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Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000063

Wir möchten den in diesem Heft publizierten Beitrag über ADHS („ADHS – an der Nahtstelle zwischen Medizin und Pädagogik“, Romanos & Jans, 2014) zum Anlass nehmen, eine fachübergreifende Diskussion zu diesem Thema zu stimulieren. Der Artikel von Romanos und Jans wird in der nächsten Ausgabe von Lernen und Lernstörungen (Heft 3/2014) von mehreren Autoren verschiedener Fachrichtungen kommentiert. Ein Hauptziel unserer Zeitschrift Lernen und Lernstörungen liegt in der Verbesserung der Verständigung zwischen Forschung und Praxis und zwischen den unterschiedlichen, mit diesem weiten Themenspektrum befassten Fachdisziplinen. Das Thema ADHS eignet sich aus verschiedenen Gründen beispielhaft, die Notwendigkeit einer disziplinübergreifenden Kommunikation und Zusammenarbeit zu veranschaulichen.

Die Autoren dieses Beitrags betrachten das Phänomen, das im klinischen Kontext mit ADHS bezeichnet wird, aus ihrer medizinisch-kinderpsychiatrischen Perspektive und präsentieren die aktuell gängige Lehrmeinung dieses Fachgebietes zur Krankheitsdefinition, den Ursachen, der Diagnostik und der Behandlung. Nachdem ADHS lange Zeit primär ein Thema der Kinderpsychiatrie war, wird diese Diagnose und die darin implizierte medizinische Perspektive zunehmend auch im Erwachsenenalter häufiger gestellt. Dies spiegelt sich z. B. auch in der deutlichen Zunahme von Zulassungen für ADHS-Medikamente für dieses Altersspektrum wieder. Diese zunehmend kontrovers diskutierte medizinisch-psychiatrische Konzeption fasst das Phänomen ADHS als ein schicksalhaftes, mehr oder weniger einheitliches Störungsbild erblichen Ursprungs auf, das primär medizinisch-pharmakologischer Behandlung bedarf. Als solches hat es sich auch in den Köpfen von Eltern und Lehrern verankert, mit oft ungünstigen Folgen für die Entwicklung eines individuellen Störungsverstehens und -bewältigens (siehe auch Editorial in Heft 4/2012).

Neben der medizinischen Perspektive, die die öffentliche Meinung seit geraumer Zeit beherrscht, präsentieren sich aber zahlreiche andere wissenschaftlich begründete Perspektiven auf das Phänomen ADHS und die mit ihm zusammenhängenden Gegenstandsbereiche, freilich zumeist in unterschiedlichen Publikationswelten. Hier sind zuerst die Geistes- und Humanwissenschaften zu nennen mit inzwischen zahlreichen Disziplinen, die mit grundlagen- oder anwendungsbezogenen Fragestellungen in Kontakt zu diesem Themengebiet stehen. Bei den psychologischen Fächern sind die anwendungsbezogenen Berührungspunkte bei der Klinischen Psychologie und der Neuropsychologie besonders auffallend; sie stehen heute mit ihren Erkenntnis- und Arbeitsmethoden den medizinisch-psychiatrischen Disziplinen sehr nahe. So finden sich unter den Autoren der Beiträge in dem populären, von Günter Esser herausgegebenen Lehrbuch der Klinischen Psychologie und Psychotherapie bei Kindern und Jugendlichen mittlerweile mehr Mediziner als Nicht-Mediziner (Esser, 2008). Ein stärkerer Bezug zur Grundlagenforschung und zu geisteswissenschaftlichen Denktraditionen ist dagegen in der Entwicklungs- und der Kognitiven Psychologie sowie in der Allgemeinen Psychologie und der Persönlichkeitspsychologie erhalten geblieben. Die pädagogischen Fachgebiete schließlich haben schon definitionsgemäß einen starken Anwendungsbezug und formulieren ihre Konzeptionen traditionell mit Rückgriff auf psychologische und soziologische (auch sozialpsychologische) Grundbegriffe.

Aber auch aus der Philosophie, jener Disziplin, in der die Fundamente der Wissenschafts- und Erkenntnistheorie beheimatet sind, lassen sich interessante Entwicklungen und Stellungnahmen zu unserem Thema finden. So hat vor nicht allzu langer Zeit der Philosoph Christoph Türcke unter seinem Begriff der „konzentrierten Zerstreutheit“ das Spektrum der ADHS-Symptome als eine Art Anpassung an sich rasant verändernde Entwicklungsbedingungen für Kinder interpretiert, in der die Verarbeitung schneller Bildfolgen und medientechnischer Animation zunehmend dominiert (Türcke, 2012). In der jüngeren neurowissenschaftlichen Forschung zu den plastischen Anpassungsprozessen des sich entwickelnden Gehirns finden sich hierzu zahlreiche Entsprechungen.

Die relativ junge philosophische Teildisziplin „Philosophie der Biologie“ hat bemerkenswerte Analysen zur wissenschaftlichen Tauglichkeit verschiedener naturwissenschaftlicher Grundbegriffe geliefert. In der Einleitung zu ihrer bereits 2005 erschienenen „Philosophie der Biologie“ formulieren die Herausgeber Ulrich Krohs und Georg Töpfer: „… So manche gesellschaftlich geführte Debatte ist … von Missverständnissen und vom Bezug auf wissenschaftlich nicht mehr aktuelle Ansichten gekennzeichnet, etwa vom Dogma eines heute kaum noch haltbaren und darüber hinaus meist falsch verstandenen genetischen Determinismus …“ (Krohs & Töpfer, 2005; S. 7). Paradoxerweise erfährt der genetisch-deterministische Standpunkt besonders starken Widerspruch aus der eigenen Domäne, nämlich der biologischen Forschung. Das Gebiet der Epigenetik bringt zunehmend Erkenntnisse hervor, die belegen, wie bedeutsam Faktoren der individuellen Lebensumwelt und -erfahrung für die Aktivierung, die Deaktivierung und die Regulierung genetisch präformierter Informationen sind. Biographische Erfahrungen (z. B. früher Bindungsstress; siehe z. B. Poeggel, Nowicki & Braun, 2003) beeinflussen das ontogenetische Zusammenspiel zwischen Struktur- und Regulatorgenen und damit die individuelle Entwicklung offenbar wesentlich. Ein ebenso anschaulicher wie verständlicher Bericht über die jüngste epigenetische Forschung wurde kürzlich in der Zeitschrift Discover mit dem Titel „Grandma's experiences leave a mark on your genes!“ publiziert (DiscoverMagazine.com, discovermagazine.com/2013/may/13-grandmas-experiences-leave-epigenetic-mark-on-your-genes#.UhoARmthiK1). Wie es scheint, lassen sich sogar die unbestreitbaren verhaltensbezogenen Effekte der Stimulantienbehandlung bei ADHS mit Wirkungen auf den epigenetischen Zustand der Zelle und ihre neuroregulativen Funktionen in Zusammenhang bringen (siehe Jezierski, Zehle, Bock, Braun & Gruss, 2007).

Die Epigenetik hat bisher kaum Einfluss auf die medizinisch-psychiatrische Theoriebildung gefunden. Für die psychiatrischen Fächer wird es höchste Zeit, den eigenen Horizont für differentielle Erklärungs- und Behandlungskonzepte zu weiten. Selbstkritische Reflexionen, wie das kürzlich auch in deutscher Sprache erschienene Buch „Normal“ von Allen Frances (2013) geben Anlass zur Hoffnung.

Michael von Aster und Liane Kaufmann

Inhalte der aktuellen Ausgabe

Im „Fokus Forschung“ sind neben dem bereits erwähnten Übersichtsartikel von Romanos und Jans (2014) zum Thema ADHS noch zwei weitere Beiträge enthalten. Bei einem handelt es sich um eine empirische Arbeit von Brinkhaus et al. (2014) mit dem Titel „Subtypen-spezifisches Training bei Dyslexie: Eine fMRT-Studie zur Aufmerksamkeit“. Die Autoren gehen in dieser Studie der Frage nach, ob unterschiedliche Typen der Lesestörung auch hinsichtlich ihrer zerebralen Aktivierungsmuster voneinander differenzierbar sind. Ebenfalls im Fokus Forschung finden sich die gesammelten Kommentare zu dem 2013 abgedruckten Beitrag von Pixner und Kaufmann (2013) über den Zusammenhang von Prüfungsangst, Prüfungsleistung und Lebensqualität bei Grund- und Sekundarschülern. Der Kommentar von Kain und Kropf (2014) beruht auf einer primär entwicklungspsychologischen Perspektive und befasst sich unter anderem sehr kritisch mit den gewählten Untersuchungsmethoden. Lang (2014) bezieht sich in ihrem Kommentar vordergründig auf pädagogische und lerntherapeutische Implikationen der vorgestellten Ergebnisse, wobei die Autorin vor allem die aktuellen Maßnahmen der schulischen (meist quantitativen) Leistungsbewertung kritisch diskutiert. Schlussendlich geht Salandin (2014) aus neuropädiatrischer Sicht vor allem auf die mit Lernstörungen häufig assoziierten psychosomatischen Beschwerden ein (z. B. Spannungskopfschmerzen ohne organische Ursachen). Diese umfassenden und teilweise kritischen Anmerkungen werden von Pixner und Kaufmann (2014) in einer abschließenden Replik zusammengefasst und diskutiert.

Im „Fokus Anwendung“ setzen sich Siems und Weis (2014) in ihrem Beitrag „Lesen und Schreiben in mehrsprachigen Lerngruppen“ mit den Problemen von Lernenden auseinander, deren Erstsprache nicht Deutsch ist. Es werden Strukturen der deutschen Sprache und Schwierigkeiten im Lernprozess verdeutlicht und gleichzeitig ein Bezug zu anderen Sprachen hergestellt. Robering (2014) beschäftigt sich mit „Systemisch orientierten Interventionen in der Lerntherapie“. Sie geht davon aus, dass Veränderungen prinzipiell möglich sind und verdeutlicht ihr Vorgehen an Fallbeispielen. Sie betont, dass bereits Kinder und Jugendliche über Möglichkeiten zur Selbstorganisation und Problemlösung verfügen.

Liane Kaufmann, Ursula Chaudhuri und Marlies Lipka

Literatur