jeder Teilnehmer absolvierte möglichst drei aufeinanderfolgende Sitzungen, in denen verschiedene Komponenten der Achtsamkeitsintervention, sowie suchtpräventive Anwendungen erprobt wurden. Jede der insgesamt 16 Einzelübungen (eine ausführliche Darstellung der Einzelübungen kann bei der korrespondierenden Autorin angefordert werden) sollte mindestens fünf zufällig gewählten Teilnehmern präsentiert werden, um potentielle Probleme in der Anwendung und Umsetzung der Übungen aufzudecken. Daneben sollten Rekrutierungserfolge und -probleme, die Einsetzbarkeit der im Konsortium einheitlich angewandten Erhebungsinstrumente, die technische Anwendbarkeit digitaler Nachbefragung per App und die Wirksamkeit incentiver Strategien für die Bereitschaft zur Studienteilnahme/ Compliance evaluiert werden. Keines der über die verschiedenen IMAC-Mind-Projekte harmonisierten Erhebungsinstrumente (vgl. Arnaud et al., 2020; Baldus et al., 2018; Lenz et al., 2018; Moesgen, Ise, Dyba & Klein, 2019; Waedel et al., 2020) war für Jungen mit Lernbehinderung validiert, womit erst gezeigt werden musste, ob diese Instrumente im Umfang und in ihren Instruktionen ggf. modifiziert werden müssten (z. B. durch einfache Sprache). Die Länge der individuellen Sitzungen entsprach einer Schulstunde und betrug jeweils 45 Minuten.

Primäres Ziel war die Machbarkeitsprüfung der Achtsamkeitskomponenten in einem explorativen Ansatz. Die Berichterstattung beschränkt sich auf die deskriptive Auswertung der untersuchten Parameter, da inferenzstatistische Analysen weder intendiert noch möglich waren.

Die zu evaluierenden Achtsamkeitskomponenten bauen auf vorhandene (formelle und informelle) Achtsamkeitsübungen aus dem in der Literatur am häufigsten positiv evaluierten Programm Mindfulness Based Stress Reduction (MBSR, Kabat-Zinn, 2013a, 2013b) sowie daraus abgeleiteten Ansätzen auf, die speziell für Kinder und Jugendliche entwickelt wurden, z. B. Learning to Breathe (Broderick, 2013), Stillsitzen wie ein Frosch (Snel, 2013) und schließen Achtsamkeitstrainings und Curricula für Kinder und Jugendliche (z. B. Sofer & Brensilver, 2015) ein. Die aus dem MBSR abgeleiteten formellen Achtsamkeitsübungen umfassen verschiedene geleitete Meditationsformen (u. a. Konzentration auf den Atem, Gedanken beobachten, im Moment bleiben) sowie bewusst geführte Körperwahrnehmung und Bewegungsausführung (Body Scan oder Gehmeditationen). Informelle Achtsamkeitsübungen beziehen sich auf die Übernahme achtsamer Übungen in Situationen des alltäglichen Lebens, etwa beim achtsamen Essen einer Rosine oder eines Schokoladenstücks. Diese Übungen beinhalten Kognitionen (Einfluss von Gedanken, Produzieren von Gedanken), Emotionen (wahrnehmen, einordnen, erforschen) und die Bewältigung von Stress (u. a. Stimmung als sich stetig veränderndes Wetter, Sensibilisierung von Einflussfaktoren via achtsamen Erleben in Rollenspiel und Geschichte in Gedichtform).

Die suchtpräventiven psychoedukativen Programmkomponenten sind von elaborierten Arbeitsmethoden und Empfehlungen für Schulen inspiriert und auf das Einzelsetting abgestimmt worden (siehe Arbeitskreis PIT, 2017). Sie bieten einen persönlichkeitsorientierten und kreativen Ansatz für eine erste Begegnung mit dem Thema „Sucht“. Die ausgewählten Methoden sollen in der Erkennung verschiedener Süchte, Suchtverhalten und deren Abgrenzung zum Normverhalten schulen (z. B. Kartenspiele zur Zuordnung von Verhalten als Sucht und deren Definitionen) sowie eigene Ressourcen und Resilienzfaktoren im Alltag und Stresssituationen stärken (u. a. Erarbeitung freudebringender und bestärkender positiver „auftankender“ Quellen im Leben).

Die zu prüfenden Testverfahren umfassten Verständnis und Dauer experimenteller computergestützer Paradigmen der zentralen neurobehavioralen Interventionstargets (z. B. „Delay Discounting“, „Reward Processing“, „Impulse Control“) die im Rahmen des IMAC-Teilprojekts 2 (siehe Prignitz, Guldner, Nees & IMAC-Mind Konsortium, 2021; Nees et al., 2012) entwickelt wurden. Außerdem wurden der Timeline Followback (TLFB) (Sobell & Sobell, 2000), eine Kalendermethode zum retrospektiven Substanzgebrauch, die Substance Use Risk Profile Scale (SURPS) zur Erfassung intraindividueller Risikofaktoren (Jurk et al., 2015; Woicik, Stewart, Pihl & Conrod, 2009) und die Mindful Attention Awareness Scale- Children (MAAS-C) von Brown, West, Loverich, und Biegel (2011) zur Erfassung von dispositioneller Achtsamkeit geprüft. Die Darstellung hier bezieht sich nur auf einen Ausschnitt; ausführliche Beschreibungen aller untersuchten Parameter werden auf Anfrage zur Verfügung gestellt.

Evaluation

Die Machbarkeit der Programmelemente wurde in siebenstufigen Bewertungsskalen (1=“extrem negativ“ bis 7=“extrem positiv“) non-verbal und mittels intuitiv verständlicher Kunin-Gesichter erfasst (Kunin, 1955). Jede Übung wurde hinsichtlich Verständlichkeit der Instruktion, Ausführbarkeit, Konzentration auf den Atem, Freude an der Übung, Übungslänge und Wiederholungswunsch bewertet. Darüberhinausgehende Auffälligkeiten wurden als Fremdbeobachtung bei Auftreten erhoben.

Zudem wurde sowohl die Compliance als auch die Wirksamkeit der incentiven Strategie erfasst, die im Rekrutierungserfolg münden, dessen Evaluation Rekrutierungszugang und Alkoholkonsum in den letzten 12 Monaten, als potenzielles Inklusionskriterium im PoC, einschließen.

Die Bearbeitungsdauer (in Minuten) und Verständlichkeit der ausgeführten Programmkomponenten wurden auch bei den Fragebögen (MAAS-C, TLFB, SURPS) und für die Soziodemographie (Statistisches Bundesamt, n. d.) erfasst.

Ergebnisse

Bewertung der Übungen

Die Resultate der Ratings aller getesteten Achtsamkeitsübungen (n=16), Fragebögen (n=3) und Suchtpräventionsübungen (n=5) sind in Tabelle 1 veranschaulicht.

Tabelle 1 Übersicht der Teilnehmerratings (Mittelwerte, Standardabweichungen) zu den durchgeführten Achtsamkeitsübungen, Übungen der Suchtprävention und Fragebögen, gemessen mit einer siebenstufigen non-verbalen Skala (Kunin, 1955) von 1 = extrem negativ bis 7 = extrem positiv

Hinsichtlich der Achtsamkeitsübungen erfolgte die Bewertung der Machbarkeit getrennt nach formellen und informellen Achtsamkeitspraktiken. Während beide Übungsformen insgesamt als gut verständlich und durchführbar eingeschätzt wurden, ergaben sich Hinweise, dass die formellen im Vergleich zu den informellen Übungen als herausfordernder bzw. weniger leicht ausführbar (M=5.23 vs. M= 6.18) eingeschätzt wurden, weniger Freude bereiteten (M=5.46 vs. M=6.14) und der Wiederholungswunsch geringer ausgeprägt war (M=5.24 vs. M=6.03). Über alle Übungen hinweg fanden sich keine beobachteten Hinweise auf Reaktanz oder Unverständlichkeit. Instruktionsverständnis und Übungslänge stellten keine Probleme dar, was sich auch in den hohen Werten für Übungslänge und Instruktionsbewertung spiegelt.

Im Mittel bereiteten die suchtpräventiven Übungen (M=6.21) am meisten Freude. Die Bewertung der Achtsamkeitsübungen (M=5.8) liegt ebenfalls im positiven oberen Bereich. Die Bearbeitung der Fragebögen (M=5.61) bereitete vergleichsweise am wenigsten Freude.

Die Bearbeitung der hier in der Zielgruppe intelligenzgeminderter Jugendlicher eingesetzten Fragebögen (MAAS, SURPS und TLFB) wurde zwar von allen Teilnehmern bewältigt, es zeigte sich aber, dass die Dauer der Bearbeitung jeweils deutlich über dem in den Inventaren angegeben Umfang lag, und zum Teil um das Dreifache erhöht war. Zudem variierte die Bearbeitungsdauer beim TLFB aufgrund unterschiedlicher Konsumfrequenzen stark (je nach Konsumhäufigkeit und –menge ergeben sich im TLFB mehr oder weniger Einträge und damit unterschiedliche Bearbeitungszeiten).

Die neurokognitiven experimentellen Paradigmen zur verhaltensnahen Messung von Impulsivität und Belohnungssensitivität wurden nach Berücksichtigung erster Rückmeldungen in ihren Instruktionen hinsichtlich ihrer Verständlichkeit zeitnah modifiziert. Ganz überwiegend wurden die Instruktionen verstanden (11 von 13) und die Aufgaben zielgerecht ausgeführt, ohne dass die Bearbeitung Müdigkeit oder Ablehnung hervorrief. Die Teilnehmer, die eine geringere Verständlichkeit berichteten, erforderten eine intensivere Einführung in die Bearbeitung der neuropsychologischen Aufgaben (etwa extra Testläufe und das Vormachen durch die Studienmitarbeiterin). Die Ratings für die Bearbeitung der neuropsychologischen Testbatterie sind Tabelle 2 zu entnehmen.

Tabelle 2 Häufigkeitsangaben zur Machbarkeit der neurokognitiven Testbatterie

Rekrutierung

Ob und wie Kinder und Jugendliche mit MBID erreicht werden können, die Alkohol und Tabak konsumiert haben, und inwieweit sich diese Zielgruppe für eine Gesundheitsstudie motivieren lässt, sollte anhand des Rekrutierungszulaufs analysiert werden. Die „Alkohol-Affinität“ der Studie musste bei der Werbung unerwähnt bleiben, da die quasi-monetär inzentierte Studie keinen Alkoholkonsum motivieren sollte. Gleichzeitig sollte die Erhebung des Einschlusskriteriums „Konsumerfahrung“ (der Einschluss für die geplante PoC-Studienphase erfordert Alkoholkonsumerfahrung in den vergangenen 12 Monaten) nicht dazu führen, dass Teilnehmende gegen ihren Willen von ihren Eltern als Konsumerfahrene erkennbar werden. Es zeigte sich, dass etwa 60 % aller gewonnenen Probanden bisher mindestens einmal im Leben Alkohol und/oder Tabakprodukte probiert hatten. Das für die geplante PoC-Phase relevante Kriterium „Alkoholkonsum im vergangenen Jahr“ berichtete jedoch nur ein Viertel der Teilnehmer (n = 6, entspricht 26 %). Die Wahrscheinlichkeit zur Erfüllung des Inklusionskriteriums stieg mit dem Alter bei Einschluss (Abbildung 3). Das Durchschnittsalter bei erstmaligen Alkoholkonsum lag bei 13.5 Jahren, der erstmalige Konsum von Zigaretten erfolgte durchschnittlich im Alter von 11.6 Jahren. Die angegebenen Einstiegsalter rangierten bei beiden Substanzen zwischen 10 und 17 Jahren.

Abbildung 3 Durchschnittsalter der Probanden bei Erstkontakt und positiver 1-Jahresprävalenz (TLFB), nach Substanzen getrennt.

Haltequote

Die Anzahl absolvierter Sitzungen pro Jugendlichen wurde als Indikator für die Aufrechterhaltung der Teilnahmebereitschaft und Wirksamkeit der incentiven Strategie analysiert. 87 % der Teilnehmer (n = 19) nahmen an den angestrebten drei Sitzungen teil. Die drei Jugendlichen, die dieses Ziel nicht erreichten, hatten strukturelle Gründe für ihre Nicht-Teilnahme, etwa durch veränderte Schulzeiten, Klassenfahrten, Schulpraktika und Ferien. Es gab keine Studienabbrüche, die auf den Studieninhalt zurückzuführen waren.

Diskussion

Bereits die Literaturrecherche für den Studienantrag hatte 2015 ergeben, dass es wenig bis keine Evidenz zur präventiven Wirkung achtsamkeitsbasierter Interventionen bei Kindern und Jugendlichen mit einer Intelligenzminderung gab. Aus diesem Grund wurde eine Studie beantragt, die deutlich in eine anderthalbjährige Machbarkeitsphase und eine anschließende Evaluationsphase getrennt war. Im weiteren Verlauf stellte sich dieses Vorgehen als sinnvoll heraus, da nach den Ergebnissen zur Machbarkeit das Studienprotokoll (siehe Waedel et al, 2020) an die Gegebenheiten des Feldes angepasst werden musste.

Bereits mit niedrigen Probandenzahlen ergaben sich Hinweise für die praktische Durchführung, was Dauer der Messungen und Übungen, Rekrutierungswege und Incentierung anging. Insgesamt konnten wir in der 2021 wiederholten Recherche und der Machbarkeitsphase Belege erbringen, dass achtsamkeitsbasierte Übungen in einem individuellen Setting mit Jungen mit MBID durchführbar sind und von dieser Zielgruppe auch angenommen werden. Der Schwäche von schulzentrierten Gruppeninterventionen, die ohne Bezugspersonen ablaufen, begegneten wir mit einer Anwendung in einem persönlichen Einzelsetting. Im Einklang mit der Recherche wurden allzu komplexe und zu informationsüberlagernde Inhalte vermieden. In der Machbarkeitsstudie zeigte sich, dass informell praxisbezogene Übungen zwar etwas besser angenommen werden, formelle Übungen aber durchführbar sind, wenn sie an die Klientel angepasst werden. Wahrscheinlich spielt das Erleben von Langeweile und Konzentrationsfähigkeit bei minimaler Zerstreuung und absoluter Fokussierung besonders in dieser Klientel eine wichtige Rolle, da nicht selten eine Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung mit MBID einhergeht. Formelle Achtsamkeitsübungen ließen sich praktizieren, wenn diese mit kind- und jugendgerechten Curricula (z. B. Snel, 2013) begleitet wurden, die Inhalte über einfach zugängliche sprachliche Bilder (Stimmung als Wetter, Gedanken als Wolken) transportierten.

Wenige Hinweise ergaben sich in der Literaturrecherche hinsichtlich relevanter Umsetzungsbereiche, wie etwa der Erreichbarkeit der Zielgruppe. Dies stellte sich in der Machbarkeitsphase als das größere Problem dar. Es zeigte sich, dass Konsumerfahrung für das letzte Jahr, entgegen aktueller Prävalenzstatistiken (Moor, Hinrichs, Heilmann & Richter, 2020; Orth & Merkel, 2019) in der Stichprobe kaum gegeben war. Wie aus eigenen Untersuchungen hervorging, sind besonders Jungen mit MBID einem höheren Risiko ausgesetzt, Alkohol gesundheitsschädigend zu konsumieren, sofern sie einmal mit dem Konsum begonnen haben (Reis et al., 2017). An dieser Schnittstelle soll das präventive IMAC-Mind-Projekt (Teilprojekt 5, siehe Kasten) ansetzen und zur Teilnahme motivieren, da diese Jugendlichen eigentlich einen erheblichen Teil an den Förderschulen ausmachen (Reis et al., 2017). Zwar erwiesen sich Elternabende und Studienvorstellungen auf Lehrerkonferenzen als aussichtsreiche Rekrutierungswege, aber dennoch waren eher abstinente Kinder und Jugendliche bereit, teilzunehmen. Um die Effektivität des Präventionsangebotes in einem randomisiert-kontrollierten Design evaluieren zu können, gilt es daher, die Rekrutierungswege zu erweitern. Zur Steigerung der Rekrutierungseffektivität empfiehlt es sich, das Rekrutierungsalter im Schulsetting, bei dem der indizierte Präventionsbedarf vorher nicht abgefragt werden kann, von 11 auf 13 Jahren heraufzusetzen. Der Einbezug klinischer Settings sowie von Berufsschulen scheinen geeignet, die Trefferquote für den Studieneinschluss zu erhöhen.

Die Incentierung in Form von Gutscheinen eines großen Elektronikfachmarktes erwies sich bei allen Teilnehmern als besonders geeignet, da das Sammeln von Gutscheinen die Compliance verbesserte.

Die vorliegende Machbarkeitsstudie zeigte, dass für die Bearbeitung von Fragebögen in der Zielgruppe deutlich mehr Zeit eingeplant werden muss als in normintelligenten Stichproben. Im Testmanual der deutschen Version der MAAS (Michalak, Heidenreich, Ströhle & Nachtigall, 2008) wird eine durchschnittliche Bearbeitungszeit von drei Minuten angegeben. Gemessen an dieser Kenngröße zeigte sich eine im Mittel dreifach erhöhte Bearbeitungsdauer. Ähnlich verhält es sich mit der Bearbeitung der SURPS, für die eine im Vergleich zu bevölkerungsrepräsentativen Stichproben verdoppelte durchschnittliche Bearbeitungszeit gemessen wurde.

Die in der PoC-Studienphase geplante (Waedel et al., 2020) und auch im IMAC-Mind Konsortium eingesetzte umfangreiche Mess- und Testbatterie kann in Studien mit intelligenzgeminderten Jungen nicht im üblichen Zeitrahmen eingesetzt werden. Um die Gesamtbelastung der Studienteilnehmer zu reduzieren, wurden die Messungen (Prä, Post) auf jeweils zwei Sitzungen verteilt und die Anzahl der Interventionssitzungen von acht auf sechs reduziert. Die Messung der experimentellen neuropsychologischen Paradigmen zur Impulsivität und Belohnungssensitivität (Nees et al., 2012) ist einsetzbar, wenn die Instruktionen klar und durch die Verwendung einfacher Sprache verständlich gemacht werden und die Tasks durch die Untersucher vorgemacht werden. Eine Plausibilitätsprüfung der neuropsychologischen Daten aus der vorliegenden Machbarkeitsstudie steht derzeit noch aus.

Der aus der Präventionsforschung bekannte und im Rahmen der Recherche beschriebene Vorteil einer längeren Nachverfolgungszeit konnte in der Stichprobe durch die Anwendung fragebogenspezifischer digitaler Softwarelösungen realisiert werden. Der Einsatz eigener mobiler Endgeräte für diese Art der follow-up Erhebungen wurde in der Stichprobe positiv aufgenommen. Allerdings sind gerätespezifische Aspekte z. B. hinsichtlich der Kompatibilität der hier angewandten App zur Nacherfassung (movisensXS) und dem jeweiligen Betriebssystem der mobilen Endgeräte zu berücksichtigen, bzw. zu prüfen, ob für den Zeitraum der Studiendurchführung Geräte zur Verfügung gestellt werden müssen.

Das gesamte Studienprojekt wurde im Feld von allen Stakeholdern sehr offen und interessiert angenommen. Bei den Jugendlichen selbst gab es vorher kaum Berührungspunkte mit dem Thema Achtsamkeit, da entsprechende Angebote im Grunde vollständig fehlten.

Limitationen

Im Rahmen der Machbarkeitsstudie handelte es sich um eine kleine Stichprobe aus dessen N sich keine Allgemeingültigkeit hinsichtlich der abgeleiteten Befunde ableiten lassen. Der geringe Umfang der Stichprobe war der Studienökonomie geschuldet, erlaubte aber dennoch die hier dargestellten Schlussfolgerungen.

Schlussfolgerungen für die Praxis

  • Wenig bis keine Evidenz im Bereich suchtpräventiver Angebote auf Basis von Achtsamkeit bei Kinder und Jugendliche mit MBID.
  • Erste Hinweise, dass Achtsamkeit zur Erweiterung suchtpräventiven Handelns bei Kindern und Jugendlichen mit MBID herangezogen werden kann.
  • Inwieweit achtsamkeitsbasierte präventive Maßnahmen bei lernbehinderten Jugendlichen geeignet sind, Substanzkonsum zu reduzieren, muss geprüft werden.

Literatur