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DGPs-Kommission „Studium und Lehre“ der DGPs. Die Lehre von heute ist die Forschung von morgen

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000564

DGPs-Kommission „Studium und Lehre“ der DGPs

Die Lehre von heute ist die Forschung von morgen

Bevor wir inhaltlich zum Positionspapier von Brachem et al. (2022) Stellung beziehen, möchten wir den Autorinnen und Autoren – Studierenden, die sich als Vertreterin bzw. Vertreter ihrer jeweiligen lokalen Fachschaft aus eigenem Interesse mit Themen wie „Open Science“, Forschungspraktiken und der Replizierbarkeitsdebatte in der Psychologie beschäftigen – unseren Dank und unsere Anerkennung aussprechen: die genannten Themen treiben nicht nur Forschende und Lehrende, sondern auch Studierende um. Dass diese sich proaktiv darum bemühen, die Diskussion voranzubringen und gemeinsam mit ihren Dozierenden nach guten Lösungen zu suchen, ist ein ermutigendes Zeichen. Die Replizierbarkeitsdebatte stellt eine immense Herausforderung dar, nicht nur für die Forschung, sondern auch für die Lehre. Und die Studierenden, die wir heute ausbilden, werden – zumindest einige davon – die Forschenden von morgen sein. Insofern sind Forschung und Lehre gerade bei diesem Thema eng miteinander verbunden, und gerade das macht den Beitrag von Brachem et al. (2022) so wertvoll.

Die Ergebnisse der Umfrage, die die Autorinnen und Autoren im Winter 2018/2019 unter Psychologiestudierenden in Deutschland durchgeführt haben, sind informativ und interessant. Was ihre Interpretation und die Folgerung aus den Ergebnissen angeht, gibt es mehrere Lesarten. Eine erste Lesart lautet: Problem erkannt und (beinahe) gelöst. Drei von vier befragten Studierenden berichten, dass die Replizierbarkeitsdebatte in ihrem Studium thematisiert wird bzw. worden ist – eine hohe Quote, die inzwischen wahrscheinlich sogar noch höher geworden ist. Forschungspraktiken, die negativ mit der Robustheit eines beobachteten Effekts zusammenhängen, haben in studentischen Projekten alles in allem eine geringe Prävalenz: in Masterarbeiten beispielsweise mangelt es, wenn überhaupt, gerade einmal an einer soliden Stichprobenumfangsplanung. Präregistrierungen sind auf dem Vormarsch. Die außerordentlich hohe Relevanz, die den Themen „Open Science“ und Replizierbarkeit eingeräumt wird (s. Abb. 4 im Target-Artikel), zeigt, dass Studierende für diese wichtigen Themen erfolgreich sensibilisiert wurden. Die relativ hohe Anzahl an Studierenden, die sich ausreichend informiert fühlt (ca. 66 %), macht deutlich, dass Dozierende ihrer diesbezüglichen Verantwortung weitgehend gerecht geworden sind. Diese Lesart würde den Schluss nahelegen: prima, weiter so! (Und dass sich die positiven Trends fortsetzen mögen, wünschen wir uns in der Tat nachdrücklich!)

Eine zweite Lesart lautet: Es gibt noch viel zu tun. Selbst in Experimental- / Empiriepraktika, in denen die durchgeführten Forschungsprojekte typischerweise engmaschiger betreut und angeleitet werden als im Falle von Masterarbeiten, werden Befunde noch immer eher selektiv berichtet, Daten „flexibel“ analysiert und die Analyseprozeduren nur selten präregistriert. Nun sind solche empirischen Praktika einigen logistischen Herausforderungen unterworfen: oft ist dieses Praktikum für Studierende die erste Annäherung an selbstständiges wissenschaftliches Arbeiten – die Klärung der Fragestellung und die Formulierung der Hypothese können daher zeitaufwändiger sein als bspw. bei Abschlussarbeiten; die Gruppenarbeit bringt Koordinationsverluste mit sich; die Durchführung des Projekts ist aufgrund Zeitmangels nicht immer optimal; die erforderliche Stichprobengröße zur Aufdeckung eines Effekts wird oft nicht erreicht etc. Hinzu kommt, dass die Betreuung eines empirischen Praktikums für Lehrende aufwändig und herausfordernd sein kann.

Gerade wegen dieser Herausforderungen sind lokale Qualitätssicherungsmaßnahmen notwendig. Brachem et al. (2022) haben beispielsweise die Etablierung eines „Kerncurriculums“ für empirische Praktika am jeweiligen Institut vorgeschlagen. Das bedeutet, dass alle Kursleiterinnen und Kursleiter den Studierenden die Praktiken (1) der Stichprobenumfangsplanung, (2) der Präregistrierung, (3) der Datenbereitstellung und (4) der Datendokumentation nahebringen und die Studierenden dazu motivieren sollen, diese Praktiken auch anzuwenden. Materialien hierzu werden allen Kursverantwortlichen zur Verfügung gestellt1. Qualitätssicherung im empirischen Praktikum bedeutet aber auch, gerade jenen Dozierenden, die noch wenig Erfahrung in der Lehre haben, Unterstützung anzubieten, etwa im Zuge einer Peer-Supervision oder eines „Crash-Kurses“ (Do’s und dont’s beim EmPra). Das alles soll keineswegs eine Einschränkung der Freiheit von Forschung und Lehre implizieren. Vielmehr würden solche Qualitätssicherungsmaßnahmen beim empirischen Praktikum unseres Erachtens dem hohen Stellenwert des Empiriepraktikums im Studium eher gerecht werden.

Zurück zum Target-Artikel von Brachem et al. (2022). Man kann den beiden genannten Lesarten noch eine dritte hinzufügen. Sie lässt sich wie folgt beschreiben: Methodische Praktiken sind das eine; kritisches Denken und „konzeptuelle Praktiken“ sind das andere. Wir sind überzeugt davon, dass eine umfassende Reflexion der Replizierbarkeitsdebatte ein Verständnis wissenschaftstheoretischer, -historischer und -soziologischer Konzepte (und natürlich methodischer Grundlagen) erfordert. Es genügt nicht, Studierenden zu zeigen, wie sie ihre Hypothesen präregistrieren, wenn sie nicht verstehen, was eine Hypothese überhaupt ist, wie man sie formuliert, und wann es überhaupt angezeigt ist, Hypothesen zu testen und wann nicht (Scheel et al., 2021). Es genügt nicht, ihnen Tools zur Berechnung des optimalen Stichprobenumfangs zu zeigen, wenn sie nicht verstehen, was ein Populationseffekt ist, wie man ihn festlegt und ob er überhaupt festzulegen ist. Und es genügt nicht, sie mit „geringen Replikationsraten“ zu erschrecken, wenn man ihnen nicht gleichzeitig erklärt, dass „perfekte Replizierbarkeit“ in vielen Fällen weder ein sinnvoller noch ein realistischer Zielzustand ist (Ulrich et al., 2016).

Themen wie „Open Science“, Replizierbarkeit, Forschungspraktiken müssen behandelt werden, aber sie müssen eingebettet sein in ein umfassendes wissenschaftstheoretisches Ausbildungskonzept. Der ideale Ort hierfür wäre das Modul „Einführung in die Psychologie“, für dessen Erhalt sich die Kommission „Studium und Lehre“ der DGPs immer wieder stark gemacht hat, das aber leider an vielen Standorten dem Rotstift zum Opfer gefallen ist (Abele-Brehm et al., 2014). Alternativ sollten diese Themen möglichst frühzeitig im Studium in anderen Modulen abgedeckt werden, etwa im Rahmen der Methoden- und Statistikausbildung. Aufbauend darauf sollten diese Themen im Master vertieft und praktisch eingeübt werden, so dass spätestens mit der Masterarbeit keine der verwendeten Praktiken noch als fragwürdig zu bezeichnen ist.

Literatur

  • Abele-Brehm, A., Bühner, M., Deutsch, R., Erdfelder, E., Fydrich, T., Gollwitzer, M. et al. (2014). Bericht der Kommission „Studium und Lehre” der Deutschen Gesellschaft für Psychologie. Psychologische Rundschau, 65, 230 – 235. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000226 First citation in articleLinkGoogle Scholar

  • Brachem, J., Frank, M., Kvetnaya, T., Schramm, L. F. F. & Volz, L. (2022). Replikationskrise, p-hacking und Open Science. Eine Umfrage zu fragwürdigen Forschungspraktiken in studentischen Projekten und Impulse für die Lehre. Psychologische Rundschau, 73, 1 – 17. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000562 First citation in articleGoogle Scholar

  • Scheel, A. M., Tiokhin, L., Isager, P. M. & Lakens, D. (2021). Why hypothesis testers should spend less time testing hypotheses. Perspectives on Psychological Science, 16, 744 – 755. https://doi.org/10.1177/1745691620966795 First citation in articleCrossrefGoogle Scholar

  • Ulrich, R., Erdfelder, E., Deutsch, R., Strauß, B., Brüggemann, A., Hannover, B. et al. (2016). Inflation von falsch-positiven Befunden in der psychologischen Forschung: Mögliche Ursachen und Gegenmaßnahmen. Psychologische Rundschau, 67, 163 – 174. https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000296 First citation in articleLinkGoogle Scholar