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Free AccessDiskussionsforum

Open Science in der Lehre – ein Kulturwandel mit systemimmanenten Hürden

Published Online:https://doi.org/10.1026/0033-3042/a000578

Open Science in der Lehre – ein Kulturwandel mit systemimmanenten Hürden

Als Autor_innen des Leitartikels „Replikationskrise, p-hacking und Open Science – Eine Umfrage zu fragwürdigen Forschungspraktiken in studentischen Projekten und Impulse für die Lehre“ (Brachem et al., 2022) bedanken wir uns herzlich für die eingegangenen Kommentare im Rahmen des Diskussionsforums der Psychologischen Rundschau. Die Anzahl von 16 Kommentaren, darunter allein elf aus den Fachgruppen und dem Vorstand der Deutschen Gesellschaft für Psychologie (DGPs), sprechen für eine hohe Resonanz unseres Artikels. Dass sich auch Vertreter_innen eines Forschungsdatenzentrums (Neuendorf et al., 2022) und ein Studierender (Grüning, 2022) an der Debatte beteiligen, zeigt die inhaltliche Bandbreite des Diskurses auf. Die Beiträge liefern wichtige Impulse für eine Neugestaltung der Lehre mit größerem Schwerpunkt auf Open Science. In unserer Replik setzen wir uns zuerst mit den Reaktionen auf unsere Handlungsempfehlungen auseinander, thematisieren das Zusammenspiel von Theorie und Methodik, gehen anschließend auf ausgewählte Herausforderungen bei der Umsetzung von Open Science in den Anwendungsdisziplinen ein und beantworten Nachfragen zur Methodik unserer Arbeit, um mit einem Ausblick zur Weiterentwicklung der Lehre zu enden.

In unseren Handlungsempfehlungen sprechen wir uns u. a. für die möglichst frühzeitige Behandlung der Replikationskrise sowie ihrer Ursachen und Lösungsansätze und die Vermittlung von Open Science-Praktiken im Studium aus. Letztere sollte nicht nur auf die Methoden- und Statistikveranstaltungen begrenzt sein, sondern auch die Grundlagen- und Anwendungsfächer durchdringen. Es freut uns sehr, dass diese weitreichenden Impulse für die Lehre auf außerordentlich positive Rückmeldungen gestoßen sind. So wird in den Kommentaren des Vorstands der DGPs (Bühner et al., 2022) sowie der Kommission Studium und Lehre (Gollwitzer et al., 2022) starke Unterstützung für den von uns gewünschten Kulturwandel deutlich. Auch die Vertreter_innen der Fachgruppen betonen die Relevanz von Open Science in ihren jeweiligen Fachbereichen und nehmen die Verantwortung an, diese Inhalte in der Lehre zu vermitteln.

Eine wichtige Rolle spielt auch für uns die Einbettung der Open Science-Praktiken in einen größeren wissenschaftstheoretischen Rahmen. Somit begrüßen wir die Position von Gollwitzer et al., (2022) und Lange et al. (2022), dass die Behandlung der Replikationskrise sowie die Vermittlung von Open Science-Praktiken im Psychologiestudium nur vor dem Hintergrund einer wissenschaftstheoretischen Basis fruchtbar sein kann. Es bedarf der Verbindung einer fundierten methodischen Ausbildung mit einem wissenschaftstheoretischen Verständnis der eigenen Disziplin, die zu Theoriebildung und kritischem Denken befähigt. Bezogen auf unsere zweite Empfehlung präzisiert der Kommentar von Lange et. al. die wichtige Unterscheidung zwischen Phänomen und Theorie. Während aber einzelne revidierte Phänomene eine Theorie nicht notwendigerweise direkt unbrauchbar machen, sollte diese dennoch Erklärwert für replizierbare Phänomene liefern. Das „Haus der psychologischen Forschung“ braucht sowohl solide empirische Bausteine, wie auch die Baupläne der Theorieentwicklung, um uns einer Metapher1 von Poincaré (Muthukrishna & Henrich, 2019) zu bedienen. Dass Theorien weniger belastbar sind, wenn die Replizierbarkeit der primär dadurch erklärten Phäomene zweifelhaft ist, muss sich in der psychologischen Lehre und dem Wissenschaftskanon widerspiegeln. Unsere Handlungsempfehlung fordert ein in diesem Sinne kritisch-reflektierendes Überarbeiten von Lehrinhalten.

Viele der eingegangenen Kommentare, v. a. aus den Fachgruppen der DGPs, gehen darauf ein, wie eine Umsetzung unserer Empfehlungen in den Anwendungsfächern aussehen kann und welche fachspezifischen Herausforderungen dabei zu berücksichtigen sind. So befassen sich beispielsweise Lonsdorf et al. (2022) mit den Themen Reproduzierbarkeit und Open Science in der Lehre bio- und neuropsychologischer Disziplinen. Ihre Ausführungen zum Umgang mit der Auswertungsflexibilität von neuropsychologischen Daten (z. B. fMRT-Daten) spiegeln die Notwendigkeit spezifischer Lösungen wider. Lonsdorf et al. (2022) wie auch Lueken et al. (2022) weisen außerdem auf die besonderen Herausforderungen bei der Bereitstellung sensibler Daten als Open Data hin. In diesem Kontext möchten wir auf die zweite Fassung der Datenmanagement-Empfehlungen der DGPs (Gollwitzer et al., 2021) aufmerksam machen, die auch für die Bereitstellung von sensiblen Daten unter Achtung der FAIR-Prinzipien durch die Wahl von entsprechenden Zugriffsklassen Lösungen aufzeigt. Da diese umfangreich ausfallen und ihre Anwendung in der Praxis sicherlich Übung bedarf, wäre ihre Vermittlung und praktische Anwendung in der Lehre für die Studierenden sicherlich bereichernd.

Im Diskussionsforum wurden vielfältige Vorschläge geäußert, wie weitere Open Science-Praktiken in der Lehre implementiert werden können. Diese umfassen den Mehrwert von Sekundäranalysen (Neuendorf et al., 2022), die Nutzung von Open Educational Resources (OER) als Alternative zu traditionellen Lehrbüchern (Kretzschmar et al., 2022) sowie die Bedeutung der Vernetzung von Studierenden und Dozierenden in Open Science Initiativen (Grüning, 2022). Hervorheben möchten wir außerdem den Kommentar von Loenneker et al. (2022), der sehr konkrete Vorschläge macht, wie Open Science-Praktiken in die aktuellen Curricula eingebettet werden können.

Sparfeldt et al. (2022) führen in ihrem Kommentar einige Fragen zur Methodik unserer Studie aus. In Bezug auf den Selbstselektionseffekt der Stichprobe sind wir der Auffassung, dass dieser eher zu einer Unterschätzung der Prävalenz fragwürdiger Forschungspraktikum führt. Es ist anzunehmen, dass unsere Umfrage eher Studierende attrahiert, die sich für Open Science und Methodik interessieren und damit wahrscheinlich auch für eine korrekte Anwendung von Forschungspraktiken bereits stärker sensibilisiert sind. Wie in unserem Artikel beschrieben, wurde vor der Datenerhebung ein Mindestumfang von 500 Teilnehmenden festgelegt, der mit der realisierten Stichprobe von 1397 deutlich überschritten wurde. Nachdem die Auswertung der Umfrage in erster Linie deskriptiv und explorativ durchgeführt werden sollte, wurden im Vorfeld keine Effektgrößen postuliert, die zu einer Stichprobenumfangsplanung hätten herangezogen werden können. Da die Abfrage der QRP-Prävalenz nicht auf latente Konstrukte abzielt, sondern anhand von manifest beobachtbarem Verhalten erfolgte, ist die Kritik einer fehlenden psychometrischen Überprüfung der Messung nicht anwendbar. Dies ändert sich auch nicht durch die Summenbildung zur Aggregierung der Ergebnisse. Ein Referenzrahmen für die Einschätzung des Interesses, der Wichtigkeit sowie der eigenen Informiertheit der Befragten wird in unserer Studie nicht definiert. Dennoch sind die Werte der drei Items in Relation zueinander interpretierbar und somit aussagekräftig.

Wingen und Berkessel (2022) beschäftigen sich mit möglichen negativen Folgen der Kommunikation der Replikationskrise und einem damit einhergehenden Vertrauensverlust in die Wissenschaft. Von den Autor_innen zitierte Studien nennen einen Verlust des Ansehens von Wissenschaftler_innen sowie der Forschungsgemeinschaft als Folge von mangelnder Replizierbarkeit im Fach. Dies darf aus unserer Sicht aber nicht als Argument verwendet werden, um die Vermittlung dieser Problematik nur mit „Samthandschuhen“ zu erlauben. Das Vertrauen in wissenschaftliche Erkenntnisse muss sich die wissenschaftliche Gemeinschaft verdienen. Studierende haben ein Anrecht darauf, bereits ab Beginn ihres Studiums „reinen Wein“ eingeschenkt zu bekommen. Dazu gehört auch eine differenzierte Sichtweise auf vermeintlich etablierte Effekte in Lehrbüchern, die durch aktuelle Replikationsstudien fraglich erscheinen. Auch teilen wir nicht die Einschätzung des Kommentars, dass die Studierenden durch diese ungeschönte Sicht auf ihr eigenes Fach frustriert oder gar vom Studium abgeschreckt werden. Vielmehr haben wir die Erfahrung gemacht, dass das Zulassen von Graustufen bei der Vermittlung von Evidenz in der Lehre befreiend auf die Studierenden wirken kann.

Abschließend stellt sich uns die Frage, was von der Debatte bleibt und wie es nun in konkreten Schritten weitergehen soll. Gerade vor dem Hintergrund der positiven Rückmeldungen im Diskussionsforum möchten wir vor der Gefahr warnen, in eine Wohlfühldebatte abzugleiten, die kritische Fragen zur Umsetzung ausblendet. Es ist nicht ausreichend, dass alle Beteiligten übereinstimmen, dass die Behandlung der Replikationskrise und die Vermittlung von Open Science-Praktiken unverzichtbare Merkmale zeitgemäßer Ausbildung sind. In ihrem Kommentar weisen Loenneker et al. (2022) auf die systemimmanente Problematik hin, dass die Vermittlung offener Forschungspraktiken „erheblichen zusätzlichen Aufwand für Studierende und Lehrende ohne Anerkennung durch Credits oder Lehrdeputate“ bedeutet. Wenn bestehende Curricula überarbeitet werden müssen, um der Behandlung von Open Science mehr Raum zu geben, muss geklärt werden, wer diese Aktualisierung durchführt und welche Lehrinhalte in den Hintergrund rücken. Daraus ergibt sich neben den zentralen sechs Handlungsempfehlungen unseres Leitartikels die Notwendigkeit das akademische Anreizsystem in den Blick zu nehmen, da sich die Frage nach der Erneuerung der Lehre nicht losgelöst von der Betrachtung der Umstände, unter denen an den Hochschulen gearbeitet wird, beantworten lässt.

Aktuell sind die Karrierechancen in der Wissenschaft maßgeblich vom individuellen Forschungsoutput abhängig. Wir befürworten in diesem Kontext die Initiative des DGPs-Vorstands, Änderungen des Wissenschaftssystems herbeizuführen (Bühner et al., 2022). Diese dürfen sich jedoch nicht nur darauf beschränken, die Qualität der Forschung zu verbessern – es muss in diesem Zusammenhang auch die Förderung von Engagement in der Lehre stärker in den Vordergrund rücken. Wenn die Verwendung zeitlicher Ressourcen zur Erneuerung der Lehre für Dozierende zum Nachteil für ihre wissenschaftliche Laufbahn wird, liegt ein grundlegendes Problem im Anreizsystem vor.

Wir plädieren daher dafür, dass die DGPs die Umsetzung des mit großer Mehrheit unterstützten Kulturwandels in der Ausbildung der Studierenden nicht dem Zufall und dem persönlichen Engagement vieler Dozierender in befristeten Teilzeitverträgen überlässt. Es ist notwendig, sowohl die Lehre zu erneuern als auch proaktiv Anreizstrukturen zu schaffen, die diesen Erneuerungsprozess begleiten und für alle Seiten lohnenswert gestalten.

Literatur

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1“Science is built up of facts, as a house is built of stones; but an accumulation of facts is no more a science than a heap of stones is a house.”