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Open Access

Konstruktion und Validierung eines Assessments von Offenheit für Vielfalt für (angehende) Lehrer und Lehrerinnen

Published Online:https://doi.org/10.1024/1010-0652/a000354

Abstract

Zusammenfassung. Vielfalt und Toleranz als solidarisches Grundgerüst einer westlichen Gesellschaft wurden in den letzten Jahren – anhand verschiedener Themen wie Migration, Inklusion in Schulen, unterschiedliche Lebensweisen – medial intensiv diskutiert. Dabei fordert der demographische Trend zur Vielfalt Lehrerinnen und Lehrer zunehmend auf, sich mit der steigenden Diversität der Schüler und Schülerinnen zu befassen. Die vorliegende Studie beschreibt die Entwicklung und Validierung eines Situational Judgment Tests (SJT) zur Erfassung von Offenheit für Vielfalt (OfV) für (angehende) Lehrer und Lehrerinnen. Dieser Test wurde anhand von Fragebögen zu universellen Werten, Persönlichkeitsmerkmalen, sozialen Fähigkeiten, Autoritarismus und sozial erwünschten Antworttendenzen an einer Stichprobe von Schülern und Schülerinnen (N = 219) validiert. Faktorenanalysen ergeben einen Faktor der allgemeinen oder generalisierten „Offenheit für Vielfalt“ mit einer guten internen Konsistenz (>α = .84). Es zeigen sich Zusammenhänge mit Universalismus, Verträglichkeit, Empathie und Autoritarismus, die bis zu 30% Varianz des Konstrukts Offenheit für Vielfalt über das Geschlecht hinaus aufklären. Der entwickelte Test kann in weiterer Folge dazu dienen, das Konstrukt OfV für weitere Forschung im Bildungsbereich sowie für die Berufsorientierung und die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Lehrern und Lehrerinnen zugänglich zu machen.

Construction and validation of an assessment of openness to diversity for (prospective) teachers

Abstract. Diversity and tolerance have been widely discussed throughout the media in recent years on various topics including migration, inclusion in schools and various lifestyles. Simultaneously, the demographic trend towards diversity challenges teachers to deal with these issues related to their students. Here, we developed a Situational Judgment Test (SJT) to assess Openness to Diversity for current and prospective teachers. This was validated using questionnaires on universal values, personality traits, social skills, authoritarianism, and socially desirable response tendencies with a sample of students (N = 219). Factor analyses reveal a factor of universal or generalized “Openness to Diversity” with accurate internal consistency (>α = .84). Correlations with universalism, agreeableness, empathy and authoritarianism emerge, resolving up to 30% variance in the Openness to Diversity construct over and above gender. The developed test can be used to make the construct Openness to Diversity applicable for further research in the field of education, as well as for professional orientation and reflection during the education and training of teachers.

Das Thema „Vielfalt“ ist in Erziehungswissenschaft, Praxis und Bildungspolitik allgegenwärtig. Dabei wird im Kern über eine chancengleichere Gesellschaft und die Partizipation aller Menschen diskutiert. Im schulischen Kontext wird zumeist von einer Pädagogik der Vielfalt (Prengel, 2006) gesprochen, die eine anerkennungsbasierte und „gleichberechtigte und gleichwertige Teilhabe aller“ im Sinne einer „Bildung für ALLE“ (Feuser, 2013, S. 2) anstrebt. Um gut auf vielfältig zusammengesetzte Lerngruppen und deren individuellen Bedürfnisse eingehen zu können, brauchen Lehrer und Lehrerinnen Offenheit bzw. eine wenig vorurteilsbehaftete Einstellung. Banks (2001), Brown (2004, 2006), Garmon (2005) und Gay (2010) forderten schon vor vielen Jahren, dass Lehrer und Lehrerinnen ein sensitives Bewusstsein für Diversität haben sollten, um effektiv unterrichten zu können. Eine valide Erfassung der Offenheit für Vielfalt (OfV) von Lehrern und Lehrerinnen ist daher Ausgangspunkt für die Erforschung sozio-demographischer Diversität zu den Kerndimensionen Migration und Behinderungen. Im Rahmen der vorliegenden Studie wurde ein Situational Judgment Test (SJT) entwickelt und die valide Interpretierbarkeit des Konstrukts OfV überprüft.

Schule als Institution der Vielfalt

Der Begriff „Vielfalt“ bedeutet allgemein Diversität, Andersartigkeit, Ungleichheit, Verschiedenheit sowie Individualität und entsteht durch zahlreiche Unterschiede zwischen Menschen (Abdul-Hussain & Hofmann, 2013; Aretz & Hansen, 2003). Zur Differenzierung menschlicher Vielfalt sind die sechs Kerndimensionen Alter, ethnisch-kulturelle Herkunft, Religion, Geschlecht, Behinderung sowie sexuelle Orientierung (z.B. Bendl et al., 2012; Gardenswartz & Rowe, 1998; Rühl & Hoffmann, 2008) weit verbreitet.

Im schulischen Kontext, insbesondere aus (sonder-)pädagogischer Sicht, wird der Begriff Vielfalt eher mit einem breit gefassten Inklusionsbegriff verknüpft und aus menschenrechtsbasierter, anerkennungstheoretischer oder sozialwissenschaftlicher Perspektive im Zusammenhang mit sozialer Ungleichheit diskutiert. Auf Basis der Gleichberechtigung wurden Konzepte der Integration (in Österreich seit 1976) und Inklusion für Schulen entwickelt und darauf eingegangen, wie mit Verschiedenheit umgegangen werden kann. Dabei spielen die sozio-demographischen Merkmale Behinderungen und Einschränkungen, Migration, Religion, Sprache oder Geschlecht eine Rolle (Biewer, 2016). Im Wesentlichen werden verschiedene Themen wie Asyl, Zuwanderung, neue inklusive Schulprojekte und unterschiedliche Lebensmodelle (Innerhofer, 2017) angesprochen. Das Konzept der Inklusion ist nach Grosche (2015) sehr breit und diffus. Daher wird vermehrt auf eine Pädagogik der Vielfalt im Sinne von Prengel (2006) verwiesen, die auf die Akzeptanz von Individualität und auf eine Offenheit gegenüber Heterogenität fokussiert. Dieser pädagogisch-menschenrechtliche Grundgedanke berücksichtigt die drei Dimensionen von Anerkennung nach Honneth (1992, S. 8): Liebe, Recht sowie Solidarität bzw. Wertschätzung und umfasst u.a. die „Selbstachtung und Anerkennung der Anderen“, das „Kennenlernen der Anderen“, die „Entwicklungen zwischen Verschiedenen“ und auch die „Achtung vor der Mitwelt“ (Prengel, 2006, S. 185). In diesem Sinn wird das Ziel verfolgt, dass alle Schülerinnen und Schüler als einzelne Personen in intersubjektiven Beziehungen, mit gleichen Rechten (auch mit gleichen institutionellen Zugängen) und mit Zugehörigkeit zu (sub-)kulturellen Gemeinschaften Anerkennung finden.

Vor diesem Hintergrund gewinnt die Frage nach einem bewussten Umgang mit Vielfalt an Bedeutung. Generell gilt, dass ein Mindestgrad an Akzeptanz einen wesentlichen Faktor für Veränderungen darstellt (z.B. Avramidis & Norwich, 2002; de Boer, Pijl & Minnaert, 2011; Knapp, 1997). Für einen effektiven Umgang mit Vielfalt fasst Garmon (2005) die Faktoren Offenheit, Selbstreflexion und Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit zusammen. Offenheit bezieht sich darauf, rezeptiv für neue Informationen zu sein, andere Ideen und Argumente anzuerkennen und ethnische, kulturelle und religiöse Vielfalt anzunehmen. Zentral ist hierbei ein gewisses Maß an Aufgeschlossenheit. Während offene Menschen wissbegierig, experimentierfreudig, künstlerisch interessiert, phantasievoll und unabhängig in ihrem Urteil sind (Borkenau & Ostendorf, 2008; Schimmack & Diener, 2003), neigen Menschen mit geringer Ausprägung von Offenheit eher zu konventionellem Verhalten und Einstellungen (Schimmack & Diener, 2003). Seitens der Lehrer und Lehrerinnen wird Wissen über Chancengleichheit, effektive Unterrichtsprinzipien mit Diversitätsfaktoren und deren kompatible Umsetzung in der Praxis gefordert (Luciak & Binder, 2010). Insgesamt kann davon ausgegangen werden, dass mit mehr OfV der Lehrer und Lehrerinnen, Minderheiten im Schulalltag eher Anerkennung finden und dadurch weniger benachteiligt werden (Brown, 2004; Garmon, 2005; Prengel, 2006).

In der vorliegenden Arbeit werden die im Rahmen von OfV fokussierten sozio-demographischen Merkmale zu folgenden zwei Faktoren zusammengefasst: 1) Migration (kultureller, religiöser und Migrationshintergrund, andere Muttersprache); 2) Behinderungen (Sinnes-, kognitive, physische und psychische Beeinträchtigungen bzw. Einschränkungen). Die alternativen Lebensformen und Gender (Transgender, Homosexualität, Geschlecht, gleichgeschlechtliche Eltern, Patchwork-Familien, alleinerziehende Eltern) mussten in dieser Arbeit während der Entwicklung des SJTs noch ausgeklammert werden, da hier nicht genügend Itemstämme aus den Interviews generiert werden konnten. Diese sollten jedoch zukünftig vermehrt in den Fokus genommen werden.

Das Konstrukt „Offenheit für Vielfalt“

OfV ist ein sehr umfassendes Konstrukt. Für die vorliegende Arbeit werden Vielfaltsaspekte aus der Vorurteils-, Toleranz-, Werte- und Persönlichkeitsforschung herangezogen.

Die Perspektive der Werteforschung – In der Theory of Basic Human Values von Schwartz (1992) werden individuelle Einstellungs- und Verhaltensmuster erfasst, die Offenheit und Wohlwollen gegenüber Unterschiedlichkeit begründen. In dieser Theorie werden zehn menschliche Grundwerte angegeben, die vier großen Motivatoren unterliegen. Anhand multidimensionaler Skalierung (Berechnung der statistischen Nähe von bestimmten Merkmalen), exploratorischen und konfirmatorischen Faktorenanalysen kann die Nähe und die Dimensionalität der vier großen Motivatoren zueinander belegt werden (Schmidt et al., 2007; Schwartz, 1992; 1994). Diese Werte werden in zwei Dimensionen beschrieben (Schwartz, 1992; Schwartz et al., 2012). In einer Dimension sind die Werte des Motivators Offenheit für Wandel (Selbstbestimmung, Stimulation) gegenüber konservativen Werten des Motivators Bewahrung (Sicherheit, Konformität und Tradition) angeordnet. Erstere Richtung betont unabhängiges Denken und Fühlen, was sich durch Aufgeschlossenheit für Veränderungen zeigt. Die bewahrende Richtung erklärt Selbstrestriktionen, Verharren in traditionellen Mustern und den Schutz von Stabilität. Die zweite Dimension – der Motivator Selbstüberwindung (Universalismus und Benevolenz) ist dem Motivator Selbstüberhöhung (Macht und Leistung) entgegengesetzt – beschreibt mit Selbstüberwindung den Wunsch nach Einfühlung in Andere und den Wunsch nach Gleichheit und Wohlstand aller. Selbsterhöhung beschreibt die Wichtigkeit des individuellen Erfolgs und die Dominanz über andere Menschen. Der Wert Hedonismus fällt zwischen die Motivatoren Offenheit für Wandel und Selbstüberhöhung, weil Hedonismus sich inhaltlich mit beiden überschneidet (Schwartz, 2006). In der sozialpsychologischen Forschung werden diese Grundwerte als kognitive Repräsentationen wünschenswerter Ziele gesehen (Schwartz, 1992). Sie sind grundlegend für die Beurteilung von Verhalten, Geschehnissen und Menschen und zudem im Erwachsenenalter relativ konstant. Dabei finden sie Ausdruck in allen verschiedenen Bereichen des Lebens und unterliegen damit, bis zu einem gewissen Grad, allen Einstellungen und Meinungen (Rokeach, 1973; Schmidt et al. 2007; Schwartz, 2006; Schwartz et al. 2010). Die Grundwerte nach Schwartz konnten in verschiedenen Studien, verschiedenen Kulturen und verschiedenen politischen Systemen Entscheidungen vorhersagen (Caprara et al., 2006; Schwartz et al., 2010). Zudem stehen sie in Zusammenhang mit Persönlichkeitsmerkmalen sowie der Wahrnehmung und Einstellung zu Migrantinnen und Migranten (Vecchione et al., 2012), jedoch kaum in Zusammenhang mit generalisierten Vorurteilen (Sibley & Duckitt, 2008).

Der oben beschriebenen Literatur folgend, sollten die zehn Grundwerte nach Schwartz in unterschiedlicher Verbindung zu OfV stehen. Während der Wert Universalismus und seine benachbarten Werte Benevolenz und Selbstbestimmung mit prosozialem Verhalten und liberalen politischen Ideen in Verbindung stehen (Vecchione et al., 2012), stehen die Werte Macht und Leistung des Motivators Selbsterhöhung den Selbstüberwindungswerten auf dem Kontinuum gegenüber. Auch inhaltlich sind die Werte Macht und Leistung eher konkurrierenden Einstellungen und Ideen verbunden (meritokratische Werte), was universalistischen Weltanschauungen und OfV entgegenstehen könnte (vgl. Wang, et al. 2014). Die Werte, die dem Motivator Selbstüberwindung räumlich nahestehen, sich aber eher durch Bewahrung kennzeichnen (Schwartz, 1992; 1994), stehen vermutlich in keinem Zusammenhang zu OfV.

Die Perspektive der Vorurteilsforschung – In der Vorurteilsforschung wird von einem generalisierten Vorurteilsfaktor berichtet, der hohe Varianz von spezifischen Vorurteilen erklären kann (Akrami et al., 2011; Ekehammar & Akrami, 2003; Sibley & Duckitt, 2008). Beispielsweise haben Personen, die antisemitische Vorurteile haben, sehr wahrscheinlich auch Vorurteile gegenüber Muslimen (Zick et. al., 2016). Ausgehend von Adornos Theorie zur autoritären Persönlichkeit (zit. nach Beierlein et al., 2014) wurde mittlerweile auch das etablierte Konstrukt Autoritarismus so weit entwickelt, dass es sich als einer der wichtigsten Faktoren zur Vorhersage von generalisierten Vorurteilen herausgestellt hat (Altemeyer, 1981; Ekehammar et al., 2004; Sibley & Duckitt, 2008;). Dieses politisch-psychologische Konzept kann womöglich verschlossenes Verhalten gegenüber Vielfalt erklären. Es ist einer der wichtigsten Faktoren zur Vorhersage von Vorurteilen, erklärt menschenfeindliche Einstellungen und antidemokratische Tendenzen (Sibley & Duckitt, 2008; Ekehammar et al., 2004). Auch die Subfacetten autoritäre Aggression, autoritäre Unterwürfigkeit und Konventionalismus stehen der Arbeitsdefinition von OfV entgegen.

Die Perspektive der Persönlichkeitsforschung – Ebenfalls klären Empathie und die Faktoren der Big Five – Extraversion, Neurotizismus, Gewissenhaftigkeit, Offenheit und Verträglichkeit – Varianz generalisierter Vorurteile auf (McCrae & Costa, 2008; McFarland, 2010). Dabei zeigen die beiden Faktoren Offenheit für Erfahrungen und Verträglichkeit negative Zusammenhänge mit generalisierten Vorurteilen (McCrae, 1996; Schwartz, 2006), die durch eine Metaanalyse (71 Studien mit insg. 22068 Teilnehmenden) von Sibley und Duckitt (2008) bestätigt werden konnten. Dementsprechend können generalisierte Vorurteile nicht vollständig durch die Persönlichkeit erklärt werden. Persönlichkeitsdimensionen stellen eher Indizien für eine generelle Disposition dar (McCrae, 1996; Sibley & Duckitt, 2008). Die Persönlichkeitsdimensionen der Big Five sollten somit in verschiedenen und unterschiedlich hohen Zusammenhängen zu OfV stehen. Offenheit für Erfahrungen, die Persönlichkeitsdimension, die neue Erfahrungen generell als wertvoll einschätzt, sollte dementsprechend auch positiv mit OfV in Verbindung stehen (vgl. Freitag & Rapp, 2013; Garmon, 2005; Vecchione et al, 2012). Dabei geht es weniger darum, die Werte von Gleichheit zu betonen, sondern schlichtweg um die Grundeinstellung, sich auf etwas Neues einlassen zu können und das Interesse an neuen Gegebenheiten und fremden Kulturen im Zusammenhang mit OfV zu manifestieren. Verträglichkeit, eine Persönlichkeitsdimension, die Altruismus und Hilfsbereitschaft betont, und das Gemeinwohl vor das individuelle Wohl stellt, sollte ebenso wie Offenheit für Erfahrungen in positiver Verbindung mit OfV stehen (vgl. Freitag & Rapp, 2013; Garmon, 2005; Vecchione et al., 2012). Hierbei sind vor allem das soziale Empfinden und das schnelle Erkennen sozialer Unterdrückung ausschlaggebend und weniger der Wunsch nach neuen Erlebnissen. Für die Faktoren Gewissenhaftigkeit, Extraversion und Neurotizismus zeigt sich dagegen keine konsistente Befundlage.

Die Perspektive der Toleranzforschung – Der Begriff Toleranz ist im pädagogischen Kontext nahezu uneingeschränkt positiv besetzt (Schreiner, 1990). Beschrieben werden damit Respekt, Anerkennung der Gleichwertigkeit, Wertschätzung, Weltoffenheit, Interessiert-Sein sowie Unterstützung der Rechte verschiedener Gruppen (Sandoval-Hernández et al, 2018; Zick, 2019). Toleranz kann nach Graziano und Eisenberg (1997) in Theorien der Moralität und in prosozialem Verhalten begründet werden. Um offen für Vielfalt zu sein, braucht es ein erhöhtes Verständnis für Unterdrückungen in der Gesellschaft und Neugier für das Funktionieren anderer gesellschaftlicher Strukturen (Chao et al., 2015). Die Nicht-Existenz von Vorurteilen oder gar von Diskriminierung wird dementsprechend nicht zwingend als Toleranz definiert.

Im soziologischen und sozialpsychologischen Kontext wird ‚Offenheit für Diversität‘ untersucht, die sich hauptsächlich auf kulturelle und sprachliche Gegebenheiten bezieht (z.B. Bowman, 2010; Chang, 2002; Hurtado et al., 2002; Jayakumar, 2008; Wang et al., 2014). Studien zeigen, dass Personen, die der Mehrheit einer Gesellschaft angehören, häufig ihre eigenen Privilegien ignorieren oder nicht bewusst wahrnehmen und sich gleichgestellt mit allen anderen Personen sehen (Gay, 2010; Wang et al., 2014). Institutionelle Benachteiligungen können dadurch übersehen und somit Diskussionen über Vielfalt vermieden werden. Personen mit hoher Offenheit für Diversität zeigen mehr Empathie in rassismusspezifischen Situationen und hinterfragen ihre eigenen ethnischen Privilegien (Butrus & Witenberg, 2013; Chao et al., 2015). Wang et al. (2014) betonen in diesem Zusammenhang die Bedeutung der kulturellen Ideologie von Meritokratie und horizontalem Individualismus. Sie benennen Meritokratie als starke Leistungsorientierung von Gesellschaften, wodurch interindividuelle Unterschiede leicht übersehen werden. Horizontaler Individualismus wird dabei als Betonung der Autonomie des Selbst beschrieben, wobei die Individuen davon ausgehen, dass alle Menschen den gleichen Status haben. Folglich gehen sie davon aus, dass andere Menschen in dem System gar nicht benachteiligt werden können. Menschen, die zu hohem horizontalen Individualismus oder meritokratischen Werten neigen, übersehen leichter Benachteiligungen. Das eigene Leistungsstreben wird honoriert. Hingegen werden für den fehlenden Erfolg anderer Gruppierungen andere Erklärungsstrategien wie beispielsweise fehlende Leistungsbereitschaft oder die negative Zuschreibung Faulheit herangezogen (Wang et al., 2014). Das führt dazu, dass u.a. institutionelle Barrieren, die Minderheiten benachteiligen, leichter übersehen werden. Wenn Personen in diesen starren Denkschemata verharren, werden Diskussionen über Vielfalt vermieden und das Erfahrungsspektrum gehemmt (Gay, 2010; Wang et al., 2014). Studien belegen einen positiven Zusammenhang zwischen Perspektivenübernahme und Offenheit für Diversität (Brown, 2004; Chao et al., 2015; Garmon, 2005). Diejenigen, die wenig offen für Diversität sind, zeigen wenig Empathie und weniger Bereitschaft, die Perspektiven von benachteiligten Personen einzunehmen, was insgesamt wiederum zu weniger Verständnis für multikulturelle Aspekte (Egan et al., 2007) führt. Gleichzeitig wird die Wichtigkeit multikultureller Bildung negiert, indem die Bedeutung von Vielfaltsfragen marginalisiert wird, geläufige Systeme gerechtfertigt und multikulturelle Bildung als unfair gegenüber der Mehrheitsgesellschaft wahrgenommen wird. Diese Resistenz gegenüber Multikulturalität und entsprechende Benachteiligungen kann sowohl aufgrund ideologischer Resistenz (Vorurteile gegenüber Gruppierungen) als auch durch die Verneinung von Ungerechtigkeiten in fortschrittlichen demokratischen Gesellschaften begründet werden (Egan et al., 2007; Wang et al., 2014).

Aus diesem Grund ist es für das Konstrukt OfV wichtig, Empathie, soziale Kompetenz und Emotionswahrnehmung mitzudenken, da diese die Mitmenschlichkeit und auch das Reflektieren verschiedenster Situationen beinhalten (vgl. Brown, 2004; Chao et al., 2015; Garmon, 2005; Ratts, 2011).

Arbeitsdefinition von OfV bezogen auf die Verhaltensebene

Auf Basis der beschriebenen Literatur wurde für die Entwicklung des in der Studie konstruierten Testverfahrens folgende Arbeitsdefinition abgeleitet. Diese soll in den Antwortmöglichkeiten des SJT zu OfV widergespiegelt werden.

Unter OfV werden alle Handlungen von Lehrerinnen und Lehrern und von Schülerinnen und Schülern verstanden, die einen wertschätzenden und respektvollen Umgang im schulischen Miteinander kennzeichnen, indem Vielfalt anerkannt und eventuellen Benachteiligungen aktiv entgegengewirkt wird.

Ausgeprägte Verhaltensweisen zur OfV

Personen, die offen für Vielfalt sind, erkennen Vielfalt an und setzen sich aktiv für sie ein. Die Gleichheit aller Menschen wird betont und verschiedene Formen der strukturellen und individuellen Benachteiligung werden wahrgenommen. Der Wunsch ist, verschiedensten Benachteiligungen entgegenzuwirken (vgl. Butrus & Witenberg, 2013; Chao et al., 2015; Garmon, 2005; Prengel, 2006; Vecchione et al., 2012). Das führt dazu, dass Handlungsbedarf in kritischen Situationen erkannt wird (vgl. Chao et al., 2015; Egan et al., 2007; Garmon, 2005; Prengel, 2006; Vecchione et al., 2012). Auf der Verhaltensebene sollten sich diese Grundsätze darin widerspiegeln, dass sie zuerst schwierige oder gar diskriminierende Situationen wahrnehmen und aktiv handeln. Sie versuchen, solche Situationen zu lösen, indem sie einen wertschätzenden, respektvollen, gerechten und reflektierten Umgang mit Vielfalt fördern. Zudem setzen sie sich für benachteiligte Personen ein und zeigen Empathie.

Personen, die nicht offen für Vielfalt sind, betonen die Wichtigkeit und Wahrung individueller Leistungen. Sie erkennen Vielfalt kaum an oder sehen auch keinen großen Nutzen in ihr. Der Wunsch nach sozialer Gerechtigkeit ist nicht vorhanden und gesellschaftliche Regeln sollten ihrer Meinung nach ohne Mitleid durchgesetzt werden, wobei sie sich auf hierarchisch höher gestellte Personen berufen oder hierarchische Werte für funktionierende Systeme betonen (vgl. Akrami et al., 2011; Chao et al., 2015; Egan et al., 2007; Garmon, 2005; Wang et al., 2014; Vecchione et al., 2012). Auf der Verhaltensebene sollte sich das wie folgt manifestieren: Sie machen ihre Meinung zur Vielfalt, die durch Nicht-Anerkennung von Anderen geprägt ist, öffentlich. Dabei werden Minderheiten aktiv ausgegrenzt, jedoch wird der eigene Anteil an der Ausgrenzung von Minderheiten negiert. Diese Handlungen werden mit der Erhaltung funktionierender Systeme oder der Eigenverantwortung von Minderheiten gerechtfertigt.

Ziel der Studie

Die vorliegende Studie befasst sich mit der Entwicklung und psychometrischen Untersuchung eines SJTs zur Messung von OfV. Dieser kann in weiterer Folge in der Berufsorientierung für das Lehramtsstudium, in der Aus- und Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen sowie in der empirischen Bildungsforschung eingesetzt werden.

SJTs werden bereits seit den 1920er Jahren verwendet, gewinnen allerdings erst seit den letzten Jahren an Popularität und werden vermehrt wissenschaftlich untersucht (Weekley & Ployhart, 2013). In der empirischen Bildungsforschung werden SJTs allerdings bisher kaum eingesetzt, was unter anderem auf einen Mangel an bestehenden Tests zurückzuführen ist. SJTs bestehen aus Fragen, die Situationen beschreiben; als Antwortmöglichkeiten können mögliche Reaktionen ausgewählt werden. Ein Beispielitem ist in Abbildung 1 dargestellt. Durch Situationen, wie sie in SJTs dargestellt werden, kann die Offenheit für Vielfalt möglicherweise implizit besser erfasst werden als in klassischen Persönlichkeitsfragebögen. Diese können im Vergleich zu SJTs stärkeren Einschätzungsverzerrungen bzw. sog. Faking-Effekten unterliegen (Lievens et al., 2008).

Abbildung 1 Beispielitem des OfV

Die derzeitige Popularität von SJTs kann in ihrer vergleichsweise höheren (Kriteriums- und inkrementellen) Validität liegen, die der von kognitiven Fähigkeitstests gleicht (Lievens et al., 2008). Einige Autoren und Autorinnen gehen deshalb davon aus, dass SJTs etwas messen, was mit Performance eng verbunden ist, aber in anderen klassischen Persönlichkeitsfragebögen nicht erfasst wird (vgl. McDaniel et al., 2001; Weekley & Ployhart, 2013). Nachdem die Situationsspezifität von SJTs jedoch zu mehr unsystematischen Fehlervarianzen führt (Schmitt & Chan, 2006), ist es auch wichtig konstruktbasierte SJTs zu entwickeln. Im Vergleich zu traditionellen SJTs spiegeln diese in Itemstamm und Antwortalternativen ein auf Theorien und situativen Taxonomien basierendes Konstrukt wider und zeichnen sich dabei durch eine höhere Homogenität und eine geringere Kontextualisierung aus (Überblick unter: Lievens, 2017). Konstruktbasierte SJTs wurden beispielsweise zu den Big Five (Mussel, Gatzka & Hewig, 2018) und zur Emotionsregulation (Koschmieder & Neubauer, 2020) entwickelt. Gerade der situative Kontext von SJTs scheint besonders gut geeignet, um OfV zu operationalisieren, nachdem prosoziales Verhalten sowohl auf personenbezogener als auch auf interpersoneller situativer Ebene variieren kann (Graziano et al., 2007).

Das entwickelte Testverfahren wird auf Basis der in Abschnitt Das Konstrukt „Offenheit für Vielfalt“ beschriebenen Literatur anhand der Basic Human Values von Schwartz (1992) sowie anhand der Faktoren der Big Five, Emotionalen Kompetenzen und Autoritarismus, validiert. Dabei werden positive Zusammenhänge mit (1) den Werten Universalismus und Benevolenz, (2) den Persönlichkeitsfaktoren Offenheit für Erfahrungen und Verträglichkeit und (3) den emotionalen Kompetenzen Empathie, soziale Kompetenz und Emotionswahrnehmung erwartet. Negative Zusammenhänge sollten sich dagegen mit (1) den Werten Macht und Leistung und (2) dem politisch-psychologischen Konzept des Autoritarismus zeigen.

Methode

Stichprobe

Die Stichprobe der Hauptuntersuchung umfasst 219 Schüler und Schülerinnen (54,8% weiblich, 45,2% männlich) der letzten Schulstufe. Einer von den ursprünglich 220 vollständigen Datensätzen wurde aufgrund der Überschreitung des Zeitlimits ausgeschlossen. Diese Zielgruppe wurde gewählt, um diesen Test zukünftig zur Orientierung in der Studienwahl von Lehramtsstudenten und -studentinnen einsetzen zu können. Die Schülerinnen und Schüler waren durchschnittlich 18 Jahre alt (SD = 0.75), sie halten sich selbst für mittelmäßig politisch interessiert (M = 3.23; SD = .95, auf einer Skala von 1 bis 5) und sehen sich politisch tendenziell eher links orientiert (M = 2.39; SD = 1.05; Skala von 1 bis 5; neun Personen beantworteten die Frage nicht). 38 Personen gaben an, neben der Schule ein Ehrenamt auszuführen, wobei sich der Zeitaufwand für das Ehrenamt pro Woche stark unterscheidet (von vier Stunden oder weniger bis 16 Stunden und mehr).

Erhebungsinstrument

Testentwicklung des SJT Offenheit für Vielfalt

Entwicklung der Itemstämme

Der SJT OfV wurde in vier Schritten (Entwicklung der (1) Itemstämme, der (2) Antwortalternativen und des (3) Codierungsschlüssels, (4) Pilotierung) konstruiert. Mittels der Critical Incident Technique (CIT – Flanagan, 1954) wurden in zehn Interviews mit ExpertInnen (Lehrkräfte) verschiedene kritische Ereignisse zu interessierenden Merkmalen (Inklusion, Migration, alternative Lebensformen und verwandte Themen, die zu Benachteiligungen führen könnten) im Beruf des Lehrers und der Lehrerin herausgearbeitet. Diese wurden anschließend zu klaren Situationen zusammengestellt. Der Pool der Interviewten umfasst sechs Frauen und vier Männer mit unterschiedlicher Berufserfahrung und unterschiedlich umfangreicher pädagogischer Vorerfahrung (MAlter = 35.00; SDAlter = 12.65; MBerufserfahrung = 12.10; SDBerufserfahrung = 11.58). Der Interviewleitfaden (ESM 1) befasste sich mit passiven und aktiven Benachteiligungen verschiedener Minderheiten im pädagogischen Alltag und spiegelt dementsprechend realitätsbezogene Ereignisse wider. In den Interviews konnten die Target Attribute (1) Offenheit für Migration und (2) Offenheit für Inklusion abgedeckt werden. Der dritte sinnvoll erscheinende Faktor ‚neue Lebensformen‘ konnte in den Interviews nicht eindeutig herauskristallisiert werden und wurde somit nicht in den SJT integriert. Stattdessen wurde der sozioökonomische Status – und damit einhergehende strukturelle Schwierigkeiten von Schülerinnen und Schülern – als möglicher wichtiger Faktor von Benachteiligungen identifiziert.

Nach der Generierung von 41 Situationen wurden diese zu Itemstämmen formuliert. Diese sollen einen guten Einblick in das kritische Ereignis ermöglichen, zu anderen Situationen klar abgrenzbar sein und zusätzliche Einflussfaktoren entweder ausschließen oder in klaren, eingrenzbaren Strängen einfließen lassen. Um die Itemstämme auf Verständlichkeit zu prüfen, wurden sie drei Personen mittels Think-Aloud Technik vorgegeben.

Entwicklung und Verdichtung der Antwortalternativen

Zur Generierung der Antwortalternativen wurden zwei Gruppen mit jeweils neun Personen gebeten, zu der Hälfte der Itemstämme mögliche Handlungsalternativen mit dem Fokus, 1) wie sie selbst handeln würden, 2) wie man sonst handeln könnte und 3) wie sie sich niemals verhalten würden, zu benennen. Alle gesammelten Handlungsalternativen wurden anschließend zu vier Handlungsmöglichkeiten je Situation verdichtet. Diese Verdichtung orientierte sich an der in Abschnitt 2 beschriebenen Arbeitsdefinition von OfV. Die vier Handlungsoptionen spiegeln dabei folgende Haltungen wider:

  1. 1.
    Aktiv offen für Vielfalt – handelnde Person zeigt Bereitschaft zu Engagement für Integration;
  2. 2.
    eher offen für Vielfalt – passiv offene, handelnde Person nicht zwingend zusätzliches Engagement;
  3. 3.
    eher nicht offen für Vielfalt – handelnde Person ist passiv verschlossen und zeigt wenig Engagement und
  4. 4.
    nicht offen für Vielfalt – handelnde Person zeigt sozial dominantes Verhalten.

Die Antwortalternativen wurden wiederholt durch drei Personen mittels Think-Aloud Technik auf Verständlichkeit, soziale Erwünschtheit und Abgrenzbarkeit überprüft.

Codierung

Die Entwicklung des Auswertungsschlüssels erfolgte in zwei Gruppen online durch 15 Lehrkräfte, welche in der Hochschullehre zu den Schwerpunkten Migration und Inklusion unterrichten. Die Einschätzungen wurden dabei über eine Onlineumfrage auf Limesurvey innerhalb von zwei Monaten erhoben. Die Antwortalternativen jeweils der Hälfte der Items wurden von „nicht offen“ bis „sehr offen“ jeweils von 6 bzw. 9 Experten und Expertinnen bewertet. Für die Auswertung wurden nur vollständige Ratings herangezogen. Es zeigten sich gute Beobachterübereinstimmungen von ICC = .95 und ICC = .96. Für die Codierung wurden die Mittelwerte der Ratings herangezogen. Lagen die Mittelwerte zweier Handlungsmöglichkeiten nahe beieinander (d.h. Differenz der Mittelwerte < .40), wurde zweimal der gleiche Punktewert vergeben, der zwischen den beiden ursprünglichen Punktewerten lag (z.B. zweimal Vergabe von 1.5 Punkten, statt ursprünglich 1 und 2).

Version zur Pilotierung

Die finale Version zur Pilotierung des OfV umfasst 41 Items (Beispielitem siehe Abbildung 1). Der vollständige Fragebogen inklusive eines englischen, nicht validierten oder rückübersetzten Übersetzungsvorschlags und Auswertungsschlüssels kann dem ESM 2 entnommen werden.

Werte (PVQ)

Basierend auf der Werte-Theorie von Schwartz (1992) werden zehn motivational unterschiedliche Wertetypen per Selbstbeschreibung im PVQ (Schmidt et al., 2007) erfasst. Die Langform misst die Werte mithilfe von 40 Personenbeschreibungen. Die Untersuchungspersonen beurteilen auf einer sechsstufigen Skala, ob diese Beschreibungen ihnen ähnlich bzw. unähnlich sind. Die internen Konsistenzen der Skalen liegen mit Ausnahme des Wertes Selbstbestimmung (α = .58) zwischen .64 und .83.

Persönlichkeitsmerkmale (NEO-FFI)

Die Big Five (Offenheit, Gewissenhaftigkeit, Extraversion, Verträglichkeit und Emotionale Stabilität) wurden mit dem NEO-FFI (Borkenau & Ostendorf, 2008) erfasst. Dieser umfasst 60 Items (mit 12 Fragen je Faktor), welche auf einer fünfstufigen Ratingskala (1 starke Ablehnung – 5 starke Zustimmung) vorgegeben werden. Die einzelnen Skalen weisen zufriedenstellende interne Konsistenzen auf (.71 ≤ α. ≤ 88).

Emotionale Kompetenzen (TEIQue)

Die Emotionalen Kompetenzen wurden durch einen Auszug von drei Primär-Facetten – Empathie (α =.72), Soziale Kompetenz (α =.76) und Emotionswahrnehmung (α =.74) – aus der deutschen Version des TEIQue (Freudenthaler et al., 2008) operationalisiert. Diese werden mittels 30 Items anhand einer siebenstufigen Skala, von (1) stimme absolut nicht zu bis (7) stimme absolut zu eingeschätzt.

Autoritäre Einstellungen (KSA-3)

Die KSA-3 von Beierlein et al. (2014) ist eine von der GESIS veröffentlichte Kurzskala mit dem Zweck, das psychologische Merkmal Autoritarismus mit den drei Subskalen „Autoritäre Aggression“, „Autoritäre Unterwürfigkeit“ und „Konventionalismus“ reliabel zu erfassen. Die Reliabilität der Skalen liegt bei α = .78 (Autoritäre Aggression), α = .78 (Autoritäre Unterwürfigkeit) und α = .68 (Konventionalismus). Die neun Items werden auf einer fünfstufigen Likert-Skala abgebildet und enthalten beispielsweise die Formulierung „Unruhestifter sollten deutlich zu spüren bekommen, dass sie in der Gesellschaft unerwünscht sind“.

Soziale Erwünschtheit (KSE-G)

Zur Kontrolle von sozial erwünschtem Antwortverhalten wurde der KSE-G (Kemper et al., 2012) verwendet. Dieser erfasst zwei Seiten sozial erwünschten Antwortverhaltens. Zum einen die Übertreibung positiver Qualitäten (PQ+; Beispielitem: „Im Streit bleibe ich stets sachlich und objektiv.“), zum anderen die Minimierung negativer Qualitäten (NQ-; Beispielitem: „Es ist schon mal vorgekommen, dass ich jemanden ausgenutzt habe.“). Die sechs Items werden auf einer fünfstufigen Ratingskala präsentiert.

Procedere

An fünf österreichischen Schulen wurde die (je nach Bearbeitungsgeschwindigkeit 55- bis 85-minütige) Erhebung zu sechs Untersuchungsterminen in Informatikräumen der Schule während des Unterrichts im Klassenverband durchgeführt und über das Programm Limesurvey administriert. Die teilnehmenden Schulen wurden per E-Mail angefragt. Drei der Untersuchungstermine fanden Anfang Dezember 2016 statt und drei der Untersuchungstermine im Januar 2017. Die Auswertung der Daten erfolgte mit den Programmen SPSS und dem Lavaan package (Rosseel, 2012).

Ergebnisse

Testanalyse

Auf Basis der 41 Items der Pilotversion wurde eine Itemselektion auf Basis der Itemschwierigkeiten, Trennschärfen und Faktorenanalyse vorgenommen. Zwei Items wurden aufgrund einer Itemschwierigkeit von p > .84 ausgeschlossen, während zwei Items aufgrund zu niedriger Trennschärfen (rit < .2) selektiert wurden. Im Rahmen einer explorativen Hauptkomponentenanalyse mit Varimaxrotation wurden schließlich 17 Items mit Faktorladungen < .40 ausgeschlossen. Aufgrund des Screeplots sowie theoretischer Überlegungen wurde eine Generalfaktorlösung für die Selektion gewählt.

Die nach der Selektion finale Testversion zur Pilotierung umfasst 22 Items mit einer internen Konsistenz von .84 und Trennschärfen > .33. Die Itemschwierigkeiten variieren zwischen .49 und .81. Dabei setzen sich acht Items alleinig mit Behinderungen und Einschränkungen und elf Items mit Migration auseinander. Zusätzlich beinhaltet eine Situation die Themen von Inklusion und Migration sowie eine Situation die Themen Migration und sozioökonomischen Status und eine Situation das Thema des sozioökonomischen Status. Die Faktorenstruktur wurde anschließend mit einer konfirmatorischen Faktorenanalyse – basierend auf dem weighted least square mean and variance adjusted (WLSMV) algorithm – überprüft. Es zeigt sich eine gute Modellpassung für einen Generalfaktor OfV (χ 2[209] = 233.739; χ 2/df = 1.12; p = .12; CFI = .978; RMSEA = .023; SRMR = .068). Eine Faktorenstruktur mit drei Faktoren (Migration, Inklusion und sozioökonomischer Status) führt zu keiner Verbesserung des Modellfits (χ 2[205] = 227.994; χ 2/df = 1.11; p = .13; CFI = .979; RMSEA = .023; SRMR = .067; ∆c2[4] = 6.4317, p = .17, ∆CFI = .00). Ein Überblick über die Faktorladungen der Modelle ist in ESM 6 zu finden.

Validierung

Zur Analyse der Validitäten wurden Mittelwerte des OfV und der Validierungsinstrumente berechnet. Die deskriptiven Statistiken und Verteilungsanalysen sind in ESM 3 zu finden. Zusammenhänge des OfV mit den erhobenen Merkmalen sind in Tabelle 1 dargestellt. Eine vollständige Interkorrelationstabelle ist in ESM 4 angefügt. Die Korrelationen des dreifaktoriellen Modells wurden vollständigkeitshalber in ESM 5 berichtet.

Tabelle 1 Zusammenhänge des OfV mit den erhobenen Merkmalen

Es zeigen sich niedrige bis mittlere positive Zusammenhänge mit den Werten Stimulation, Selbstbestimmung, Universalismus, Benevolenz und Konformität sowie ein negativer Zusammenhang mit dem Wert Macht. Wenn die Werte Benevolenz und Universalismus zu dem Motivator Selbstüberwindung zusammengefasst werden, ergibt sich eine hohe Korrelation zwischen OfV und dem Motivator Selbstüberwindung (r = .49, p < .001). Hinsichtlich der Zusammenhänge mit den Big Five zeigen sich niedrige bis mittlere positive Zusammenhänge. In Übereinstimmung mit der Literatur konnten keine Zusammenhänge mit Neurotizismus gefunden werden. Unter den emotionalen Kompetenzen zeigt Empathie erwartungsgemäß den höchsten positiven Zusammenhang. Die Korrelationen von OfV mit den drei Subfaktoren (Aggression, Unterwürfigkeit, Konventionalismus) und dem allgemeinen Autoritarismusfaktor des KSA zeigen erwartungsgemäß mittlere negative Zusammenhänge. Die Zusammenhänge mit den Skalen politisches Interesse, politische Orientierung, Selbstbestimmung, Universalismus, Benevolenz, Verträglichkeit, Empathie und den Skalen des KSA und KSE konnten auch in der nach Geschlecht getrennten Korrelationsanalyse gefunden werden. Frauen und Männer unterscheiden sich hinsichtlich OfV (t192,28 = 5.91; p < .01). Frauen erreichten im Mittel höhere Werte in OfV als Männer (MFrauen = 72.25, SD = 8.88; MMänner = 64.37, SD = 10.53, d = .816).

Um zu überprüfen, welche Varianzanteile von OfV durch welche psychologischen Konstrukte erklärt werden können, wurde eine lineare hierarchische Regressionsanalyse mit Einschlussverfahren berechnet, wobei nach Aufnahme der Kontrollvariable Geschlecht in den weiteren Schritten die Werte des PVQ, die Big Five und zuletzt die spezielleren Merkmale der Emotionalen Kompetenz und des Autoritarismus aufgenommen wurden. Zur Vermeidung von Multikollinearität wurden nur jene Prädiktoren in die Regression aufgenommen, welche eine signifikante Korrelation über .30 mit dem Kriterium aufwiesen. Das Geschlecht wurde als Kontrollvariable im ersten Schritt in die Regression aufgenommen. Die Ergebnisse der Analyse sind in Tabelle 2 dargestellt.

Tabelle 2 Regressionsanalyse mit allen interessierenden Variablen zur Aufklärung von OfV

Insgesamt können 44% Varianz an dem Konstrukt Offenheit für Vielfalt aufgeklärt werden. Dabei können die Werte Universalismus (β = .30) und Benevolenz (β = .18) 18% Varianz über das Geschlecht hinaus beitragen. Verträglichkeit liefert darüber hinaus einen inkrementellen Beitrag von 4%, während der Autoritarismus (β = –.29) durch den KSA weitere 8% Varianz aufklärt. Zusammengefasst zeigt sich, dass die Prädiktoren unique Varianz an dem Konstrukt aufklären und OfV als Konstrukt sowohl Aspekte von Wertvorstellungen, der Persönlichkeit und des Autoritarismus enthält.

Diskussion

Ziel der gegenständlichen Arbeit war die Entwicklung und Validierung eines Situational Judgment Tests zur Erfassung des Merkmals Offenheit für Vielfalt in schulisch-pädagogischen Kontexten. Nach einer theoretisch fundierten Itementwicklung und anschließender Itemselektion enthält der Test letztendlich 22 kritische Situationen, die in einem geschlossenen Antwortformat mit jeweils vier möglichen Antwortalternativen beantwortet werden können.

Ziel des Tests ist es zum einen, Lehramtsanwärter und -anwärterinnen bei der Selbstreflexion zur Eignung als Lehrer bzw. Lehrerin zu unterstützen. Zum anderen kann dieser Test in der Aus- und Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen mühelos eingesetzt werden. Im gesamten Aus- und Fortbildungsprozess ist u.a. eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Person und den beruflichen Anforderungen unumgänglich (Ostermann, 2015). So könnten die im Test angegebenen kritischen Situationen und Handlungsmuster als Hospitations- und Diskussionsgrundlage dienen. Die Bewusstmachung von Verhaltensweisen und -alternativen, verbunden mit stetiger Reflexion des eigenen Lehrer- und Lehrerinnenhandelns, könnte eine Möglichkeit sein, um positive Veränderungen anzubahnen. Außerdem könnte das Aufgreifen von Vielfaltsaspekten in Lehrveranstaltungen zu einer allgemeinen Sensibilisierung für Offenheit für Vielfalt beitragen. Zu guter Letzt kann der Test in der empirischen Bildungsforschung Verwendung finden. Die finale Version bildet eine einfaktorielle Struktur zur Messung des Konstruktes Offenheit für Vielfalt.

Der Test selbst weist eine sehr gute Reliabilität auf, alle Trennschärfen liegen über dem üblichen Cut-Off von .3 und die Itemschwierigkeiten streuen im erwünschten Bereich. Obgleich die Trennschärfen nicht sehr hoch sind, können sie im Vergleich mit der Literatur zu SJTs sogar als äußerst zufriedenstellend gewertet werden (Nguyen, 2001). Auch die Reliabilität des SJTs ist im Vergleich zu anderen SJTs sehr zufriedenstellend. So zeigte eine Metaanalyse von SJTs (McDaniel, Hartman, Whetzel und Grubb, 2007) nur eine durchschnittliche Reliabilität von .60 (mit einer Streuung von .43 bis .94), was damit erklärt wird, dass SJTs in der Regel heterogene Merkmale messen. Dies geht auch einher mit bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnissen, dass die Entwicklung von konstruktbasierten SJTs zu höheren Reliabilitäten und besseren konvergenten und diskriminanten Validitäten mit anderen Fragebögen führen (Lievens, 2017). Im Hinblick auf die inhaltliche Validität wurde vorab eine exakte Arbeitsdefinition von OfV entwickelt. Die Adäquatheit der Antwortalternativen der einzelnen Szenarien im Hinblick auf das zu messende Merkmal wurde anhand von Experten- und Expertinnenratings überprüft. Dabei ist allerdings anzumerken, dass in der Instruktion für die Experten- und Expertinnenratings (ESM 1.) sowohl die Arbeitsdefinition, als auch die zugrundeliegende Theorie nicht ausreichend beschrieben war. Dies könnte bei einer Weiterentwicklung und Überprüfung des Antwortschlüssels berücksichtigt werden, um die inhaltliche Validität zu erhöhen.

Ebenfalls erbrachte die Validierung anhand einer umfassenden Erhebung bekannter psychologischer Konstrukte aus den Bereichen Persönlichkeit und Werte überwiegend hypothesenkonforme Befunde, mit zum Teil mittelhohen bis vereinzelt sogar hohen Zusammenhängen. Wie erwartet korrelieren die Werte Universalismus und Benevolenz positiv und Macht negativ mit OfV, vereinzelt gab es hier noch weitere signifikante, aber eher geringe Zusammenhänge. Das Gleiche kann für die Big Five vermerkt werden, wo Verträglichkeit wie erwartet moderat bis fast schon hoch korreliert, allerdings Offenheit zwar signifikant, aber eigentlich niedriger als erwartet mit OfV zusammenhängt. Eine Überlegung, für die eher niedrige Beziehung zwischen OfV und Offenheit für Erfahrungen könnte der geringe bis mittlere Zusammenhang mit Konformität darstellen. Es kann argumentiert werden, dass OfV ein Konstrukt ist, das in unserer Gesellschaft erwünscht ist und sich dementsprechend einige Personen angepasster verhalten. Offenheit für Erfahrungen spricht allerdings eine andere Dimension an, nämlich den Wunsch nach Selbstständigkeit und Unabhängigkeit. Dies widerspricht zwar nicht dem Konstrukt von OfV in dieser Arbeit, ist allerdings auch nicht genau das Gleiche. Folglich kann überdacht werden, ob Offenheit für Erfahrungen tatsächlich die richtige Skala ist, um OfV zu validieren, oder ob es andere Konstrukte oder Werthaltungen gibt, die OfV besser beschreiben. Ggf. wäre es für weitere Studien auch interessant, den Big Five-Offenheitsfaktor weiter zu differenzieren, wie z.B. im BFAS (DeYoung, Quilty & Peterson, 2007), in dem die Facetten Intellekt und Offenheit differenziert werden; oder gar mit der sehr differenzierten Erfassung anhand des NEO-PI-R, in welchem bekanntermaßen jeweils sechs Subfaktoren erfasst werden.

Interessant ist schließlich, dass auch Gewissenhaftigkeit und Extraversion leicht positiv mit OfV zusammenhängen. In Anbetracht der Effektstärken sollten diese Zusammenhänge aber nicht überinterpretiert werden, möglicherweise könnten sie auch mit allgemeinen Tendenzen zur sozialen Erwünschtheit erklärt werden. Andererseits könnte für Extraversion argumentiert werden, dass OfV eine Komponente hat, die das Zugehen auf Menschen als wichtig ansieht und soziale Aspekte und Situationen genießt. Dies ist wünschenswert bei dem Konstrukt OfV im Kontext der beruflichen Anforderungen zukünftiger Lehrer und Lehrerinnen.

Die Zusammenhänge mit den hier erhobenen emotionalen Kompetenzen, insbesondere der mittlere bis fast schon hohe Zusammenhang mit Empathie entspricht der Erwartung und zeigt, dass Perspektivenübernahme (als Teil der Empathie) einen wesentlichen Aspekt von Offenheit für Vielfalt darstellen dürfte. Eher unerwartet sind vielleicht die zwar signifikanten, aber doch sehr kleinen Zusammenhänge für soziale Kompetenz und Emotionswahrnehmung, die schon eher für diskriminante als für konvergente Validität sprechen.

Erwartungskonform sind auch die teils (fast) hohen Zusammenhänge mit Autoritarismus und den entsprechenden Subskalen, vor allem der Aggressionssubskala.

In der Gesamtanalyse der Validität kann eine hohe Varianzaufklärung von OfV durch die analysierten Werthaltungen und Persönlichkeitsmerkmale über das Geschlecht – welches selbst 14% Varianzaufklärung leistet – hinaus erzielt werden. Von den in die Regression aufgenommenen Variablen liefern im letzten Schritt die meisten Variablen bis auf Benevolenz und Empathie noch signifikante Beiträge. Somit kann geschlossen werden, dass – wie vermutet – Offenheit für Vielfalt in der gegenständlichen Messung durch einen SJT tatsächlich eine Art ‚Amalgam‘ aus klassischen Persönlichkeitsmerkmalen (hohe Verträglichkeit), einer spezifischen, politisch-persönlichen Eigenschaft (geringem Autoritarismus) und einer hohen Werthaltung (in Universalismus) zu sein scheint. Die Zielsetzung der Entwicklung eines ökonomischen SJTs für OfV, das dieses Merkmal in einem Generalfaktor repräsentiert und eine ‚glückliche Kombination‘ aus Werten und Persönlichkeitsmerkmalen darstellt, scheint somit gelungen.

Der Nachweis einer konvergenten Validierung scheint für das vorliegende Instrument somit in einem ersten Ansatz erfolgreich; offen sind allerdings ggf. noch weitere Hinweise zur Abgrenzung von anderen konstruktfernen Merkmalen, also der diskriminanten Validität. Positiv ist diesbezüglich hervorzuheben, dass z.B. der Wert Hedonismus nicht mit OfV korreliert. Hedonistische Menschen zeichnen sich durch eine gewisse Offenheit für Neues aus (räumliche Nähe zum Motivator Offenheit für Wandel), sind aber individualistisch und nicht wie bei OfV am Wohlergehen der Gesamtheit orientiert. Das deutet wiederum darauf hin, dass OfV ein Konstrukt ist, welches prosozial orientiert ist und die Gleichheit aller betont.

Positiv ist im Hinblick auf die diskriminante Validierung auch zu vermerken, dass der Zusammenhang mit dem Big Five Faktor Offenheit – obgleich signifikant – nur gering ist, so dass OfV nicht einfach als eine ‚Spielart‘ oder eine Facette von allgemeiner Offenheit betrachtet werden kann. Mit anderen Worten: Man kann durchaus eine hohe OfV aufweisen, ohne generell Offenheit (im Sinne des Big Five-Merkmals) aufzuweisen. Und umgekehrt ist nicht jede ‚offene Person‘ auch ‚offen für Vielfalt‘. Vielmehr scheint es auf die ‚günstige Kombination‘ mit gewissen Werthaltungen (vor allem Universalismus) und mit einer autoritätskritischen Grundhaltung anzukommen.

Limitationen & Forschungsausblick

Als eine erste Limitation ist die hier untersuchte Strichprobe zu nennen: Diese bestand aus Schülern und Schülerinnen im Maturajahrgang. Dies hat den Vorteil, dass sich Lehramtsanwärter und -anwärterinnen, welche die potentiellen Anwender bzw. Anwenderinnen des SJT OfV darstellen, im gleichen Alter und in der gleichen Situation (Berufs- bzw. Studiumssuche) befinden. Die Validierungsstichprobe stellt somit eine solide Grundpopulation für den Einsatz in der Berufsorientierung dar. Diesbezüglich misst der Test aber das Merkmal OfV anhand einer jungen Grundgesamtheit, nicht an einer lehramtsspezifischen Stichprobe. Eine lehramtsspezifische Stichprobe könnte womöglich ohnehin bereits prosozial orientiert sein und dementsprechend höhere Durchschnittswerte in OfV erreichen. Daher wäre es wichtig, den SJT OfV noch an einer lehramtsspezifischen Stichprobe – Lehramtsstudenten und -studentinnen sowie berufstätige Lehrer und Lehrerinnen – zu überprüfen. Zudem handelt es sich in der vorliegenden Studie um eine österreichische Stichprobe, weshalb die Gültigkeit der Ergebnisse nicht ohne weitere Überprüfung für den gesamten deutschsprachigen Raum angenommen werden darf. Allerdings soll in weiteren Überarbeitungen der Test an einer deutschen Stichprobe validiert werden. Im Zuge dieser sollte zusätzlich auf eine ausreichend große Stichprobe geachtet werden, welche es ermöglicht die mehrdimensionale Faktorenstruktur nicht nur mit einer konfirmatorischen Faktorenanalyse, sondern auch mit einem mehrdimensionalen IRT Modell oder einem Bifaktormodell (Chen, West & Sousa, 2006) überprüfen.

Des Weiteren sind zusätzliche Validierungsbemühungen denkbar. Neben Validierungen anhand konstruktnaher Skalen wie z.B. der Pro-Diversity Beliefs Skale oder der MBESS oder Ambiguitätstoleranz sollte man ggf. auch ‚externe Validierungen‘ (z.B. anhand von Fremdeinschätzungen durch Peers) oder auch ‚Extremgruppenvalidierungen‘ andenken (z.B. Lehrer und Lehrerinnen, die bereits mit Randgruppen oder dem Thema Inklusion praktisch befasst sind, vs. solchen, für die das nicht zutrifft). In Betracht eines Einsatzes in der Berufsorientierung, wäre es zudem sinnvoll, weitere Validierungen im Bereich der Berufswahlmotive, z.B. dem Fragebogen zur Erfassung der Motivation für die Wahl des Lehramtsstudiums (Pohlmann & Möller, 2010) oder der Fit-Choice Scale (Watt & Richardson, 2007), vorzunehmen.

Erste Hinweise einer Außenvalidierung konnten hier gefunden werden: Zum einen konnte ein signifikanter Unterschied zwischen Männern und Frauen gefunden werden, der mit der diesbezüglichen Hypothese übereinstimmt. Frauen erreichen höhere Werte in OfV. Personen, die sich politisch eher links einordnen, zeigen ebenfalls höhere Werte in OfV. Da eher linksgerichtete Personen in der Regel auch libertärer oder antiautoritär eingestellt sind, scheint dieser Zusammenhang leicht zu erklären. Religiosität steht in keinem Zusammenhang mit OfV. Das ist erwähnenswert, da Religiosität häufig auch mit Konservatismus oder traditionelleren Einstellungen in Verbindung gebracht wird. Wie aber bei dem Wert Tradition zeigt sich hier kein Zusammenhang.

Bezüglich einer möglichen Weiterentwicklung des Instruments wären Überlegungen notwendig, welche weiteren Vielfaltsfaktoren mit einbezogen werden könnten, und dementsprechend angepasste Interviews zu führen. So sollte ein Interviewleitfaden speziell für die Themen moderne Lebensformen entwickelt werden. Denn zum Zeitpunkt der vorliegenden Testentwicklung (2016) war vermutlich die Sensibilisierung in Bezug auf Gendervielfalt bzw. LGBTQI (Lesbian, Gay, Bi, Trans, Queer und Intersex) noch nicht so weit entwickelt, dass die interviewten Lehrer und Lehrerinnen schon konkrete Erfahrungen mit diesen Themen haben konnten.

Ein hier ebenfalls noch vernachlässigter Vielfaltsaspekt scheint der sozioökonomische Status und eine daraus entstehende potenzielle Benachteiligung im schulischen Kontext zu sein. Bekanntermaßen sind Bildungsverläufe in vielen entwickelten mitteleuropäischen Ländern, wie auch in Deutschland und Österreich, vom sozioökonomischen und damit korreliertem Bildungshintergrund abhängig. Auch hierzu müsste man noch spezielle Interviews führen, um realitätsnahe und verständliche kritische Situationen generieren zu können.

Neben solchen Weiterentwicklungen und weiteren trait-bezogenen Validierungsbemühungen kann jedoch – wie von einem Gutachter angemerkt – auch hinterfragt werden, wieviel Variabilität bzw. Situationsabhängigkeit für das OfV-Konstrukt erwartet werden kann. Auch wenn die berichteten, relativ hohen Zusammenhänge mit Traits nahelegen, dass hier ein eher stabiles Merkmal gemessen wird, erscheinen tiefergehende Analysen state-bezogener Variationen von OfV wünschenswert, beispielsweise indem man Veränderungen der OfV durch Interventions- bzw. Sensibilisierungsmaßnahmen, wie entsprechenden Workshops, Schulungen etc. in experimentell kontrollierten Settings analysiert. Ätiologisch bzw. entwicklungspsychologisch könnte man zudem hinterfragen, inwieweit – auch Art und Umfang – vorangegangener Erfahrungen mit Randgruppen, benachteiligten bzw. diskriminierten Populationen OfV zu fördern vermögen. Interessant könnte hier auch eine Bezugnahme auf den neueren theoretischen Ansatz von Wundrack et al. (2018) sein, demzufolge eine höhere intraindividuelle Variabilität von Persönlichkeits-States die Fähigkeiten zur Perspektivenübernahme bzw. Empathie fördern könnten. Ohne auf die Details dieses interessanten neuen Ansatzes hier näher eingehen zu können, ließe sich für die hier wie ebendort analysierten Traits (z.B. Extraversion und andere Big-Five-Traits) vermuten, dass auch OfV durch eine intraindividuell höhere Trait-Variabilität über den Weg der Konfrontation mit ‚heterogeneren Umwelten‘ über längere Zeiträume bei Personen zu einer höheren OfV-Ausprägung führen könnte. Hingegen würden Personen mit geringerer State-Variabilität, z.B in Extraversion (bei gleichem mittlerem Niveau) weniger Erfahrungen im Umgang mit Randgruppen bzw. benachteiligten Populationen machen, was eine geringere OfV nach sich ziehen könnte.

Conclusio

Es kann geschlossen werden, dass die Entwicklung eines SJTs für ein theoretisch abgeleitetes und durch Interviews praktisch fokussiertes Merkmal Offenheit für Vielfalt für einen ersten Versuch in diese Richtung als durchaus gelungen bezeichnet werden kann. Es ist ein Test entstanden, der ein ‚Amalgam‘ aus relevanten Persönlichkeitsmerkmalen und Werthaltungen misst. Die Befunde stehen auch im Einklang mit den Konzepten von Toleranz, die von Blum (1999), wie auch von Graziano und Eisenberg (1997) postuliert wurden. Das Konstrukt OfV und seine Messung durch das hier vorgestellte SJT-Verfahren eröffnen neue Möglichkeiten sowohl für die weiteren Forschungen zu dem Merkmal OfV als auch für die Aus- und Fortbildung von Lehrern und Lehrerinnen sowie für einen Ansatz in der Berufsberatung oder ggf. in der Auswahl von Lehramtsstudenten und -studentinnen.

Diese Forschung basiert auf der Masterarbeit von Eva Maria Theurl, welche mit Unterstützung durch das OeNB-finanzierte Projekt „Einflussfaktoren auf Dropout, Studien- und Berufserfolg von Lehramtsstudierenden“ (Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, Projekt Nr. 17899) erstellt wurde.

Literatur