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Free AccessEditorial

Der Transfer zwischen Forschung und Praxis: Ein Dauerbrenner

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000336

Gerade in dieser Zeit sind wir wieder intensiv und alltäglich mit den diversen Schwierigkeiten des Wissenstransfers konfrontiert. Wir lernen viel Neues über Viren, Mutationen, das Immunsystem, Inzidenzen, Reproduktionszahlen u.a.m. Aber verstehen wir auch genug und richtig, um daraus angemessene Interpretationen und Schlussfolgerungen für den Alltag abzuleiten? Wie lassen sich ‚facts‘ von ‚fakes‘ unterscheiden, und wie können wir sicher sein, etwas zu wissen und nicht nur zu glauben, und, um mit Sokrates zu sprechen, auch zu wissen, was wir nicht wissen? Einer der wohl einflussreichsten Bildungsforscher unserer Zeit, Gerd Gigerenzer, beklagt seit langem die mangelnde -vor allem mathematische- Allgemeinbildung, die dazu führe, dass selbst Ärzte und Wissenschaftsjournalisten gesundheitswissenschaftliche Forschungsergebnisse nicht ausreichend verstehen und umsetzen können (Gigerenzer & Muir Gray, 2013; für eine aktualisierte englischsprachige Version dieser Schrift, siehe Gigerenzer & Muir Gray, 2021).

Wir haben das Thema des Wissenstransfers in der Domäne unserer Zeitschrift anhand eines aktuellen Artikels aufgegriffen, der in der Zeitschrift „Frontiers in Psychology“ kürzlich publiziert wurde (Simplicio et al., 2020). Simplicio und Kollegen beschäftigen sich in dieser Arbeit mit der Frage, ob und wie wissenschaftliche Erkenntnisse zum Lernen und zu Lernstörungen von den Erziehungswissenschaften und der Pädagogik genutzt werden können. Auch dieses Thema ist brandaktuell, aber auch nicht gänzlich neu.

Bereits im Jahre 2004 betonte eine britische Bildungsforscherin der Universität Cambridge (Usha Goswami), dass die beeindruckende technologische Entwicklung der letzten 100 Jahre wesentlich zu einem besseren Verständnis der Struktur und Funktion des menschlichen Gehirns beigetragen hat. Mithilfe der neuen Forschungsmethoden -allen voran der bildgebenden Verfahren wie der funktionellen Magnet-Resonanz-Tomografie (fMRT) und der ereigniskorrelierten Potentiale (EKP)- konnten bahnbrechende Einblicke in die Funktionsweise des menschlichen Gehirns am lebenden Menschen gewonnen werden (z.B. bei Kindern während des Lösens von Zahlenverarbeitungs- und Rechenaufgaben; für Übersichtsarbeiten, siehe Kaufmann et al., 2011; Kucian, 2016). Goswami (2004) war zudem eine der ersten Forscherinnen, die der Komplexität von (kindlichen) Lernprozessen durch eine sehr differenzierte Betrachtungsweise gerecht zu werden versuchte, indem sie weit über den eigenen Fachbereich (nämlich die Erziehungswissenschaften) hinausschaute und sowohl in ihren Forschungsbemühungen als auch in der Lehre einen interdisziplinären Ansatz vertrat, der zu dieser Zeit durchaus Neuheitswert hatte. Usha Goswami ist Direktorin eines Forschungslabors, das „Neuroscience in Education“ heißt und dessen primäres Ziel es ist, mithilfe von neurowissenschaftlichen Verfahren die Hirnentwicklung (vor allem in Bezug auf typische und atypische Lernprozesse) noch besser zu verstehen. Goswami war auch eine Vorreiterin in Hinblick auf die drängende Frage, ob und wie die Erkenntnisse der neurowissenschaftlichen Disziplinen für die Erziehungswissenschaften und die Didaktik genutzt werden können (Goswami, 2004, 2006).

Dieser nach nunmehr eineinhalb Jahrzehnten immer noch brennenden Frage nach dem Transfer von neurowissenschaftlichen Erkenntnissen in die pädagogische Praxis widmet sich der aktuelle Beitrag von Simplicio et al. (2020). Am Beispiel des Mathematikunterrichts diskutieren die Autoren, ob die bisherigen Erkenntnisse der Grundlagen- und angewandten Forschung – zumindest teilweise – in den Klassenzimmern angekommen sind. Gemäß Simplicio et al. (2020) gibt es ein zunehmendes wissenschaftliches Interesse an Fragestellungen, welche die Effektivität von Unterrichtsmethoden und Fördermaßnahmen betreffen (ersichtlich an der Anzahl publizierter Studien und entsprechender Meta-Analysen). Allerdings sind diese Studienergebnisse zum Einen sehr vielfältig (d.h. untersuchen sehr unterschiedliche Denkprozesse, Unterrichtsmethoden und Förderkonzepte) und zum Anderen kaum miteinander vergleichbar (aufgrund von Unterschieden bezüglich der Studienteilnehmer, der verwendeten Test- und Fördermethoden, der angewendeten statistischen Verfahren, der zugrunde liegenden theoretischen Erklärungsansätze etc.). Zudem gibt es gerade bei der Erforschung von schulspezifischen Fertigkeiten wie Rechnen, Lesen oder Schreiben deutliche sprach- und kulturspezifische Unterschiede (beispielsweise in Bezug auf die Inversion oder Nicht-Inversion von mehrstelligen Zahlwörtern und die Transparenz der Graphem-Phonem-Korrespondenz; sowie in Hinblick auf länderspezifische Unterrichtsmethoden und Lehrpläne etc.).

Nichtsdestotrotz betonen Simplicio et al. (2020) die Notwendigkeit zukünftiger Forschung, die direkt am Bedarf orientiert ist und daher auch im Klassenzimmer durchgeführt werden soll. Dieser Ansatz bringt sowohl für die Wissenschafter_innen als auch für die Pädagog_innen und Schüler_innen große Herausforderungen mit sich, da jede Studie naturgemäß den regulären Unterrichtsablauf stört und „in Unordnung“ bringt. Zudem verändert jede Testsituation (sprich wissenschaftliche Untersuchung) die natürliche Dynamik zwischen Lehre und Lernen (bzw. zwischen Lehrenden und Schülern). Da die Wissenschafter in der Regel ihre Forschungsresultate auch publizieren wollen, müssen sie multiple Untersuchungsmethoden anwenden, um die interessierenden Effekte und potentielle Störfaktoren bestmöglich identifizieren zu können. Die Notwendigkeit dieser wissenschaftlichen Vorgehensweise ist zwar nachvollziehbar, häufig jedoch nur schwer vereinbar mit dem regulären Schulablauf.

Im Idealfall sollen die Forschungsergebnisse jedoch dazu beitragen, (a) ein besseres Verständnis von Lernschwierigkeiten zu erlangen, und (b) die Unterrichtsqualität und die Effektivität von Fördermaßnahmen zu verbessern. Simplicio und Kollegen (2020) erläutern, wie eine Integration von relevanten Forschungsergebnissen in die pädagogische Praxis funktionieren kann. Ausgangspunkt dieser so genannten Adaptationsschleife (adaptation loop) ist die Identifikation von Problemen der pädagogischen Praxis, die in relevante Forschungsfragen „übersetzt“ werden müssen. Diese Forschungsfragen sollten dann fächerübergreifend (z.B. von den Erziehungs- und Neurowissenschaften sowie der kognitiven Psychologie) untersucht werden. Diese Ergebnisse können dann genutzt werden, um Erklärungsmodelle zu generieren, die ihrerseits in die pädagogische Praxis reintegriert werden, um dort „pädagogische Lösungen“ zu generieren. Die Anwendung dieser neuen pädagogischen Lösungen bzw. (Teil)Konzepte muss nun in Hinblick auf ihre Wirksamkeit überprüft werden und im Falle eines positiven Bescheids können die bis dato verwendeten Erklärungsmodelle modifiziert und erneuert werden (Simplicio et al., 2020). Die Autoren betonen zudem, dass angesichts dieser komplexen und ressourcenaufwändigen Vorgehensweise vorab eine Kosten/Nutzen Rechnung durchgeführt werden sollte, welche sowohl die Kosten für die Schüler/Lehrer/Schulen als auch den Nutzen (sprich Erkenntnisgewinn) der Wissenschafter berücksichtigen muss. Explizit angesprochen wird auch die Notwendigkeit, dass sich die Grundlagenforschung an den tatsächlichen Problemstellungen der pädagogischen Praxis orientieren müsse („use-inspired basic research“), damit die Forschungsergebnisse ökologisch valide und bestmöglich in der pädagogischen Praxis umsetzbar sind. Das Fazit dieses Beitrags ist, dass der Brückenschlag zwischen Forschung und pädagogischer Praxis am ehesten mittels fächerübergreifender Zusammenarbeit gelingt (Simplicio et al., 2020).

Wir stimmen diesem Plädoyer voll und ganz zu! Die bisherigen Erfahrungen mit unserer Zeitschrift „Lernen und Lernstörungen“ (die im Jahre 2012 mit dem Ziel gegründet wurde, wissenschaftliche Ergebnisse für Praktiker und Nicht-Wissenschafter verständlich aufzubereiten) hat uns jedoch immer wieder vor Augen geführt, wie komplex dieses Unterfangen ist. Zu den größten Herausforderungen einer fächerübergreifenden Kommunikation zählen unserer Meinung nach nicht nur die fachspezifischen Unterschiede hinsichtlich der Begrifflichkeiten, Vorgehensweisen und konzeptuellen Grundlagen. Die größte Herausforderung liegt im Gegenstand der Untersuchung selbst: der Komplexität des menschlichen Gehirns und der Lern- und Denkprozesse, die das Gehirn steuert. In Übereinstimmung mit Simplicio et al. (2020) wünschen wir uns, dass zukünftige Forschungsbemühungen noch mehr als bisher die tatsächlichen Fragestellungen des pädagogischen Alltags aufgreifen und von diesen ausgehend, ökologische, zumutbare und nachprüfbare Untersuchungsdesigns entwickeln. Eine solche Vorgehensweise erfordert eine fächerübergreifende Zusammenarbeit, und zwar vom Anfang (d.h. von der Identifikation relevanter Fragestellungen) bis zum Ende (d.h. einschließlich der Planung von Untersuchungsdesigns- und –methoden bis zur Ergebnisdarstellung und der Dissemination dieser Ergebnisse).

Und um zum Bild der Virologie zurückzukommen: Die Zellen der Forschung und Praxis benötigen Rezeptoroberflächen, die einen echten Austausch mit Perspektivenübernahme, also ein wechselseitiges Mitteilen und Verstehen von Denk- und Arbeitsweisen, von Problem- und Fragestellungen sowie von Ergebnissen und Erkenntnissen besser möglich machen. Dies sollte im Sinne von Gigerenzer das Anliegen einer guten Allgemeinbildung sein.

Inhalte der aktuellen Ausgabe

Zwei Beiträge der aktuellen Ausgabe sind Interventionsstudien. Im Beitrag von Schöfl, Winkler und Weber (2021) wird das Projekt FömaK (Förderung mathematischer Kompetenzen) vorgestellt. Die Hauptziele dieses groß angelegten Pilotprojekts sind (i) die Identifikation von diagnostischen Maßnahmen oder Maßnahmenkombinationen (standardisierte Testverfahren, qualitative Rechenverfahren, Leistungseinschätzung durch Pädagog_innen) zur bestmöglichen Erkennung von Risikokindern (also Kindern mit Rechenschwächen); und (ii) die Untersuchung der Effektivität eines von Pädagog_innen geleiteten Förderprogramms.

Griepenburg, Schuchardt, Lautenschläger und Mähler (2021) untersuchen die Wirksamkeit einer kindgerechten (d.h. teilstandardisierten und mit Bildmaterial gestützten) Psychoedukation bei 63 Kindern mit diagnostizierten Lernstörungen. Die Ergebnisse zeigen, dass sowohl die betroffenen Kinder als auch deren Eltern von der Psychoedukation profitieren (u.a. in Hinblick auf das Wissen über die Pathogenese von Lernstörungen, das subjektive Wohlbefinden und die Compliance).

Im dritten Beitrag dieser Ausgabe wird der Frage nachgegangen, ob Kinder mit komorbiden Lernstörungen mehr kognitive Defizite aufweisen als Kinder mit isolierten Lernstörungen (Kißler, Schwenk & Kuhn, 2021). Die Ergebnisse dieser methodisch anspruchsvollen Untersuchung von 133 Grundschulkindern bestätigen, dass Kinder mit kombinierten Lese- und Rechenstörungen –im Vergleich zu solchen mit isolierten Lernstörungen- additive kognitive Profile aufweisen.

Börnert-Ringleb und Wilbert (2021) widmen sich in ihrer Übersichtsarbeit der Frage, wie gut die Rechen- und Leseleistungen von Kindern und Jugendlichen durch dynamisches Testen vorhergesagt werden können. Der Begriff des „dynamischen Testens“ bezeichnet einen diagnostischen Algorithmus, mit Hilfe dessen Lernpotentiale differentiell und praxisnah identifiziert werden können (und zwar unabhängig von kultur- oder bildungsspezifischen Unterschieden).

Literatur

  • Börnert-Ringleb, M. & Wilbert, J. (2021). Die Vorhersage von Mathe- und Leseleistungen durch dynamisches Testen. Lernen und Lernstörungen , 10 (2), 102–113. First citation in articleAbstractGoogle Scholar

  • Gigerenzer, G. , & Muir Gray, J. A. (Hrsg.) (2013). Bessere Ärzte, bessere Patienten, bessere Medizin. Aufbruch in ein transparentes Gesundheitswesen . Berlin: MWV. First citation in articleGoogle Scholar

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  • Griepenburg, C. , Schuchardt, K. , Lautenschläger, P. & Mähler, C. (2021). Wirksamkeit einer strukturierten, kindgerechten Psychoedukation bei Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen , 10 (2), 75–87. First citation in articleAbstractGoogle Scholar

  • Kaufmann, L. , Wood, G. , Rubinsten, O. , & Henik, A. (2011). Meta-analysis of developmental fMRI studies investigating typical and atypical trajectories of number processing and calculation. Developmental Neuropsychology , 36 , 763–787. First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

  • Kißler, C. , Schwenk, C. & Kuhn, J.-T. (2021). Zur Additivität kognitiver Defizitprofile bei komorbiden Lernstörungen. Lernen und Lernstörungen , 10 (2), 89–101. First citation in articleAbstractGoogle Scholar

  • Kucian, K. (2016). Developmental dyscalculia and the brain. In Berch, D. B.Geary, D.Mann Koepke, K. (Eds.) ( 2nd Ed. ), Development of mathematical cognition: neural substrates and genetic influences (pp. 165–193) . Amsterdam: Elsevier. First citation in articleGoogle Scholar

  • Schöfl, M. , Winkler, K. & Weber, C. (2021). Projekt FömaK – Förderung mathematischer Kompetenzen. Lernen und Lernstörungen , 10 (2), 63–74. First citation in articleAbstractGoogle Scholar

  • Simplicio, H. , Gasteiger, H. , Vargas Dorneles, B. , Grimes, K. R. , Haase, V. G. , Ruiz, C. et al. (2020). Cognitive research and mathematics education – How can basic research reach the classroom? Frontiers in Psychology , 11 , 773. doi: 10.3389/fpsyg.2020.00773 First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

PD Dr. Liane Kaufmann, Institut für Psychologie, Universität Innsbruck, Bruno-Sander-Haus, 6020 Innsbruck, Österreich,
Prof. Dr. Michael von Aster, DRK Kliniken Berlin | Erziehung und Bildung GmbH, Zentrum für Schulische und Psychosoziale Rehabilitation (ZSPR), Spandauer Damm 130, 14050 Berlin, Deutschland,