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Open AccessFokus Anwendung

Die integrative Lerntherapie

Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen

Published Online:https://doi.org/10.1024/2235-0977/a000167

Abstract

Zusammenfassung. Die integrative Lerntherapie ist eine adäquate Hilfeform bei Lernstörungen. Sie nutzt wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Psychologie und Medizin, den Fachdidaktiken und der Pädagogik sowie der Linguistik und der Mathematik. Kinder, Jugendliche und Erwachsene mit Lernstörungen haben erhebliche Schwierigkeiten beim Erwerb der Schriftsprache und/oder Mathematik. Da Lesen, Schreiben und Rechnen Schlüsselkompetenzen für die gesamte weitere Lernentwicklung sind, sind die Lern- und Bildungsbiografie sowie die gesunde Persönlichkeitsentwicklung der Betroffenen in hohem Maße gefährdet. Sie benötigen eine passende Hilfe, welche die integrative Lerntherapie bietet. Im vorliegenden Beitrag werden die Therapieform sowie deren Komponenten beschrieben. Der Beitrag dient der Etablierung der integrativen Lerntherapie als Behandlungskonzept bei Lernstörungen sowie als Grundlage der interdisziplinären Diskussion sowie der Forschung im Bereich Lernstörungen.

Einleitung

Die integrative Lerntherapie ist eine adäquate Therapieform zur Behandlung von Lernstörungen wie der Lese-Rechtschreibstörung (Legasthenie, Dyslexie) und der Rechenstörung (Dyskalkulie). Circa sechs bis acht Prozent der Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sind betroffen und haben damit erhebliche Schwierigkeiten beim Erlernen des Lesens, Schreibens und/oder Rechnens (Zur besseren Lesbarkeit wird im Folgenden die Bezeichnung Kinder für alle Betroffenen verwendet). Da Lesen, Schreiben und Rechnen Basiskompetenzen sind, haben die Kinder häufig in vielen Fächern Probleme. Eine gesunde Persönlichkeitsentwicklung und gelingende Lern- und Bildungsbiografie ist in hohem Maße gefährdet. Ohne passende Hilfsangebote bleiben Lernstörungen bestehen, verfestigen sich und können Folgestörungen verursachen.

Zur Behandlung von Lernstörungen nutzt die integrative Lerntherapie wissenschaftliche Erkenntnisse aus Pädagogik, Psychologie und Medizin, aus der Linguistik, der Mathematik und den Fachdidaktiken Deutsch und Mathematik. Sie fasst psychotherapeutische und fachdidaktische Komponenten zu lerntherapeutischen Interventionen zusammen. Die integrative Lerntherapie ermöglicht den Aufbau der Schlüsselkompetenzen Lesen, Schreiben, Rechnen sowie die Wiederherstellung der seelischen Gesundheit und die Sicherstellung einer angemessenen Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.

Die Entwicklung der integrativen Lerntherapie begann bereits in den 70er Jahren. Neben basalen, wenig spezifischen Funktions- und Wahrnehmungstrainings, welche heute jedoch kritisch betrachtet werden (Suchodoletz, 2006), setzen sich seit Beginn der 80er Jahre zunehmend Förderkonzepte durch, die auf den Lerngegenstand fokussieren und unmittelbar an den Symptomen ansetzen. Sie orientieren sich an Entwicklungsmodellen des Schriftspracherwerbs (Frith, 1985; Günther, 1986; Scheerer-Neumann, 1979, 2015 u.a.), und der Zahlenverarbeitung (z.B. Fritz & Ricken, 2008; Krajewski, 2013; von Aster & Lorenz, 2013) sowie den entsprechenden Vorläuferfertigkeiten. 1982 beschrieben Dieter Betz und Helga Breuninger in ihrem Standardwerk „Teufelskreis Lernstörungen“, wie Merkmale des lernenden Individuums, des spezifischen Lerngegenstandes und der schulischen und familiären Lernumgebung zum Gelingen oder zum Scheitern des Lernprozesses beitragen. Die Beziehungen dieser Komponenten werden als Wirkungsgefüge dargestellt (Abbildung 1). Diese systemische Betrachtungsweise bildet das Grundgerüst für die integrative Lerntherapie und wird in diesem Beitrag erörtert.

Abbildung 1 Wirkungsgefüge des Lernens nach Betz & Breuninger: Teufelskreis Lernstörungen (1982).

Darüber hinaus entwickelten unterschiedliche wissenschaftliche Fachdisziplinen theoretische Grundlagen, Diagnoseinstrumente sowie Förderkonzepte und -programme zur Behandlung von Lernstörungen. Die neuen S3-Leitlinien (Evidenz- und konsensbasierte Leitlinien der AWMF) zur Diagnostik und Therapie der Lese-Rechtschreibstörung (2015) sowie in Kürze auch zur Rechenstörung sehen eine umfassende Diagnostik vor, die entwicklungs- und symptomspezifische sowie psychische Komponenten berücksichtigt und für die Behandlung evidenzbasierte Förderelemente vorschlägt. Die an der Leitlinienentwicklung beteiligten Fachgesellschaften waren sich jedoch einig, dass auch ein strukturiertes, umfangreiches und evaluiertes Programm allein den unterschiedlichen Voraussetzungen der Kinder nicht ausreichend gerecht werden kann. Damit rückt die Qualifikation der Behandler ins Blickfeld. Die Metaanalyse zur effektiven Förderung rechenschwacher Kinder von Ise, Dolle, Pixner und Schulte-Körne (2012) zeigt auf, dass die Wirksamkeit der untersuchten Förderprogramme auch vom Setting und der Dauer abhängt, jedoch in erster Linie von der Qualifikation der (Lern-)Therapeut/innen.

Die Aus- bzw. Weiterbildung von Lerntherapeut/innen muss dementsprechend die Vielfalt der domänenspezifischen Diagnose- und Fördermethoden ebenso berücksichtigen wie Grundlagen von kinder-psychotherapeutischen Behandlungs- und Beratungskonzepten. Der Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. fixierte 2003 entsprechende Inhalte in einer „Weiterbildungsordnung und Richtlinien zur Zertifizierung“ (FiL, 2003). Er setzt sich dafür ein, dass eine integrative Lerntherapie ausschließlich von Fachkräften mit einer entsprechenden Qualifikation durchgeführt wird. Das Berufsbild Lerntherapeut/in wurde vom Fachverband ebenfalls bereits beschrieben und in Heft 1/2014 veröffentlicht (Lipka & von Orloff, 2014).

Die Wirksamkeit des Konzepts der integrativen Lerntherapie konnte bereits durch verschiedene Studien belegt werden (Schulz, Dertmann & Jagla, 2003; Bövers & Schulz, 2005). Ergebnisse einer Wirkungsevaluation (Tornow, 2014) aus einem Berliner Projekt belegen die integrative Lerntherapie als erfolgreichste Interventionsform innerhalb der Erziehungshilfe. Sicher wesentliche, aber noch weniger gut untersuchte Wirkkomponenten der Lerntherapie dürften in der differentiellen und individuell angepassten Gestaltung des Therapieprozesses und der eingesetzten Instrumente liegen. Hier besteht weiterhin die Notwendigkeit das Indikations-, Methoden- und Behandlungsspektrum der integrativen Lerntherapie detailliert zu beschreiben, um ihr Erscheinungsbild zu schärfen, evaluative Forschung zu erleichtern und ihre Stellung im Kanon anderer Interventionsformen zu festigen.

Darstellung

Zielgruppe

Klassifikation und Diagnostik

Lernstörungen werden von den internationalen Klassifikationssystemen (ICD, DSM) als umschriebene Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten definiert. Sie treten häufig in Kombination sowie in Verbindung mit weiteren Störungen auf, wie z.B. Aufmerksamkeitsstörungen (AD(H)S). Lernstörungen werden zumeist erst ab Schulbeginn erkennbar, Abweichungen in der Entwicklung von Vorläuferfunktionen bestehen jedoch meist schon im Vorschulalter. Es handelt sich meist um andauernde und sich verfestigende Störungen, teilweise mit Krankheitswert. Als diagnostisches Kriterium wurde bislang eine testmetrische Diskrepanz zwischen der Intelligenz und der Schulleistung genannt. Jedoch wird in der neuesten Version des Diagnostischen und Statistischen Manuals Psychischer Störungen (DSM-5, 2013) sowie in den Leitlinien der Deutschen Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychosomatik und Psychotherapie (DGKJP, 2015) auf dieses Diskrepanzkriterium verzichtet. Wissenschaftliche Forschungen konnten nachweisen, dass sich betroffene Kindern mit und ohne Intelligenz-Diskrepanz weder im kognitiven Profil (Landerl, 2003) noch im Lernzuwachs bei gleichartiger Förderung (Weber, Marx & Schneider, 2002) unterscheiden.

Die Ursachen für schulische Entwicklungsstörungen sind vielfältig. Hirnorganische Faktoren interagieren mit erfahrungsabhängigen und lerngeschichtlichen Einflüssen, wie dem Lernangebot und -klima der Schule, aber auch kognitiven Anregungen, der emotionalen Unterstützung sowie den Leistungserwartungen der Eltern. Neuroplastische Entwicklungs- und Reifungsprozesse sind in hohem Maße erfahrungsabhängig und daher auch während der gesamten Kindheit und Jugend auf vielfältigste Weise störbar, aber auch förderbar.

Komorbiditäten und Folgeerkrankungen

Lernstörungen treten häufig in Kombination mit anderen Entwicklungsauffälligkeiten auf. Heine, Engl, Thaler, Fussenegger & Jakobs (2012) geben an, dass etwa bei der Hälfte der Betroffenen eine Lese-Rechtschreibstörung und eine Rechenstörung gleichzeitig auftreten. Zudem wird eine Komorbiditätsrate von 30 bis 70 Prozent zwischen ADHS und Lese-Rechtschreib- bzw. Rechenstörungen angegeben (Heine et al., 2012). Auch Sprachentwicklungsstörungen, fein- und grobmotorische Auffälligkeiten können in Verbindung zu Lernstörungen stehen (Bachmann, 2008). Es ist davon auszugehen, dass massive Probleme beim Lesen, Schreiben und/oder Rechnen psychische Störungen durch Misserfolgserlebnisse, Selbstzweifel, Mobbing und Überforderung zur Folge haben können. So werden Depressionen, Angststörungen und Störungen des Sozialverhaltens (Schulte-Körne, 2010; Heine et al., 2012) genannt sowie Konzentrationsschwächen, motorische Unruhe, Motivationsverlust oder auch eine generelle Schulangst und -unlust (Bachmann, 2008).

Symptomatik

Das Hauptmerkmal einer Lernstörung ist eine bedeutsame Beeinträchtigung des Schriftsprach- und/oder Mathematikerwerbs. Zumeist weichen die Leistungen im Lesen, Schreiben und/oder Rechnen erheblich vom sonstigen Leistungsvermögen des Kindes ab.

Symptome der Lese-/Rechtschreibstörung

Die Symptome der LRS lassen sich im Kontext des ungestörten Schriftspracherwerbs beschreiben. Beim Schriftspracherwerb, der schon vorschulisch beginnt, beobachtet man eine Abfolge von Kompetenzen, die von verschiedenen Autoren in ihrer Grundstruktur ähnlich dargestellt wird (Frith, 1986; Günther, 1986; Scheerer-Neumann, 2015):

  • Logographische Strategie: Die Kinder entdecken den Symbolcharakter und die Funktion der Schrift. Sie erkennen einige Wörter wieder und können wenige auswendig aufschreiben wie z.B. den eigenen Namen.
  • Alphabetische Strategie: Die Kinder erkennen die Beziehung zwischen Lauten und Buchstaben (Phonemen und Graphemen), lernen gesprochene Wörter in Laute (Phoneme) zu gliedern und können zunehmend lauttreu schreiben und synthetisierend lesen.
  • Orthographische Strategie: Die Kinder nutzen beim Lesen und Schreiben die Strukturen der deutschen Schriftsprache über die Phonem-Graphem-Korrespondenzen hinaus.

Kinder mit LRS lernen langsamer und oft nur mit zusätzlicher Unterstützung. In vielen Fällen zeigen sie bereits Probleme beim Erwerb der alphabetischen Strategie, die mit einer gering ausgeprägten phonologischen Bewusstheit einhergehen können (vgl. Schnitzler, 2008), d.h. sie haben die Lautstruktur der Sprache noch nicht entdeckt. Ebenso ist es möglich, dass Kinder erst auffällig werden, wenn der Wortschatz umfassender und Wörter, Sätze und Texte komplexer werden.

Auffällig beim Schreiben sind die hohe Fehlerzahl und Fehlschreibungen, die trotz Übens hartnäckig bestehen bleiben oder variieren und vom altersgemäßen Schriftspracherwerb abweichen. Spezifische „LRS-Fehler“ gibt es jedoch nicht. Das Lesen ist mühsam, ggf. lautierend, Schwierigkeiten bei mehrsilbigen Wörtern und Wörtern mit Konsonantenclustern sowie ein sehr langsames Lesetempo sind zu beobachten. Dies wirkt sich zumeist auf das Leseverständnis aus.

Die Probleme bei LRS durch den verzögerten Erwerb der Strategien werden verstärkt, weil das Lernangebot der Schule nicht zum individuellen Lernstand passt. Das führt zu Verunsicherung und Misserfolgsängstlichkeit beim Lernenden. Einem Kind, das sich noch mit der alphabetischen Strategie auseinandersetzt, gelingt es kaum, gleichzeitig komplexes sprachstrukturelles Wissen zu rezipieren und anzuwenden. Als Folge entsteht ein Teilwissen, das trotz großer Anstrengung oft nicht zu den korrekten Ergebnissen führt. Unzureichende Lese- und Schreibstrategien können auf Dauer nicht durch Auswendiglernen kompensiert werden.

Symptome der Rechenstörung

Zu einer Störung des Erwerbs mathematischer Inhalte können verschiedene Faktoren führen. Zahlreiche Untersuchungen zeigen, dass die Kinder bei Schuleintritt auf sehr unterschiedlichem Niveau über Basiskompetenzen, wie Zählfertigkeiten, Zahlenkenntnisse, das Erfassen der Mächtigkeit von Mengen, das Verstehen ihrer Teilbarkeit oder die Vorstellung eines Zahlenraums verfügen. Unzureichende Vorläuferfähigkeiten und lückenhaftes Vorwissen erschweren die Entwicklung des Zahl- und Operationsverständnisses und den Aufbau effektiver Rechenstrategien. Schon einfache arithmetische Aufgaben können dann schwer oder gar nicht bearbeitet und eine erhöhte Fehler- und Störanfälligkeit von Rechenprozessen beobachtet werden.

Unerkannte Lese-Rechtschreib- und/oder Rechenstörungen dauern an – im Zeitverlauf der Beschulung verändert sich das Erscheinungsbild der Störung, der Schweregrad der Störung nimmt in der Regel zu. Dies kann durch zunehmende Vermeidungsstrategien verstärkt werden.

Prävalenz und Indikation

Je nach den gewählten Diagnosekriterien sind etwa 5–9% aller Schulkinder von LRS betroffen (Wyschkon, Kohn, Ballaschk & Esser, 2009; Fischbach et al., 2013) und etwa 4–6 Prozent aller Schulkinder von Dyskalkulie (Landerl & Kaufmann, 2008; von Aster & Lorenz, 2013; Jacobs & Petermann, 2007).

Die Level-One Survey (leo) ermittelte, dass 4 Prozent der erwerbsfähigen Bevölkerung in Deutschland von Analphabetismus betroffen sind; 14 Prozent (7,5 Mio.) sind sogenannte funktionale Analphabeten (Grotlüschen, Riekmann & Buddeberg, 2012; Löffler, 2016). Es ist davon auszugehen, dass ein wesentlicher Teil dieser Menschen früher von Lernstörungen betroffen war. Die meisten haben Deutsch als Muttersprache und besuchten eine Schule in Deutschland. Ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ist massiv beeinträchtigt; dass die Situation von Erwachsenen mit einer Rechenstörung ähnlich ist und die Folgen für die Alltagsbewältigung erheblich sind, ist naheliegend.

Kinder mit Lernstörungen schaffen es meist nicht allein durch Unterrichts- und Förderangebote ihren Rückstand aufzuholen. Da Lesen, Schreiben und Rechnen Basiskompetenzen sind, ist ihre weitere Lernentwicklung nicht sichergestellt. Für Schulkinder sind diese Störungen alltagsrelevant und können zu somatoformen und psychischen Störungen wie Versagensängsten, Schulunlust/-verweigerung und/oder Verhaltensstörungen wie Aggressivität oder sozialem Rückzug führen. Weiterhin sind häufige Folgen ein niedrigerer Schulabschluss und ein niedrigeres Berufsbildungsniveau (Esser, Wyschkon & Schmidt, 2002).

Dieser Benachteiligung wirkt Lerntherapie entgegen. Eine integrative Lerntherapie ist spätestens dann nötig, wenn differenzierte Unterrichts- und Förderangebote nicht ausreichen, um die weitere Lernentwicklung eines Kindes und seinen Anschluss an den Schulunterricht zu gewährleisten. Lerntherapie trägt zur sozialen Integration in die Schule bei und befähigt das Kind, fehlende Kompetenzen im Lesen, Schreiben und/oder Rechnen aufzuholen, so dass Lernprozesse in allen Unterrichtsfächern möglich sind und die Bildungsbiografie durch die Lernstörungen der Betroffenen nicht beeinträchtigt wird.

Die integrative Lerntherapie stellt notwendige Voraussetzungen für die gesellschaftliche Teilhabe sicher: Soziale und materielle Sicherheit sowie eine auskömmliche berufliche Existenz hängen in hohem Maße davon ab, Schrift und Zahlen so nutzen zu können, dass keine Hilfe bzw. Unterstützung notwendig ist. Um diese Integration zu gewährleisten, kann Lerntherapie gemäß § 35a SGB VIII als Eingliederungshilfe für seelisch behinderte Kinder gelten, insbesondere dann, „wenn

  1. 1.
    ihre seelische Gesundheit mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate von dem für ihr Lebensalter typischen Zustand abweicht, und
  2. 2.
    daher ihre Teilhabe am Leben in der Gesellschaft beeinträchtigt ist oder eine solche Beeinträchtigung zu erwarten ist.“ (SGB, 2016, S. 1323)

Integrative Lerntherapie

Lernstörungen als Wirkungsgefüge

Kinder mit Lernstörungen haben häufig das für das Lernen bedeutsame Kohärenzgefühl (Bedeutsamkeit, Verstehbarkeit, Handhabbarkeit: Burow, 2014) verloren und können sich deshalb nicht mehr vorstellen, Lesen, Schreiben bzw. Rechnen jemals zu lernen und anzuwenden. Ihr innerer Dialog ist geprägt von Misserfolgserwartungen, die ihren gesamten Lern- und Entwicklungsprozess negativ verstärken. Sie können ihre kognitiven Ressourcen nicht ausreichend für ihre geistige, schulische und persönliche Entwicklung einsetzen. Bei Lernschwierigkeiten kann eine Dynamik aus den drei sich gegenseitig verstärkenden Kreisläufen bzw. Dialogen entstehen, die Dieter Betz und Helga Breuninger schon 1982 als „Teufelskreis Lernstörungen“ beschrieben haben (Abbildung 1: „Wirkungsgefüge“). Die Lerntherapie kann als Prozess von einer negativen zu einer positiven Lernstruktur betrachtet werden.

In der integrativen Lerntherapie dient das Wirkungsgefüge als ein Instrument zum Bestimmen des Ist-Standes sowie zur Ableitung, Begründung und Dokumentation lerntherapeutischer Interventionen. Ziel ist es, die negative Verstärkung im „Teufelskreis Lernstörungen“ zu unterbrechen und in ein positives Wirkungsgefüge umzugestalten. Die Kreisläufe des Wirkungsgefüges stellen den Lehr-Lern-Kontext dar, in denen der Lernende und die Lehrperson (auch die Eltern, wenn sie mit ihrem Kind lernen) miteinander in Verbindung treten. Sobald Personen in diesem Kontext – wie der Lerntherapie – agieren, wird unvermeidlich auch Beziehung gestaltet. Im Modell werden der Beziehungs- und Lerndialog gesondert betrachtet, um Interventionen und Interaktionen auf beiden Ebenen getrennt, aber auch die Verzahnung miteinander darstellen zu können. Der Beziehungsdialog in der integrativen Lerntherapie ist bestimmt durch Ermutigung, Zutrauen und Vertrauen in die Entwicklungsfähigkeit des Kindes. Beim Lerndialog geht es in erster Linie um die Aufbereitung, Vermittlung und Verarbeitung der Lerninhalte. Vom individuellen Können ausgehend werden die Lernangebote so gestaltet, dass das Kind von Anfang an Erfolge erzielen und diese annehmen kann und sich so selbstwirksam erlebt. Die Aufgaben werden dem entsprechend entwicklungsangemessen, motivierend, attraktiv und respektvoll gestaltet. Fehler werden als Lösungsansätze verstanden und dazu verwendet, die Denkprozesse des Kindes zu verstehen, zu respektieren und sie gemeinsam mit dem Kind in richtige Bahnen zu lenken. Die Lerntherapeutin verfügt über die Kompetenz, das Kind weder zu unterfordern noch zu überfordern. Sie lenkt den Lernprozess so, dass das Kind sein Kohärenzgefühl wieder aufbauen kann. (Ausschließlich im Interesse der besseren Lesbarkeit wird im Text nur die weibliche Form verwendet. Selbstverständlich sind männliche Personen immer mit gemeint.)

Der innere Dialog existiert im Kind selbst; er ist der Umwelt nicht unmittelbar zugänglich. In der Lerntherapie wird dieser Dialog thematisiert. In ihm findet die Selbsteinschätzung statt, die mit Hilfe der Lerntherapeutin so gesteuert wird, dass sich das Selbstwertgefühl und Selbstvertrauen positiv entwickeln können.

Die Lerntherapie ist eine Verbindung von psychotherapeutischen und fachdidaktischen Komponenten, die in (lern)therapeutischen Interventionen bzw. einer lerntherapeutischen Didaktik im Beziehungs- und Lerndialog wirken, um Veränderungen im inneren Dialog des Kindes anzuregen.

Anamnesephase und Therapieplanung

Das Modell des Wirkungsgefüges kann für eine Statusdiagnostik bzw. zur Ableitung lerntherapeutischer Maßnahmen verwendet werden. Das lerntherapeutische Vorgehen orientiert sich an der sozialen und psychischen Situation sowie dem Leistungsvermögen jedes einzelnen Kindes. Die Inhalte im Leistungsbereich sind dem entsprechend nicht in erster Linie an Bildungs- oder Lehrplänen, Curricula oder Lernprogrammen ausgerichtet, sondern an den individuellen Entwicklungsschritten des Kindes.

Mit Hilfe von strukturierten Beobachtungen und Befragungen wird aus Daten zur Vorgeschichte und zur aktuellen Situation ein Ist-Stand ermittelt. Dazu gehören Angaben zum Lern- und Arbeitsverhalten, zur psychosozialen Situation sowie zu bisher durchgeführten Maßnahmen der Beteiligten. Der Stand im Schriftsprach- bzw. Mathematikerwerbsprozess wird mit Hilfe von standardisierten und informellen Test- und Diagnoseverfahren sowie Kompetenz- bzw. Fehleranalysen erfasst.

Um organische und neurophysiologische Funktionsstörungen zu diagnostizieren oder ausschließen zu können, wird mit entsprechenden Diagnoseeinrichtungen zusammengearbeitet und deren Erkenntnisse in die Förderplanung einbezogen. Am Ende der Eingangsdiagnostik entscheidet die Lerntherapeutin, ob eine Lerntherapie zu diesem Zeitpunkt die geeignete Hilfeform ist oder sie empfiehlt andere Maßnahmen wie z.B. Ergo-, Sprach- oder Psychotherapie bzw. auch deren Durchführung parallel zur Lerntherapie. In einem Beratungsgespräch mit den Eltern werden die diagnostischen Ergebnisse und die sich daraus ergebenden Prognosen erörtert sowie Ziele und Mitwirkung vereinbart. Das Ziel der integrativen Lerntherapie ist erreicht, wenn sich die soziale und psychische Situation des Kindes stabilisiert hat, die Kompetenzen im Bereich Schriftsprache und/oder Mathematik die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben ermöglichen und sich die Betroffenen wieder selbstwirksam erleben und Zutrauen und ihre Lernfähigkeit entwickelt haben. Insofern ist die integrative Lerntherapie immer Hilfe zur Selbsthilfe.

Der lerntherapeutische Prozess

Das Vorgehen in der integrativen Lerntherapie basiert auf dem systemischen Ansatz von Helga Breuninger. Im Folgenden wird verdeutlicht, wie der Zusammenhang von Beziehungsgestaltung und Gestaltung des Lernprozesses auf den inneren Dialog des Kindes wirken kann. Die sogenannten Kommunikationsbrücken stellen wesentliche Beobachtungs- bzw. Aktionspunkte dar, an welchen jeweils die Beziehung zwischen den einzelnen Elementen verdeutlicht wird und von denen die lerntherapeutischen Interventionen abgeleitet werden (Breuninger & Schley, 2014) (Abbildung 2).

Abbildung 2 Wirkungsgefüge des Lernens nach Breuninger & Schley: Pädagogische Führung als dialogische Intervention (2014).

Brücke 1: Beziehung gestalten und intervenieren

Der Lernprozess wird durch eine vertrauensvolle und wertschätzende Beziehung zwischen Lerntherapeutin und Kind getragen. Diese beinhaltet das Interesse an der ganzen Person, nicht nur an den Leistungen. Wahrgenommene Stärken und Ressourcen werden betont und bewusst gemacht, Schwächen und Fehler als Lösungsversuche gedeutet. Diese positiven Konnotationen stärken die Beziehung und motivieren das Kind, sich für gestellte Aufgaben zu engagieren, sich Erfolge selbst zuzuschreiben, Lob annehmen und sich selbst zu loben.

Die Kommunikation basiert auf Vertrauen. Ziele und Vorgehensweise in der Lerntherapie werden transparent gemacht, das Kind wird hinsichtlich seiner Ziele und Wünsche befragt und diese werden mit dem weiteren Vorgehen abgestimmt. Widerstände des Kindes werden respektiert und entsprechende Wahlmöglichkeiten angeboten.

Das Kind erhält einen Raum, sich selbst und seine Gefühle wahrzunehmen und diese zu zeigen, auch solche, die in anderen Zusammenhängen sanktioniert werden würden, wie Wut, Scham, Trauer, Neid. Die Schweigepflicht wird auch dem Kind gegenüber eingehalten; es wird transparent gemacht, welche Informationen aus welchen Gründen an Eltern und Lehrer weitergegeben werden.

Brücke 2: Einfühlen und Verhalten deuten

Lerntherapeutinnen sind darauf bedacht, das Verhalten der Kinder wahrzunehmen und als Signal positiv zu deuten, indem sie sich in den inneren Dialog des Kindes einfühlen. Lern- und/oder Beziehungsangebote werden dementsprechend gestaltet. Die Kinder erhalten die Möglichkeit, ihre Reaktionen zu reflektieren, zu prüfen und zielführendes Verhalten zu entwickeln und auszuprobieren.

Brücke 3: Lernprozesse gestalten

Die schriftsprachlichen und mathematischen Inhalte des schulischen Rahmenlehrplans bauen aufeinander auf, so dass ein Kind dem Unterricht nicht mehr folgen kann, wenn entsprechende Grundlagen fehlen. In der Lerntherapie werden Anknüpfungspunkte zum schulischen Kontext hergestellt, so dass die Entstehung weiterer Wissenslücken so weit wie möglich ausgeschlossen wird.

Für die Lerntherapie steht eine Vielzahl evaluierter Förderprogramme für den schriftsprachlichen und mathematischen Bereich zur Verfügung. Diese können verwendet und dialogisch eingesetzt werden, d.h. in lerntherapeutischer Begleitung. Maßgeblich für die Lerntherapie sind jedoch die Gesetzmäßigkeiten der Schriftsprache bzw. Mathematik, die individuell so aufbereitet werden, dass jedes Kind seinen Weg zum Lesen, Schreiben und/oder Rechnen sowie die Struktur und Regeln von Schriftsprache und/oder Mathematik entdecken kann.

Es werden zum Leistungsstand passende Aufgaben ausgewählt, d.h. sie sollen weder über- noch unterfordern. Die Inhalte inspirieren zur Auseinandersetzung und motivieren zur Anstrengung. Das Kind wird angeleitet, sich unbekannten Lerninhalten zu stellen und neue Strategien zu lernen und auszuprobieren, mit dem Ziel neue Erkenntnisse zu gewinnen. Einwände des Kindes werden ernst genommen, gemeinsam wird nach Lösungen gesucht, die in den Erkenntnisprozess einfließen.

In der integrativen Lerntherapie wird das Kind angeregt, über das eigene Lernen nachzudenken und sich die eigenen Lernwege bewusst zu machen. Sinnvolle Überlegungen und Strategien des Kindes sind wertvoller als richtige Ergebnisse. Irrtümer und Fehler geben somit wichtige Informationen über den Lernprozess. Lernfortschritte werden sichtbar gemacht. Dabei gilt der persönliche Lernzuwachs als Maßstab und nicht die Klassennorm.

Systematische Lösungsstrategien, Anwendungsaufgaben, Wiederholungen und testähnliche Lernstandserhebungen dienen dazu, die Inhalte zu reflektieren und zu automatisieren. Um den kommunikativen Wert der Schriftsprache zu verdeutlichen, werden sinnstiftende Lese- und Schreibanlässe verwendet. Der Bezug der Mathematik zum alltäglichen Leben wird dem Kind über altersadäquate lebensnahe Aufgabenstellungen vermittelt. Übungen, die das Kind selbständig ausführen soll, werden gemeinsam so vorbereitet, dass es die Aufgaben ohne Hilfe bewältigen kann.

Dem individuellen Störungsbild entsprechend können Elemente aus Wahrnehmungs- und Aufmerksamkeitstrainings oder Entspannungstechniken u.a. in der Lerntherapie eingesetzt werden, um den Kindern das Lernen zu ermöglichen oder zu erleichtern.

Brücke 4: Lernprozesse deuten und Lernstand diagnostizieren

Die Lerntherapeutin kann zu jedem Zeitpunkt den bisherigen Verlauf, den momentanen Stand und die weiteren Zielsetzungen einschätzen und das therapeutische und fachdidaktische Handeln begründen. Reaktionen des Kindes auf Aufgaben und Leistungsanforderungen werden wahrgenommen, thematisiert und weiterentwickelt. Lerntherapie ist insofern gleichzeitig eine fortlaufende Prozessdiagnostik.

Umfeldarbeit

Die Kooperation von Lerntherapeutin, Eltern, Lehrkräften und ggf. weiteren Beteiligten ist ein wesentlicher Bestandteil der integrativen Lerntherapie, wobei die Lerntherapeutin die fachliche Verantwortung trägt. Die Perspektiven der Beteiligten werden erfasst, Verantwortungsbereiche und Ziele vereinbart und aufeinander abgestimmt.

Die Zusammenarbeit dient der Transparenz und Abstimmung der Fördermaßnahmen, dem Verständnis der Situation, der Entwicklung der Kinder und dem Verstehen der Lernstörung. Die Klärung von Zuständigkeiten und Unterstützungsmöglichkeiten trägt dazu bei, dass Schuldzuweisungen beendet, Eltern sowie Lehrkräfte entlastet und die Entwicklung der Kinder positiv wahrgenommen werden kann. Insofern hat die Lerntherapie häufig eine Brückenfunktion zwischen Elternhaus, Schule und Kind.

Wesentliches Element der Umfeldarbeit ist auch die Umsetzung des Nachteilsausgleichs und ggf. der Leistungsermittlung und -beschreibung. Formen des Nachteilsausgleichs werden in Abstimmung mit Eltern und Lehrkräften thematisiert. Rechtliche Rahmenbedingungen hierfür sind die Erlasse der Bundesländer zum Umgang mit Lese-Rechtschreib- bzw. Rechenstörungen bzw. zur Förderung von Kindern mit besonderen Schwierigkeiten beim Lesen, Schreiben und Rechnen.

Rechtliche Rahmenbedingungen, die in der integrativen Lerntherapie Anwendung finden und beachtet werden müssen, sind:

  • Datenschutzbestimmungen und Schweigepflicht (insbesondere § 5 BDSG sowie § 203 StGB)
  • Eingliederungshilfe nach § 35a SGB VIII
  • Hilfe zur Erziehung nach § 27 SGB VIII
  • Kindeswohlgefährdung § 8 SGB VIII

Dokumentation und Evaluation

Die lerntherapeutische Förderung wird dokumentiert, um einen kontinuierlichen Prozess zu gewährleisten, die Kommunikation unter Beteiligten während der Lerntherapie zu unterstützen und ggf. eine Wiedervorstellung oder die Beantwortung von Rückfragen zu erleichtern. Folgende Angaben gehören zur Dokumentation:

  • Therapiedauer
  • Angaben zur Anamnese
  • Diagnostik (interne und ggf. externe Eingangs-, Prozessdiagnostik)
  • Angaben zum Therapieverlauf
  • Entwicklungsberichte, wenn vorhanden
  • Ergebnisevaluation im Verlauf und am Ende

Fazit

Mit der vorliegenden Beschreibung wird die integrative Lerntherapie erstmals als Therapieform bei umschriebenen Entwicklungsstörungen schulischer Fertigkeiten dargestellt. Die Lerntherapie ist ein interdisziplinäres Wissenschaftsfeld. Die Bearbeitung zeigt die unterschiedlichen Perspektiven der Professionen auf, die in die Lerntherapie einfließen. Mit dem vorliegenden Text soll die interdisziplinäre Diskussion angeregt sowie das Ringen um ein gegenseitiges Verständnis und eine „gemeinsame Sprache“ öffentlich gemacht, eine spezifisch lerntherapeutische Forschung sowie vertiefende Darstellungen der beteiligten Disziplinen zu Teilaspekten angeregt werden. Der Beitrag möchte zu Kommentaren einladen. Sie sind ausdrücklich erwünscht und werden in einem der folgenden Hefte veröffentlicht.

Weiterbildungsanbieter eines Curriculums Lerntherapie können an der Beschreibung ihr Konzept prüfen und ggf. anpassen. Zudem gehen wir davon aus, dass von der vorliegenden Beschreibung Aspekte abgeleitet werden können, die als Grundlage für weitere Untersuchungen der Wirksamkeit der Therapieform dienen können.

Der Fachverband für integrative Lerntherapie e.V. hat das Ziel, die Lerntherapie als adäquate Therapieform bei Lernstörungen und das Berufsbild Lerntherapeut/in zu etablieren. Zum Schutz der betroffenen Kinder, Jugendlichen und Erwachsenen sollen nur Lerntherapeut/innen mit einer entsprechenden Qualifikation eine Lerntherapie anbieten können. Mit der Beschreibung der Therapieform ist ein wesentlicher Meilenstein für dieses Ziel erreicht.

Danksagung

An dieser Beschreibung haben mitgewirkt: Dr. Katharina Brandelik, Franziska Bender, Lilo Gührs, Dr. Kerstin Jeske, Marlies Lipka, Maria von Orloff sowie weitere Vorstandsmitglieder, Prof. Dr. Cordula Löffler, Prof. Dr. Gerd Mannhaupt, Prof. Dr. Carl Ludwig Naumann, Prof. Dr. Marianne Nolte, Prof. Dr. Gabriele Ricken, Prof. Dr. Heinz Rosin, Prof. Dr. Gerheid Scheerer-Neumann, Prof. Dr. Michael von Aster. Wir danken allen für die engagierte Mitarbeit und zudem Maike Hebach für die Erarbeitung der Einleitung.

Literatur